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Veröffentlicht am 21.10.2023

Die Psychiatrie als Großfamilie

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war
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Der siebenjährige Josse, eigentlich Joachim, entdeckt auf dem Schulweg im Kleingartenverein einen toten Rentner. Mit dieser frohen Kunde erhofft er sich in seiner Klasse einen tollen Auftritt. So stolpern ...

Der siebenjährige Josse, eigentlich Joachim, entdeckt auf dem Schulweg im Kleingartenverein einen toten Rentner. Mit dieser frohen Kunde erhofft er sich in seiner Klasse einen tollen Auftritt. So stolpern wir in das Leben von Joachim, das skurriler nicht sein könnte. Sein Vater ist der Leiter einer Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Nähe von Schleswig mit über 1.000 "Gästen" und unzähligen Gebäuden, dazu gehört auch das Wohnhaus der Familie, mitten auf dem Gelände. Josse ist tagtäglich umzingelt von Personen mit ganz besonderen Eigenschaften, die ihm teilweise so vertraut sind, wie die eigene Familie. Die beiden älteren Brüder, die kaum mehr als Spott und Häme für ihn übrig haben, der Mutter, die alles wuppt und innerlich so viel Kummer trägt und dem imposanten Vater, der sein Leben außerhalb des Dirketorendaseins lesend in seinem Sessel verbringt - von gelegentlichen, völlig überzogenen Aktivitätsversuchen abgesehen.

Meyerhoff schreibt unglaublich witzig über diesen autobiografischen Alltag, über das Erwachsenwerden zwischen dem beruhigenden Gebrüll der "Gäste". Sein Schreibstil ist voller ungewöhnlicher, überraschender Kombinationen von Adjektiven und Substantiven und Neuwortschöpfungen; ich musste so oft laut lachen. Auch die scheinbar absurdeste Situation wird in völliger Ernsthaftigkeit aus der Sicht eines Kindes dargestellt. Mich hat das total angesprochen. Die episodenhafte Darstellung hat schon mal zu Kritik an diesem Buch geführt, es gäbe keinen roten Faden. Das habe ich so nicht empfunden, denn die Geschichte von Josse und seiner Familie wird fortlaufend erzählt, in Episoden, dennoch ist deutlich eine Linie zu erkennen. Da reihen sich denkwürdige Ereignisse aneinander. Einige meiner Highlights waren: Der Glöckner, Der große Klare aus dem Norden (völlig missratener Besuch von Ministerpräsident Dr. Gerhard Stoltenberg), Der Segelschein, Schneekastrophe (habe ich auch miterlebt) und natürlich Blutsbrüder (mit dem geliebten Familienhund).

Bei aller Komik macht sich Meyerhoff über seine Figuren nicht lustig. Er durchschaut sie, sieht auch hinter die Fassade, besonders bei den Eltern, deren Lebensgemeinschaft alles andere als harmonisch verläuft. Im Zentrum steht die Beziehung zum Vater, den Josse über alles liebt und den er doch bis zum Ende nicht richtig kennenlernt. Der tote Rentner zu Beginn des Buches ist bereits ein Hinweis darauf, dass es auch Verluste im Leben von Josse geben wird, nicht wenige und unglaublich schmerzlich. Der Roman hat mich sehr gut unterhalten, es flossen Tränen vor Lachen und vor Traurigkeit.


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Veröffentlicht am 09.10.2023

Bergsteiger und Bildhauer nähern sich dem Himmel

Den Himmel finden
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Schon seit einem Jahr sucht der Pfarrer nach einem Bildhauer, der die lebensgroße Darstellung des gekreuzigten Jesus in seiner Kirche in den ursprünglichen Zustand zurückversetzt, d.h. den Lendenschurz ...

Schon seit einem Jahr sucht der Pfarrer nach einem Bildhauer, der die lebensgroße Darstellung des gekreuzigten Jesus in seiner Kirche in den ursprünglichen Zustand zurückversetzt, d.h. den Lendenschurz entfernt. Da klopft eines Tages ein etwa 60-jähriger Mann aus einem kleinen Bergdorf an seine Tür, der auf der Suche nach Arbeit ist. Kleine Reparaturen an Skulpturen, vielfach in Kirchen, sind eines seiner vielen Talente, aber er ist kein professioneller Bildhauer; vor dem Krieg war er Bergsteiger. Schließlich nimmt er den Auftrag an und nähert sich der Statue auf höchst ungewöhnliche Weise. Immer wieder wird er von Zweifeln geplagt, als er jedoch die Verhüllung vorsichtig entfernt hat, gibt es kein zurück mehr. Er muss nun die Nacktheit darstellen.

