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Veröffentlicht am 11.09.2021

Unkonventionelle Detektivin aus der Punkszene

Sandy / Der Banker mit dem Stöckelschuh
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Es ist heiß in Frankfurt in dem Sommer, in dem die Geschichte spielt, unerträglich heiß, noch dazu, wenn der heißbegehrte und dazu noch überteuerte Wohnraum, den man sich nach schweißtreibender und geradezu ...

Es ist heiß in Frankfurt in dem Sommer, in dem die Geschichte spielt, unerträglich heiß, noch dazu, wenn der heißbegehrte und dazu noch überteuerte Wohnraum, den man sich nach schweißtreibender und geradezu aussichtslos erscheinender Suche ergattert hat, winzig klein und schon bald übervölkert ist! Unverhofft schneit da nämlich Sandys Schwester herein, vorläufig, wie sie sagt, nur bis sie, die sich von Hannover in die Bankenstadt am Main hat versetzen lassen, eine geeignete Wohnung gefunden hat. Obwohl zwischen den beiden Schwestern eine jahrelange Funkstille herrschte, fühlt sich die schnoddrige Ex-Punkerin und sich nun als Privatdetektivin versuchende Sandy verpflichtet, der ungeliebten, im Gegensatz zu ihr biederen, aber wohlorganisierten Silvia Obdach zu gewähren. Blut ist halt trotz allem dicker als Wasser, nicht wahr?
Aber es bleibt nicht bei der einen Einquartierung, denn da klopft auch noch Wombel an, Sandys Kumpel aus der Punkerszene, der gedenkt, sein Leben zu ordnen und in Frankfurt ein Praktikum bei einem Photographen zu absolvieren. Mehr schlecht als recht zunächst, aber sich ins Unvermeidliche fügend, arrangieren sich die drei, trotzen der Hitze mit viel Bier und einem gelegentlichen Joint, als das Unheil über sie hereinbricht! Silvias neuer Chef auf der Bank wird erschlagen aufgefunden – und der Verdacht fällt ausgerechnet auf die recht unbedarft erscheinende, adrette Neu-Frankfurterin Silvia höchstselbst. Ehrensache, dass Sandy die Schwester aus der Bredouille heraushauen muss – wozu ist man schließlich Detektivin?
Leicht gestalten sich Sandys Ermittlungen jedoch nicht, denn der tote Banker scheint ein unbeschriebenes Blatt ohne erkennbares Privatleben gewesen zu sein. Aber dann macht Sandy mit der Hilfe der beiden lästigen Mitbewohner, die gelegentlich auch kontraproduktiv ist, denn sowohl Wombel als auch Silvia haben ein besonderes Talent, sich in Schwierigkeiten zu bringen, einige aufschlussreiche Entdeckungen, die sie kreuz und quer durch Frankfurt, von der Banker- über die Drogenszene bis hin ins Transvestitenmilieu führt und die ein ganz neues Licht nicht nur auf den toten Banker wirft, sondern die auch darauf hindeuten, dass dieser seine Hände bei dem anrüchigen Verkauf von viel zu teuren Immobilien – Schrottimmobilien nennt sie Schwester Silvia – an Kunden, die ihr zusammengespartes Geld gewinnbringend anlegen wollten, im Spiel hatte. Nun, und das gibt beileibe kein gutes Bild ab von den Banken im allgemeinen und von dem Ermordeten selbst im besonderen....
Sandy, eigentlich Sandra Hardenberg, ist sicher – und lobenswerterweise! - keine der üblichen Privatdetektive, die einem in Büchern und Filmen begegnen, und man braucht ein wenig Zeit, um sich an sie zu gewöhnen. Wirkt sie zunächst faul, träge, lustlos (was aber, wie man bald vermuten darf, der extremen Hitze geschuldet ist), allzu flapsig und wenig motiviert, so lernt man sie rasch als patente, gutmütige und hilfsbereite Person kennen, die das Herz, wie man so schön sagt, auf dem rechten Fleck hat. Impulsiv ist sie, gewiss, aufbrausend und unbedacht, wenn sie sich geärgert hat, aber sie hat Mut und einen wachen Verstand, den sie, so hat man den Eindruck, durch proletenhaftes Auftreten kaschieren möchte – um bloß nicht in den Verdacht zu kommen, als bürgerlich und spießig angesehen zu werden. Nein, so eine wie sie verleugnet ihre Vergangenheit nicht, möchte nicht zum Establishment gehören. Das macht sie authentisch, so authentisch wie die Stadt in diesem Krimi dargestellt wird, in dem sie ihrem ungeregelten Tagwerk nachgeht und in der sie sich auskennt wie in ihrer Westentasche. Diejenigen Leser, die Frankfurt kennen, fühlen sich auf vertrautem Terrain, wenn sie Sandy auf ihren Ermittlungen begleiten; andere Leser wiederum, die von der Stadt am Main nicht viel mehr wissen, als dass Frankfurt die deutsche Bankenmetropole ist und gleichzeitig die Hauptstadt des Verbrechens, haben nach der Lektüre einen durchaus tieferen Einblick in ihren Facettenreichtum, fühlen sich fasziniert und abgestoßen zugleich. Selten habe ich einen Krimi gelesen, der so perfekt zu dem Ort passt, an dem er spielt und der so, wie er ersonnen ist, nirgendwo anders spielen kann.
Die Handlung selbst bewegt sich eher gemächlich voran, gibt zwar einige Rätsel auf, ist aber durchschaubar. Die Spannung hält sich überdies, bis auf den flotten Schluss, bei dem es richtig brenzlig wird für unsre sympathischen Chaoten, in Grenzen, was aber wettgemacht wird durch die, mit wenigen Abstrichen, liebenswerten Charaktere und vor allem durch die Protagonistin Sandy, die gleichzeitig die Ich-Erzählerin ist. Und die Art, in der die Autorin Sandy die Geschehnisse aus ihrer Warte betrachten, berichten und kommentieren lässt, sorgt von Anfang bis Ende für Amüsement und Lesevergnügen! Ein ganz und gar unblutiger Krimi, der vor allem unterhaltsam ist, der anstatt düster und brutal, hell und komisch-vergnüglich ist, der fröhlich stimmt, erheitert, den Leser stellenweise herzhaft lachen lässt, der aber auch Verwunderung hervorrufen mag, in die sich Empörung mischt über das Treiben eines gewissen Berufsstandes, wobei hier nicht weiter ins Detail gegangen werden soll, um die Spannung und das Vergnügen derjenigen nicht zu schmälern, die neugierig geworden sind auf Katja Kleibers dritten Sandy-Krimi, dem, wie man am Ende des Buches erfahren kann, alsbald ein vierter folgen wird! Ich freue mich darauf!

