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Veröffentlicht am 09.11.2025

Zwischen Schuld und Versöhnung

Das Wochenende
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Bernhard Schlinks „Das Wochenende“ erzählt von einem Wiedersehen unter alten Freunden, das längst vergangene Ideale und unausgesprochene Schuldgefühle ans Licht bringt. Im Mittelpunkt steht Jörg, ein ehemaliger ...

Bernhard Schlinks „Das Wochenende“ erzählt von einem Wiedersehen unter alten Freunden, das längst vergangene Ideale und unausgesprochene Schuldgefühle ans Licht bringt. Im Mittelpunkt steht Jörg, ein ehemaliger RAF-Terrorist, der nach über zwanzig Jahren Haft entlassen wird. Seine Schwester organisiert ein gemeinsames Wochenende auf dem Land, um ihn wieder in den Kreis der alten Bekannten einzuführen. Doch was als versöhnliches Treffen gedacht ist, wird schnell zu einem stillen Tribunal.
Schlink zeichnet seine Figuren mit großer psychologischer Genauigkeit. Jede und jeder der Anwesenden trägt eigene Enttäuschungen, verpasste Chancen und alte Verletzungen mit sich. Zwischen Gesprächen über Politik, Verantwortung und persönliche Freiheit entfaltet sich ein dichtes Geflecht aus Nähe und Abwehr, aus Nostalgie und moralischer Müdigkeit. Das Haus auf dem Land wird zum Schauplatz einer Generation, die an ihren Überzeugungen und an der Zeit gescheitert ist.
Sprachlich bleibt Schlink, wie man ihn kennt, ruhig und kontrolliert. Sein Stil ist unaufgeregt, beinahe kühl und gerade dadurch entsteht eine leise Spannung. Er wertet nicht, sondern lässt seine Figuren und ihre Widersprüche für sich sprechen. Dabei gelingt es ihm, das große Thema, die Auseinandersetzung mit Schuld und Verantwortung, in eine sehr persönliche, menschliche Dimension zu bringen.
„Das Wochenende“ ist kein Buch, das laut auftrumpft. Es lebt von Zwischentönen, vom Schweigen zwischen den Sätzen. Wer Schlinks „Der Vorleser“ kennt, wird auch hier den moralischen Ernst und die stille Nachdenklichkeit wiederfinden, wenn auch in einer anderen, reiferen Form. Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass weder die Vergangenheit noch die Ideale je ganz zu bewältigen sind, sie begleiten uns, wie alte Bekannte, die man nie ganz loswird.

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Veröffentlicht am 28.10.2025

Eine Frau, ein Bild, ein ganzes Leben

Die Frau auf der Treppe
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Ein Gemälde, das einst eine Dreiecksbeziehung zwischen einem Maler, einem Unternehmer und einer Frau in Aufruhr versetzte, taucht Jahrzehnte später wieder auf und mit ihm eine ganze Vergangenheit. Bernhard ...

Ein Gemälde, das einst eine Dreiecksbeziehung zwischen einem Maler, einem Unternehmer und einer Frau in Aufruhr versetzte, taucht Jahrzehnte später wieder auf und mit ihm eine ganze Vergangenheit. Bernhard Schlink erzählt in „Die Frau auf der Treppe“ von Liebe, Schuld und den Spuren, die eine Begegnung im Leben hinterlassen kann.
Der Ich-Erzähler, ein inzwischen älterer Rechtsanwalt, steht während einer Geschäftsreise in Sydney plötzlich vor einem Gemälde, das er nie vergessen konnte: Die Frau auf der Treppe. Er erkennt sie sofort, Irene, jene Frau, in die er sich als junger Mann verliebte, während er als Anwalt in den Streit zwischen ihrem Ehemann und ihrem Liebhaber verwickelt war. Damals war alles ein einziges Geflecht aus Leidenschaft, Besitzansprüchen und Verrat. Und nun ist sie wieder da, zumindest ihr Abbild.
Von dieser Entdeckung lässt sich der Erzähler nicht mehr los. Er sucht nach der Frau, die sein Leben einst aus der Bahn geworfen hat, und findet sie tatsächlich, zurückgezogen, krank und alt, in einer einsamen Bucht an der australischen Küste. Dort begegnen sich zwei Menschen wieder, die vieles verpasst, aber nichts vergessen haben.
Schlink schafft es auf beeindruckende Weise, aus dieser schlichten Konstellation - Mann, Frau, Bild - ein stilles, tiefgründiges Nachdenken über verpasste Chancen und das Altern zu formen. Seine Sprache ist unaufgeregt, fast nüchtern, aber gerade das macht sie so eindringlich. Zwischen den Zeilen steckt eine große Melancholie. Über die Zeit, die vergeht, über das, was hätte sein können, und über das, was bleibt.
Mich hat besonders berührt, wie wenig pathetisch Bernhard Schlink über große Themen schreibt. Statt Gefühlsausbrüchen zeigt er kleine Gesten, Erinnerungsfetzen, zarte Gedanken. Das gibt der Geschichte eine fast meditative Ruhe, auch wenn sie für meinen Geschmack zwischendurch einige Längen hat. Gerade im mittleren Teil verliert der Roman etwas an Spannung, weil vieles angedeutet, aber wenig wirklich entwickelt wird. Dennoch wollte ich wissen, wie dieses Wiedersehen endet und was Irene wirklich antreibt.
Am Ende bleibt ein stilles Nachdenken zurück. Über die Macht der Erinnerung, über das, was uns in jungen Jahren antreibt, und darüber, wie man Frieden schließt mit dem eigenen Leben.
„Die Frau auf der Treppe“ ist kein großes Drama, kein mitreißender Liebesroman, sondern eine leise, nachdenkliche Geschichte, die erst im Nachklang ihre Wirkung entfaltet.

