Annas Vermächtnis
Der englische LiebhaberDie Filmemacherin Charlotte kehrt nach langer Zeit noch einmal in ihre Heimatstadt Münster zurück, denn ihre Mutter Anna liegt im Sterben. Das Verhältnis zwischen den beiden war schon immer angespannt ...
Die Filmemacherin Charlotte kehrt nach langer Zeit noch einmal in ihre Heimatstadt Münster zurück, denn ihre Mutter Anna liegt im Sterben. Das Verhältnis zwischen den beiden war schon immer angespannt und unterkühlt, obwohl Charlotte sonst keinerlei Familie hat, denn ihren Vater hat sie nie kennengelernt. Nach dem Tod ihrer Mutter sortiert Charlotte deren Nachlass und findet dabei alte Notizen und Tonspuren, die Charlotte die Vergangenheit ihrer Mutter näher bringen und die auch endlich die Frage beantworten, wer Annas große Liebe und ihr Vater war. Werden diese Enthüllungen Charlotte ein neues Bild ihrer Mutter aufzeigen und wird sie ihr verzeihen können?
Francesca De Cesco hat mit ihrem Buch „Der englische Liebhaber“ einen sehr mitreißenden und gefühlvollen historischen Roman vorgelegt, der sich an eine wahre Begebenheit anlehnt und dadurch den Leser noch mehr zu berühren weiß. Der Schreibstil ist flüssig, emotional und wunderschön, die Seiten fliegen nur so dahin. Der Leser von Beginn an direkt in das Buch hineingezogen und erlebt die Dramatik der ganzen Geschichte aus erster Hand mit. Die Handlung erstreckt sich über zwei verschiedenen Zeitebenen und gibt dem Leser zum einen Einblick in die Zeit von 1988 und die gegenwärtige Situation von Charlotte, zum anderen tritt er eine Reise in die Vergangenheit an und erlebt das Jahr 1946 in Münster kurz nach dem Krieg, wo er Anna und ihr Schicksal kennenlernt. Die Autorin hat den historischen Hintergrund gut recherchiert und ihn mit ihrer Geschichte sehr schön verwebt. Die Diskriminierungen von deutschen Frauen, die sich auf eine Beziehung mit einem Mitglied der damaligen Siegerkräfte einließen, ist hier ebenso ein Thema wie das Leben als alleinerziehende Mutter oder die verzweifelte Lage, in unsicheren und recht instabilen Zeiten einen Job zu haben, um sich ernähren zu können. Auch die verzweifelten Nachforschungen von Anna zeigen deutlich auf, wie prekär die damalige Lage für eine alleinstehende Frau kurz nach dem Krieg war. Das nationalsozialistische Gedankengut war immer noch in den Köpfen der Bevölkerung und hat es vielen weiterhin schwer gemacht, endlich freier leben und sich äußern zu können. Ebenso wird die komplizierte Beziehung zwischen Anna und ihrer Tochter Charlotte beleuchtet, die unter der harten Fassade der Mutter schwierig und unerträglich war.
Die Charaktere sind liebevoll und menschlich ausgearbeitet worden, sie besitzen individuelle Ecken und Kanten, was ihnen Authentizität verleiht und sie sehr lebendig wirken lässt. Gleichzeitig geben sie Zeugnis über die damalige Zeit. Charlotte ist eine gestandene Frau, doch sie hat Zeit ihres Lebens darunter unter dem Makel der unehelichen Tochter gelitten. Sie wirkt unterkühlt, bitter und sehr reizbar. Innerlich ist sie zerrissen, denn obwohl das Verhältnis zur Mutter mehr als distanziert ist, ist sie doch ihre einzige Familie. Gleichzeitig wollte sie immer Geborgenheit bei ihrer Mutter finden und sich geliebt fühlen, was ihr verwehrt blieb. Dadurch fehlt Charlotte jegliche Empathie oder das Gefühl von Mitleid, zumindest zeigt sie es nicht. Anna ist eine Frau, die sich hart durchs Leben kämpfen musste, um zu überleben. Sie liebte ohne Wenn und Aber, um dann alles zu verlieren, wobei ihr nur die Hoffnung blieb, auf die sie ihr ganzes Leben ausrichtete und die nach und nach immer weniger wurde. Das hat sie hart und unerbittlich gemacht, vor allem gegenüber ihrer Tochter. Jeremy ist die Leuchtfigur ohne Fehl und Tadel, die sang-und klanglos verschwindet und sämtliche Träume und Sehnsüchte mit sich nimmt. Auch die übrigen Protagonisten tragen dazu bei, dass die Handlung rundum glaubhaft und sehr real wirkt.
„Der englische Liebhaber“ ist eine tiefgründige tragische Geschichte, die niemanden kalt lässt, vor allem mit dem Gedanken daran, dass es sich hier um eine ausgearbeitete wahre Begebenheit handelt und dieses Schicksal wohl einige Frauen zu jener Zeit ereilt hat. Wunderschön erzählt und mit einer absoluten Leseempfehlung ausgestattet!