Veröffentlicht am 30.08.2021

Genussreicher Provencekrimi

Fälschung à la Provence
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Vor nicht allzu langer Zeit hat sich Pascal Chevrier einen Traum erfüllt! Ehemals bei der Police nationale in Paris angestellt, sah er nach seiner Scheidung, die ihn tüchtig aus dem Gleichgewicht gebracht ...

Vor nicht allzu langer Zeit hat sich Pascal Chevrier einen Traum erfüllt! Ehemals bei der Police nationale in Paris angestellt, sah er nach seiner Scheidung, die ihn tüchtig aus dem Gleichgewicht gebracht hat, keine Zukunft mehr in der Stadt, in der ihm außer dem Kollegen Alexandre keine Freunde mehr geblieben waren, und zog an seinen Sehnsuchtsort im Luberon, wo er von nun an als einfacher Dorfgendarm tätig sein wollte. Ein anderes, ein ganz neues Leben wollte er beginnen, endlich leben, Zeit haben, um sich all den Genüssen widmen zu können, die ihn glücklich machen. Und in diesem dritten Band der Reihe von Provencekrimis aus der Feder von Andreas Heineke sieht es ganz so aus, als wäre Pascal schließlich angekommen! Zwar wird er auch in der betörenden Provence mit ihrem einzigartigen Licht, ihren unverwechselbaren Düften, ihrer Wärme und ihren Farben zur Aufklärung von skurrilen und kniffligen Verbrechen gerufen und bekommt es mit gefährlichen Kriminellen zu tun, die über Leichen gehen und denen aus seiner Zeit in Paris in nichts nachstehen, aber er hat dennoch seinen Frieden gefunden und die vergangenen schwierigen Jahre verblassen immer mehr. Das Hier und Jetzt gilt es zu genießen und die Vergangenheit Vergangenheit sein zu lassen.
Einen wunderbaren und ohne Einschränkungen sympathischen Protagonisten hat der Autor mit dem tiefgründigen Pascal erschaffen, jemanden, der in sich zu ruhen scheint, dessen Ausgeglichenheit und ruhige Zurückhaltung, gepaart mit Nachdenklichkeit und der ausgesuchten Höflichkeit, die man Franzosen gerne nachsagt, in außerordentlich angenehmen Gegensatz stehen zu den meisten anderen Kriminalisten, die einem in Büchern und in Filmen begegnen und deren übertriebene Betriebsamkeit und Ruhelosigkeit sehr anstrengend sein können. Und die ganz an der Oberfläche bleiben, während bei Pascal immer mehr Tiefgründigkeit zutage kommt. Er, Pascal, mit der Leidenschaft für die kultivierte Küche und die hohe Kunst des Kochens, passt so genau in die Landschaft, die er sich als Lebensmittelpunkt ausgesucht hat, wie die Fälle, die er zu untersuchen hat.
Ein unbedeutender Dorfgendarm wollte er sein, allerhöchstens einmal Streit unter Nachbarn schlichten, sich vielleicht hin und wieder um kleinere Diebstähle kümmern, doch wurde er bereits kurz nach seiner Ankunft im Luberon von der Police nationale in Apt um Amtshilfe gebeten, hat mit ihr gemeinsam zwei Mordfälle gelöst – und schickt sich nun zum dritten Mal an, seinen Schreibtisch in der Mairie – und damit auch, leichten Herzens, den ungeliebten, von sich selbst eingenommenen Bürgermeister Betrix – in Lucasson zu verlassen, um mit seiner, von ihm bewunderten, Kollegin Audrey aus Apt Licht zu bringen in den brutalen Mord an einer jungen Kunsthistorikerin, die als Führerin in einer geradezu sensationellen Picasso Ausstellung an des letzteren Wohnsitz, dem Chateau de Vauvenargues, tätig war und dort auch ihren vorzeitigen Tod fand.