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Veröffentlicht am 27.10.2025

Zwischen Zärtlichkeit und Schonungslosigkeit - eine Beziehung im Wandel der Zeit

Die vorletzte Frau
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Katja Oskamps Roman „Die vorletzte Frau“ hat mich sehr berührt, vielleicht gerade, weil er so offen, ehrlich und unaufgeregt erzählt ist. Es ist ein autobiografisch gefärbtes Buch über eine Liebe, die ...

Katja Oskamps Roman „Die vorletzte Frau“ hat mich sehr berührt, vielleicht gerade, weil er so offen, ehrlich und unaufgeregt erzählt ist. Es ist ein autobiografisch gefärbtes Buch über eine Liebe, die fast zwanzig Jahre dauert und sich im Lauf der Zeit verändert, so wie das Leben selbst.
Die Ich-Erzählerin, Schriftstellerin wie die Autorin selbst, lernt den Schweizer Autor Tosch kennen, als sie dreißig ist und er fast fünfzig. Was zunächst wie eine zufällige Begegnung wirkt, entwickelt sich zu einer intensiven, oft widersprüchlichen Beziehung. Tosch ist charismatisch, selbstbewusst, manchmal auch schwierig, einer, der sich und seine Kunst sehr ernst nimmt. Katja hingegen beobachtet, reflektiert, schreibt, zweifelt und wächst dabei über sich hinaus.
Die beiden leben ihre Liebe mit einer Mischung aus Leidenschaft, Humor und Schonungslosigkeit. Besonders eindrücklich fand ich, wie Katja Oskamp beschreibt, wie sich Nähe und Distanz verschieben, wie sich aus Begehren Alltag entwickelt und wie Krankheit und Verantwortung schließlich alles verändern. Dabei bleibt sie immer ehrlich, ohne zu klagen oder zu beschönigen.
Mich hat beeindruckt, wie klar die Sprache ist. Die Autorin schreibt direkt, manchmal fast scharf, dann wieder zärtlich und voller Wärme. Zwischen den ernsten Momenten gibt es viele kleine Beobachtungen, die einen schmunzeln lassen, etwa, wenn es um die Tochter Paula geht oder um das ganz normale Zusammenleben zweier Menschen, die sich lieben und trotzdem oft aneinander reiben.
„Die vorletzte Frau“ ist kein klassischer Liebesroman, sondern ein Buch über das Leben zu zweit, mit all seinen Höhen und Brüchen, über Verantwortung, Freiheit, Fürsorge und den Mut, sich selbst treu zu bleiben. Katja Oskamp gelingt es, aus persönlichen Erinnerungen etwas Universelles zu machen.
Ich habe das Buch sehr gern gelesen. Es ist leise und stark zugleich.

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Veröffentlicht am 25.10.2025

Die Würde des Durchhaltens - ein Leben im Warten und im Trotzdem

Olga
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Von Bernhard Schlinks „Der Vorleser“ war ich begeistert, ein Buch, das mich damals sehr berührt hat. Ich war skeptisch, ob „Olga“ mich ebenso fesseln könnte. Jetzt, nach der letzten Seite, bin ich sicher: ...