In gewohnter unaufgeregter Gemächlichkeit beginnt Pascal mit seinen Ermittlungen und findet sich alsbald inmitten der für Außenstehende kaum durchschaubaren, abgründigen Kunstszene, zwischen rivalisierenden, die Preise für die Kunstwerke diktierenden und manipulierenden Galeristen, brillianten und mediokren Fälschern, Kunstsachverständigen, die in akribischer Kleinarbeit wie wahre Detektive, gepaart mit allerhöchster Expertise, die Echtheit etwa, wie hier in der Geschichte, eines Picasso oder Cezanne, dem berühmtesten Maler der Provence, nachweisen, einer anmaßenden Museumsleiterin, einer arroganten und höchst unverschämten Kuratorin und nicht zuletzt ehrgeizigen Kunsthistorikerinnen, die über all ihrem Sachverstand und engem Kontakt mit den berühmtesten Gemälden der Welt nicht nur die Kontrolle über ihr Handeln und die Einsicht in das eigene Tun, sondern auch noch den Verstand verloren haben.
So wie Pascal in sein Luberon passt, so passt auch der sich langsam aufrollende, immer wieder von Einblicken in Pascals Privatleben unterbrochene überraschungsreiche Mordfall in die Provence, Heimat der Kunst und der Künstler – nicht nur des besonderen Lichtes wegen, wie man vermuten darf. Gewiss, Pascals vorherige Fälle waren spannender, aktionsreicher, gefährlicher auch für den die Ruhe und den Frieden suchendem Dorfgendarm. Dennoch betrachte ich „Fälschung à la Provence“ als den thematisch interessantesten, ausgereifteren der bislang drei Romane. So wie Pascal selber habe ich einen aufschlussreichen Einblick bekommen in eine Welt, die ich immer als Domäne der Reichen und selbsternannten Wichtigen der Gesellschaft angesehen habe – was sich hier so eindrücklich wie bedauerlich bestätigt -, und in die Mechanismen, die dafür verantwortlich sind, dass ein Gemälde für einen Betrag in dreistelliger Millionenhöhe verkauft wird. Lächerlich mutet das an, denn vom rein materiellen Wert sind diese Summen einfach nur utopisch. Eine Welt, die ihren Sinn für Proportionen verloren oder auch nie besessen hat.
Aber auch da ist es wieder Pascal, der die Dinge gerade rückt in einer der schönsten Szenen, ganz am Ende, dieses Kriminalromans, der sich hinter den Provencekrimis eines Martin Walker ganz und gar nicht zu verstecken braucht, und die der Leser am besten selbst entdecken sollte! Man muss ein schönes Gemälde nicht besitzen, um Genuss, Vergnügen, Befriedigung, Glück, Bewunderung – die ganze Skala menschlicher Emotionen also – bei seinem Betrachten zu verspüren. Es ist völlig ausreichend, sich mit allen Sinnen hinein zu vertiefen – so wie in diesen licht- und lebensvollen Roman auch!

Veröffentlicht am 27.08.2021

Neugierde kann gefährlich werden!

Unguad
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Als 'heiter-gelassender Gesellschaftskrimi, spannend bis zum Schluss' wird dieser zweite Band um die umtriebige Mutter, Arztgattin und psychologische Beraterin (oder so ähnlich, denn ihr Beruf spielt hier ...

Als 'heiter-gelassender Gesellschaftskrimi, spannend bis zum Schluss' wird dieser zweite Band um die umtriebige Mutter, Arztgattin und psychologische Beraterin (oder so ähnlich, denn ihr Beruf spielt hier keine eigentliche Rolle) Karin Schneider in dem Klappentext beschrieben – und dies ist in der Tat eine zutreffende Bezeichnung! Schauplatz ist Niederbayern, genauer gesagt das Altenheim Sonnenhügel in Kirchmünster im Rottal. Dort findet Karin bei einem Besuch ihrer betagten Eltern, die an diesem reichlich ungastlichen und gar nicht sonnigen Ort untergebracht sind, die Leiche der Hilfspflegerin Elvira, nicht gerade eine Zierde ihrer Profession, und fühlt sich nach dem ersten Schrecken geradezu verpflichtet (was auch eine Ausrede für ihre unbezähmbare Neugierde sein könnte!), ihre eigenen, nicht immer geschickten, auf jeden Fall aber so turbulenten wie riskanten, sie nämlich zusehends in Gefahr bringenden Ermittlungen anzustellen. Von Stund an eilt die, wie man den Eindruck gewinnt, trotz ihrer vielen Aufgaben nicht recht ausgelastete Karin zwischen mannigfachen Verpflichtungen als Mutter von vier Kindern im Teenageralter und unzähligen, durchaus obstrusen Seminaren, die sie offensichtlich besucht, wobei die Gründe dafür nicht ersichtlich sind, auch mit Langeweile nicht erklärt werden können, und dem Altersheim hin und her. Ihre neugierigen, keineswegs diskret gestellten Fragen stoßen erwartungsgemäß sowohl beim Personal der Alten-Aufbewahranstalt und letzter Station vor der unausweichlichen und nicht mehr fernen Ankunft des Sensenmannes, als auch bei der ermittelnden Kommissarin auf sich steigernden Unwillen – und bringen sie zudem alsbald ins Visier des Mörders, denn Elviras Tod war kein natürlicher! Doch Karin lässt sich nicht bremsen – und kommt tatsächlich einer gar schlimmen Geschichte auf die Spur, was sie am Ende um ein Haar das Leben kostet, denn da gibt es jemanden, der nichts oder alles, je nach Blickwinkel, zu verlieren hat und zum Äußersten entschlossen ist....
Flott geschrieben ist die Geschichte, amüsant, voller komischer bis skurriler Einfälle, die eine Art Gegengewicht bilden zu dem Kriminalfall, der mal mehr, mal weniger im Vordergrund steht, während die Handlung voranschreitet, mal gemächlich, mal holterdipolter – ganz wie die Protagonistin, die trotz allem Halb- und Viertelwissen, das sie sich in all ihren bereits erwähnten Seminaren angeeignet hat, oder besser gesagt zu haben glaubt, ihr inneres Gleichgewicht noch nicht gefunden zu haben scheint. Größtenteils ist besagte Protagonistin selbst die Erzählerin, wird aber abgewechselt von einer Art Berichterstattung, die immer dann einsetzt, wenn die hyperaktive Hausfrau mit dem Hang zum Aus-der-Haut-fahren, was sie als Temperamentsausbrüche bezeichnet, die sie ihren ungarisch-sizilianischen Wurzeln zuschreibt, gerade nicht ins Geschehen verwickelt ist. Eine Erzählweise, die mir gefällt, bringt sie doch ein wenig Ruhe in den unfriedlichen 'Spinnstubenkrimi' – besser bekannt unter der Genrebezeichnung 'cosy crime' -, lässt sie den Leser durchatmen, denn Karins Art kann schon arg anstrengend sein! Die ruhige Gelassenheit, die dem Niederbayern-Krimi attestiert wird, trifft nicht auf sie zu, so sympathisch sie auch ist, so witzig sie auch sein kann, für so viel Situationskomik sie auch sorgen mag.