Von Bernhard Schlinks „Der Vorleser“ war ich begeistert, ein Buch, das mich damals sehr berührt hat. Ich war skeptisch, ob „Olga“ mich ebenso fesseln könnte. Jetzt, nach der letzten Seite, bin ich sicher: Es hat mich genauso getroffen.
Schlink erzählt in ruhigen, klaren Sätzen die Lebensgeschichte von Olga Rinke, einem Mädchen aus einfachen Verhältnissen, das Ende des 19. Jahrhunderts in Pommern aufwächst. Früh verliert sie ihre Eltern und wächst bei einer kalten, strengen Großmutter auf, die ihr wenig Liebe entgegenbringt. Nur in Herbert, dem Sohn des Gutsherrn, findet Olga Nähe und Verständnis. Die beiden verbindet eine zarte, leise Liebe, die allen gesellschaftlichen Grenzen zum Trotz Bestand hat und doch nie richtig gelebt werden kann.
Während Olga sich mit Fleiß und Mut ein selbstständiges Leben als Lehrerin aufbaut, zieht es Herbert in die Ferne, nach Afrika, Amerika und schließlich in die Arktis, um Ruhm für Deutschland zu erlangen. Dort verliert sich seine Spur und Olga bleibt zurück, mit ihrer Sehnsucht, ihren Briefen und einem unerschütterlichen Glauben an die Liebe.
Was mich besonders bewegt hat, ist, wie still und unspektakulär Schlink diese Geschichte erzählt und wie viel Gefühl trotzdem zwischen den Zeilen steckt. Olga ist keine Heldin im klassischen Sinn, aber eine Frau mit Rückgrat, Stolz und einer tiefen inneren Stärke. Sie erlebt zwei Weltkriege, politische Umbrüche, Verlust und Einsamkeit und bleibt sich dennoch treu.
Der Roman ist in drei Teile gegliedert, was mir anfangs etwas sperrig vorkam. Bernhard Schlink montiert die Kapitel nicht chronologisch. Rückblickend war gerade diese Struktur das Besondere. Sie erlaubt es, Olga aus verschiedenen Blickwinkeln zu sehen, als junge Frau, als alte Dame und schließlich durch ihre eigenen Briefe. Diese Briefe sind der emotionalste Teil des Buches. Ich hatte beim Lesen mehr als einmal Gänsehaut, weil sie so ehrlich, so verletzlich und zugleich so kraftvoll sind.
Thematisch ist „Olga“ mehr als eine Liebesgeschichte. Es ist ein Buch über Verlust, Stolz, über die Sehnsucht nach Nähe und den Mut, allein weiterzugehen. Über eine Frau, die in einer lauten, männlich dominierten Zeit ihre stille Würde bewahrt.
Schlinks Sprache ist unaufgeregt, fast sachlich und doch voller Wärme. Ich liebe, wie er das Große im Kleinen findet und seine Figuren nie verurteilt. Gerade diese Zurückhaltung macht „Olga“ zu einem stillen, aber nachhaltigen Buch.

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Veröffentlicht am 25.10.2025

Eine unüberhörbare, mahnende Stimme für Opfer von Femizid

Da, wo ich dich sehen kann
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Ich habe die Autorin in einem Interview über „Da, wo ich dich sehen kann“ erlebt, wollte unbedingt die Literatur hinter ihren Interviewdarstellungen lesen und wurde nicht enttäuscht. Dieses Buch hat mich ...

Ich habe die Autorin in einem Interview über „Da, wo ich dich sehen kann“ erlebt, wollte unbedingt die Literatur hinter ihren Interviewdarstellungen lesen und wurde nicht enttäuscht. Dieses Buch hat mich nachhaltig getroffen.
Jasmin Schreiber erzählt die Geschichte der neunjährigen Maja, deren Mutter von ihrem Vater ermordet wird. Eine Tat, die nicht nur ein Leben nimmt und zerstört, sondern viele. Zurück bleibt ein Geflecht aus Trauer, Schuld und der Frage, wie man weiterlebt, wenn nichts mehr so ist wie zuvor.
Was mich besonders bewegt hat, ist die Art, wie Jasmin Schreiber die Tochter Maja zeichnet. Sie denkt und fühlt wie ein Kind, ohne Pathos, ohne Künstlichkeit. Ihre Verwirrung, ihre Wut und ihr manchmal stilles und manchmal so lautes Ringen mit dem Unbegreiflichen wirken so echt, dass man öfter selbst den Atem anhält. Auch die anderen Figuren, Majas Großeltern, ihre Patentante Liv oder Nachbarn, zeigen auf unterschiedliche Weise, wie tief Gewalt in Familien wirkt, selbst dann, wenn sie längst vorbei ist, ein Leben lang.
Die Erzählweise ist fast sachlich und gerade dadurch so eindringlich. Jasmin Schreiber urteilt nicht, sie beobachtet. Sie lässt die Figuren sprechen und überlässt es den Lesenden, die Zwischentöne zu hören. Besonders die eingeschobenen Passagen, in denen mögliche andere Verläufe angedeutet werden, was hätte passieren können, wenn jemand früher hingeschaut oder gefragt hätte, bleiben lange im Kopf.
Die Autorin arbeitet in diesem Buch auch mit einer Montagetechnik, bei der sie faktische, sachliche und dokumentarische Elemente zwischen die Kapitel schiebt. Zeitungsartikel, Gerichtsurteile, Schreiben vom Anwalt. Durch diese Technik wird der reale Bezug des Romans und das Wahrhaftige neben dem Belletristischen deutlich.
Trotz der Schwere des Themas gibt es in diesem Buch Momente von Zärtlichkeit, kleine Funken Hoffnung. Sie entstehen oft da, wo Menschen versuchen, einander zu halten, auch wenn sie selbst kaum noch Kraft haben.
„Da, wo ich dich sehen kann“ ist keine einfache Lektüre. Es ist ein Buch, das wehtut, weil es hinsehen will, wo viele lieber wegsehen. Und doch bleibt am Ende nicht nur Schmerz, sondern auch eine Ahnung davon, dass Mitgefühl und Aufmerksamkeit einen Unterschied machen können.
Ein kraftvolles Buch!

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