Das tun neben ihr aber auch noch weitere Figuren, wie ihr 15jähriger Sohn Linus, dem ebenfalls eine Rolle bei den Ermittlungen zufällt und vor allem der eine oder andere Bewohner des Altenheims, un das der Leser mitgenommen wird und in dem er sicher unter keinen Umständen die letzten Lebensjahre verbringen möchte. So fiktiv die Krimihandlung auch sein mag – der Ort, an dem die Autorin sie ansiedelt, ist es ganz gewiss nicht! Ganz im Gegenteil! In Zeiten, in denen auch Institutionen wie Krankenhäuser und Altenheime allein unter dem Aspekt der Wirtschaftlichkeit geführt werden und der Profit oberste Priorität hat und nicht etwa das Wohlergehen der Menschen, in denen Zuwendung nicht vorgesehen ist und Einsparungen immer auf Kosten der Menschlichkeit gehen oder gar von der Geschäftsführung billigend in Kauf genommen werden – gedankenlos, desinteressiert -, entspricht die Kulisse, vor der sich die Handlung abspielt, ganz der Realität und ist keineswegs eine düstere Zukunftsvision! Und diese Zustände werden so glaubwürdig wie lapidar geschildert, werden bedauert, letztend aber hingenommen, ohne dass Konsequenzen gezogen werden, so wie im wahren Leben! Alte Menschen haben nicht mehr das Recht, respektiert zu werden? Weil sie nicht mehr leistungsfähig sind, den Staat nur Geld kosten? Vor dieser Einstellung einer Gesellschaft, in der nur Jugend, Attraktivität und Agilität zu zählen scheint, kann es einen schon grausen – und die Autorin lässt das so nebenbei einfließen, unauffällig beinahe, wenn sie etwa eine Interaktion zwischen Pflegepersonal und Bewohner des ungastlichen Ortes Sonnenhügel in die Handlung hineinbringt. Geringschätziges Herabblicken auf den Hilflosen. Doch zum Glück hat sie eine junge Person, Anna, ersonnen, die tatsächlich Freude hat an der Beschäftigung mit alten Menschen, die sich mit ausgesuchter Höflichkeit und Freundlichkeit um sie kümmert. Hoffen wir, dass jemandem wie ihr nicht die Flügel gestutzt werden durch ein System, das genau festlegt, welche Pflegeleistungen notwendig sind und welche nicht, wieviel Zeit man einem Menschen schenken darf oder ob überhaupt.
Und – wie schön wäre es gewesen, wenn die wegen jeder tatsächlichen oder vermeintlichen Ungerechtigkeit oder nicht hinnehmbarer Zustände an die Decke gehende Protagonistin, die ohnehin auf Sinnsuche ist, kurzerhand ihre Eltern geschnappt und mit in ihr eigenes geräumiges Zuhause genommen hätte, anstatt ihr schlechtes Gewissen darüber, dass sie die beiden in dieses Heim verfrachtet hat, schnell wegzuwischen und in die hinterste Schublade ihres nach Aktivitäten lechzenden Köpfchens zu schieben. Ein Spiele- oder Erzählnachmittag mit den Eltern anstatt ein schamanischer Trommelkurs! Das wäre doch mal was, oder? Aber nun, man kann ja schließlich nicht alles haben, nicht wahr?

Veröffentlicht am 17.08.2021

Literarisches Lesevergnügen ersten Ranges

Nur der Tod ist unsterblich
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Nach dem Lesen der Inhaltsangabe zu Reinhard Gnettners Erstlingswerk „Nur der Tod ist unsterblich“, über dessen Titel man durchaus sinnieren kann, stellte ich mir zwei Fragen. Die erste lautete, etwas ...

Nach dem Lesen der Inhaltsangabe zu Reinhard Gnettners Erstlingswerk „Nur der Tod ist unsterblich“, über dessen Titel man durchaus sinnieren kann, stellte ich mir zwei Fragen. Die erste lautete, etwas verwundert: Ja sind die fünf Literaturgrößen, die die Hauptrollen in dem Roman spielen, nicht schon unsterblich – zu Lebzeiten und dann erst recht nach ihrem Tod? Und die zweite Frage war die nach der Auswahl gerade dieser, Stefan Zweig, Erich Fried, Leo Perutz, Friedrich Torberg und Heimito von Doderer – mir wären noch mehr „Unsterbliche“ ihres Formats eingefallen... Was also waren die Kriterien, besagte fünf Persönlichkeiten durch einen „mörderischen Literaturkrimi“ mit noch einem Hauch mehr dieses eigentlich paradoxen Adjektivs auszuzeichnen?
Liest man sich durch den hochinteressanten und genau so hoch zu lobenden Anhang, der nicht nur ihre vielen Originalzitate, mit denen, teilweise in leicht abgewandelter Form, der Autor seine Geschichte an- und unendlich bereichert, nachweist, sondern auch aussagekräftige Kurzbiographien der von ihm erkorenen Meister des geschriebenen Wortes beisteuert, fällt alsbald auf, dass die fünf Herren samt und sonders in irgendeiner Weise mit dem 9. Wiener Gemeindebezirk Alsergrund in Verbindung stehen (was gleichzeitig die Erklärung ist, warum etwa der von mir verehrte gebrochene Charakter eines Joseph Roth, einer der größten Wiener, obwohl ursprünglich nicht aus der Stadt an der Donau stammend, hier nicht mittung durfte, wiewohl er genau gepasst hätte in all seiner ewigen Traurigkeit und Skurrilität gleichzeitig).
Und dann die Unsterblichkeit, die ich unseren wackeren Protagonisten wie selbstverständlich attribuiert hatte – ja, die stimmt heute auch nicht mehr wirklich, wie eines der Mitglieder der Altherren-WG, die sie flugs gründeten, in eben jenem Alsergrund selbstredend, anhand von den immer geringer werdenden Verkaufszahlen ihrer jeweiligen Werke demonstrierte! Unsterblich sind eben nur diejenigen, die bleibende und ergo erinnerte Spuren hinterlassen haben. Und in Vergessenheit zu geraten, bedeutet im Umkehrschluss, dass auch eine vormalige Unsterblichkeit zurückgenommen und wieder sterblich werden kann...
Dagegen aber wollen die munteren Herren, inzwischen jenseits der Hundert, vorgehen! Jeder von ihnen beabsichtigt, ein Opus Magnum zu verfassen, eines, das sie aus den bodenlosen Tiefen der Vergessenheit herausholt und ihre Unsterblichkeit auch für die Nachgeborenen zementiert. Und wo kann man diese Krönung ihres literarischen Schaffens wohl ersinnen und zu Papier bringen? Richtig, dort wo ihnen schon immer die kreativsten Ideen kamen – im Caféhaus! Nur leider wurden auch diese, die echten, die, die eine so lange Tradition nicht nur in Wien hatten, von der unbarmherzig voranschreitenden Zeit verwässert, verdrängt oder ganz und gar verschluckt. Doch, wie gesagt, die äußerlich gebrechlichen, aber geistig sehr agilen Herren sind findig wie eh und je. Sie gründen ihre Altherren-WG, errichten als deren Mittelpunkt ihr eigenes Caféhaus und engagieren der zerbrechlichen Gesundheit und dem daraus resultierenden erhöhten Pflegebedarf wegen die patente Ella – Haushälterin, Managerin, Pflegerin und stets anteilnehmende Zuhörerin und Gesprächspartnerin in Personalunion. Und nachdem alles gemäß ihren Wünschen und Bedürfnissen geordnet wurde, könnten sie eigentlich loslegen mit ihrem Opus Magnum, nicht wahr? Und damit endgültig den Literatenolymp erklimmen? Leider, aber wie das im Leben nun einmal so ist, stellen sich nicht vorhergesehene Schwierigkeiten ein, wie der Leser bald konstatieren wird, nicht überraschend, möchte man meinen, wenn man das Alter unserer Protagonisten betrachtet. Und dann – der Klappentext verrät es uns – stirbt einer nach dem anderen und, ehe sie es sich versieht, ist das reizende, auch schon etwas angejahrte Fräulein Ella (kann man einen entzückenderen, liebenswerteren Charakter erfinden?) zum Ziel der polizeilichen Ermittlungen und im Nu zur Hauptverdächtigen geworden!
Doch noch ist nicht aller Tage Abend, denn die verblichenen Literaten haben schließlich auch noch ein – posthumes – Wörtchen mitzureden. Und damit retten sie nicht nur ihr dienstbares Fräulein sondern verschaffen sich am Schluss, wie der Leser mit größter Befriedigung sicher vermuten darf, mit einem besonderen, einem so originellen und genialen wie naheliegenden Coup die Eintrittskarten zum Götterhimmel!
Mit enormem Vergnügen habe ich den ungewöhnlichen, in sprachlich wunderbarem, liebenswürdig altmodisch anmutendem Diktus abgefassten Roman gelesen, mich gefreut über die nach meiner Einschätzung, weil durchaus vertraut mit den Schriftstellern Zweig, Perutz, von Doderer, Torberg und Fried – mit letzterem ganz besonders – und ihren Werken, sehr treffenden Charakterisierungen der „Unsterblichen“, und immer wieder habe ich gelächelt über die liebevolle Art und Weise, mit der der Autor ihnen ihre kleineren und manchmal größeren Macken gelassen, ja sie sogar damit geschmückt hat. Er kennt und versteht sie gut, die fünf Wiener!
Grandios auch die Wahl der Todesarten, mittels derer er sie im Roman ins Jenseits befördert hat, jeder einzelne Tod ist ganz speziell auf den, der ihn jeweils erleidet, zugeschnitten – und ich ertappe mich bei dem Wunsch, unsere fünf so einnehmend wie skurril geschilderten und agierenden Protagonisten hätten auf genau diese Weise auch im wahren Leben ihr irdisches Dasein beenden können. Ja, sie sind mir sehr nahe gekommen, die höflichen und gleichzeitig so eigenen und eigenwilligen, kämpferischen und immer wieder auch mutlosen Herren aus einer längst vergangenen Epoche, samt ihrem Fräulein Ella, das endlich leben und nicht nur mehr dienen möchte und doch nicht gegen ihre Natur ankommt, samt dem unaussprechlichen und natürlich stark überzeichneten (was ihnen dann schon wieder einen gewissen Charme verleiht) Hausbesitzerpaar Zihal, das die lauten, sich streitenden, manchmal auch mit Gegenständen um sich werfenden Alten nur zu gerne aus der großen Caféhaus-Wohnung geekelt hätte, und samt auch dem gutmütig-höflichen, aber überforderten, kurz vor der Pensionierung stehenden Kommissar, der die Schlag auf Schlag aufeinanderfolgenden Todesfälle – oder waren es etwa doch Morde? - in der Altherren-WG zu untersuchen hat.
Abschließend mein Kompliment an den Autor und gleichzeitig Dank für die so kurzweiligen wie anregenden Lesestunden, die er mir mit diesem Buch ohne Fehl und Tadel beschert hat. Auf dass die Herren aus dem Alsergrund ein wohlverdientes Revival erleben dürfen - und ihre Unsterblichkeit behalten mögen!

Veröffentlicht am 15.08.2021

Der Trauer Raum geben

Niemehrzeit
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Beinahe ein Jahr nach dem Tod seiner Eltern, die im Abstand von nur wenigen Monaten gestorben sind, beginnt Christian Dittloff mit der Arbeit an dem hier zu besprechenden Buch. Er beschreibt sein Trauerjahr ...

Beinahe ein Jahr nach dem Tod seiner Eltern, die im Abstand von nur wenigen Monaten gestorben sind, beginnt Christian Dittloff mit der Arbeit an dem hier zu besprechenden Buch. Er beschreibt sein Trauerjahr also im Rückblick, wobei man aber stets den Eindruck hat, er schriebe unmittelbar, genau während jener Zeit, in der er mit dem Verlust seiner Eltern konfrontiert wird, in der sein Leben aus dem Gleichgewicht gerät und er darum bemüht ist, seiner vielfältigen, auf ihn einstürzenden, Gefühle Herr zu werden. Die zeitliche Distanz zwischen der Niederschrift und dem Erleben und Verarbeiten der beiden so gravierenden Ereignisse in seinem Leben ist kaum zu spüren – und doch ist sie da! Muss da sein, denn Worte dieser Art findet man im Aufruhr und der Konfusion all der starken, wenn auch zum Teil nicht greif- und benennbaren Gefühle nicht, die kommen einem erst später, wenn man wieder rationaler Gedanken fähig ist. Die Trauer hatte bereits ihre Zeit, sie konnte – und musste! - gelebt, überwunden und allmählich umgewandelt werden, ohne freilich ganz zu verschwinden. Noch nicht, vielleicht nie. Zeit heilt alle Wunden? Ich bezweifle das. Es gibt Wunden, die heilen nie, selbst wenn der Schmerz im Laufe der Zeit nachlässt und es schließlich ermöglicht, mit ihm umzugehen, ihn in den Alltag zu integrieren, der sich auch nach den tiefgreifendsten Einschnitten in unserem Leben so unweigerlich wie tröstlich wieder einstellt, vielleicht in veränderter Form, vielleicht bewusster erlebt, bereichert durch den durchlittenen Schmerz über den Verlust und das, dessen man sich während der Trauerarbeit klar geworden ist.
Und genau diese letztere, um auf „Niemehrzeit“ zurückzukommen, teilt der Autor in mich überraschender Offenheit und in jeweils sehr detaillierten Momentaufnahmen mit seinen Lesern! Von dem Moment an, als nach der Nachricht vom Tode seines Vaters sein bisheriges Leben aus den Fugen gerät, über den nicht erwarteten rasch folgenden Tod seiner Mutter bis hin zur Auflösung des elterlichen Haushaltes in Hamburg. Nach außen geht das Leben in gewohntem Tempo weiter, kaum Raum lassend, um sich innerlich zu sortieren, seine Trauer herauszuschreien, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Da der Autor das einzige Kind seiner Eltern ist, ist es an ihm, die Beerdigungen zu organisieren und die ihm enorm lästigen, in unserer Gesellschaft aber unerlässlichen zahlreichen Anrufe mit Behörden zu tätigen, sich, was er erst einmal hinausschiebt, darüberhinaus um die persönlichen Besitztümer seiner Eltern zu kümmern. Gleichzeitig wird ihm zunehmend bewusst, wie wenig er im Grunde über seine Eltern und seine Wurzeln weiß, zumal gerade die Mutter, eine sehr eigene und eigenwillige Person, nur ungern über ihre eigene Kindheit und Familie gesprochen hatte. Dies war offensichtlich zu Lebzeiten der Eltern nie ein Problem für Christian Dittloff, wurde es aber mit ihrem Ableben, denn nun ist es unwiderruflich zu spät, ihnen Fragen zu stellen, so wie es zu spät ist, Zeit mit ihnen zu verbringen, Zeit, die man durchaus gehabt hätte – wenn man seine Prioritäten anders gesetzt hätte.
Vielen dürften Schuldgefühle dieser Art nicht unbekannt sein, der Autor aber spricht sie aus, stellvertreten sozusagen, ehrlich, ohne zu beschönigen. Und Szenen wie diese sind bezeichnend für das gesamte Buch; gerade denjenigen unter den Lesern, die bereits mit dem Tod eines nahen Angehörigen konfrontiert waren, werden sie sehr vertraut sein, genauso, wie sie das Auf und Ab der Gefühle, über die Dittloff schreibt, nur zu gut kennen werden.
Dennoch, und dies betont der Autor nicht nur einmal, jeder erlebt Trauer anders, geht anders damit um, ist letztend allein damit, mit seiner Untröstlichkeit – so empathisch ihm die Menschen aus seinem Umfeld auch begegnen mögen. Genauso wie der Betroffene den Weg aus der Trauer, so lange sie auch dauert – und da gibt es keine vorgeschriebene zeitliche Limitierung -, alleine gehen, seine eigenen Mechanismen finden muss. Der Autor fand Trost im Lesen und danach im Niederschreiben all dessen, was ihn bewegte in dem Jahr, das dem Tod seiner Eltern folgte, aber da er der schreibenden Zunft angehört, also ein Mann der Worte, sowieso ein Leser ist, war das sein persönlicher Weg, kann kein Allheilmittel sein. So wie „Niemehrzeit“ unverwechselbar und nicht übertragbar sein persönliches Buch ist - und es dabei auch um seine ganz persönliche Annäherung an seine Eltern geht, die er sozusagen posthum neu kennenlernt -, keineswegs ein allgemeingültiger Ratgeber und meiner Meinung nach auch kein Trostbuch für all diejenigen, die gerade den Tod eines ihnen Nahestehenden betrauern. Und da ich selbst zu dieser Gruppe gehöre, würde ich gerade für sie Christian Dittloffs unzweifelhaft hervorragend geschriebenes, berührendes, aufrichtiges und sehr intensives Buch erst nach einem gewissen zeitlichen Abstand empfehlen, nämlich erst dann, wenn die eigene, ganz und gar individuelle Trauerarbeit bereits weitgehend bewältigt wurde – so lange sie eben dauert!