Dieser Zufallsfund vom Wühltisch hat mich wegen des Covers und des ungewöhnlichen Klappentextes angesprochen; der in Italien sehr bekannte Autor war mir bisher nicht geläufig. Das war mal wieder ein richtiger Glücksfund. Was für ein schönes Büchlein. Der Bildhauer, der ebenso wie alle anderen Figuren im Roman namenlos bleibt, erzählt aus der Ich-Perspektive. Die respektvolle, fast ehrfürchtige Kontaktaufnahme mit dem Gekreuzigten, mit dem Kunstwerk eines anderen, bereits verstorbenen Bildhauers, ist außergewöhnlich dargestellt. Er geht bis zur Schmerzgrenze, will die Situation so gut wie möglich nachempfinden, um der Darstellung gerecht zu werden - von Körper zu Körper. Indem der Mann die Statue regelrecht erforscht, wie er auch die Berge erforscht hat, nähert er sich ebenso der Religion an. Durch den Kontakt zu einem Rabbiner und einem algerischer Moslem, zieht er über den Gekreuzigten geschickt Verbindungslinien von einer Region zur anderen. Er, der vorher keinen Kontakt zur Religion hatte, steht jetzt im Zentrum von drei Religionen.

Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Eine klare Sprache, kurze Sätze und eine wirklich ungewöhnliche Geschichte, die von Religion, Philosophie und Menschlichkeit handelt.

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Veröffentlicht am 22.09.2023

Mikrokosmos Harlem

Die Regeln des Spiels
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Im zweiten Teil seiner Harlem-Trilogie begegnen wir vertrauten und lieb gewonnenen Figuren aus Harlem Shuffle wieder. Mehr oder weniger im Zentrum steht erneut Ray Carney, der sympathische Familienvater ...

Im zweiten Teil seiner Harlem-Trilogie begegnen wir vertrauten und lieb gewonnenen Figuren aus Harlem Shuffle wieder. Mehr oder weniger im Zentrum steht erneut Ray Carney, der sympathische Familienvater und Möbelhändler, der inmitten des kriminellen Chaos von Harlem in den 1970er Jahren nur eins will: mit seiner Familie gut über die Runden kommen. Aber man lässt ihn einfach nicht. Seine frühere Verbindung zu Munson, einem korrupten Cop, sorgt dafür, dass er schneller wieder in kriminelle Machenschaften verwickelt ist, als er bis drei zählen kann.

Die eigentliche Hauptfigur des Romans ist aber wieder der New Yorker Stadtteil Harlem, das Zentrum der afroamerikanischen Kultur. Allerdings werden wir gemeinsam mit Ray und seinem alten Kumpel Pepper Zeuge, wie Harlem langsam vor die Hunde geht. Kriminalität, Armut, Brände und Korruption auf allen Ebenen hinterlassen tiefe Narben in der Stadt und den Menschen. Whitehead nähert sich aus verschiedenen Perspektiven diesem Elend, über Ray/Munson, über einen Film, der in Harlem gedreht wird (u.a. in Rays Möbelgeschäft) und über die Korruption in städtischen Behörden gepaart mit einem unsinnigen Sanierungsprojekt. Dabei bedient sich der Autor eines besonderen Schreibstils, der viel Aufmerksamkeit erfordert und zudem voller trockenen Humors steckt. Ständig wechselt Whitehead zwischen Personen und Begebenheiten, erläutert Vergangenes und zieht Verbindungslinien kurz und quer durch den Stadtteil, dass einem schwindelig werden kann. Ein bisschen hat es mich an "Berlin Alexanderplatz" von Döblin erinnert, der die Stadt durch seine Montagetechnik zum Leben erweckt und zum Gegner des Helden macht. Wie der Titel schon sagt, muss man sich in Harlem an die Spielregeln halten, sonst geht man unter.

Mir hat das Buch sehr gut gefallen, es kommt aber nicht ganz an Harlem Shuffle heran. Es können hier nur ein paar der spannenden und signifikanten Themen erwähnt werden, die im Roman eine Rolle spielen: Black Panthers, Black Liberation Army, Knapp-Kommission, Frank Serpico, Blaxploitation-Horrorfilme, Jackson Five, warme Sanierungen, korrupte Politiker, Rassentrennung und Polizeigewalt. Wieder gibt es drei Hauptteile, die jeweils mit ein paar Jahren Abstand die Handlung weiterführen und immer bestimmte Blickwinkel auf Harlem haben. Insgesamt verfolgen wir die Vorgänge von 1971 bis 1976. Das Ende des Romans macht absolut neugierig auf den letzten Teil. Ein starkes und gleichzeitig unterhaltsames Stück amerikanische Geschichte.

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Veröffentlicht am 20.09.2023

Von Kleinen Dinge

Kleine Dinge wie diese
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Es braucht nicht viel, um alles zu verlieren. Dessen ist sich auch Bill Furlong bewusst, der als Kohle- und Holzhändler mit seiner Frau und fünf gut geratenen Töchtern ein zufriedenes und glückliches Leben ...

Es braucht nicht viel, um alles zu verlieren. Dessen ist sich auch Bill Furlong bewusst, der als Kohle- und Holzhändler mit seiner Frau und fünf gut geratenen Töchtern ein zufriedenes und glückliches Leben in Irland führt. Wir schreiben das Jahr 1985, es ist kurz vor Weihnachten und Furlong liefert die letzten Bestellungen vor dem Fest aus. Eine dieser Lieferungen ist für das örtliche Konvent bestimmt, bekannt und bliebt wegen seiner außerordentlich guten Wäscherei. Furlong sieht hier aber nicht nur die saubere Wäsche ...

In einer kleinen Geschichte von gerade mal 114 Seiten gelingt es der Autorin in einer ruhigen, gradlinigen und zurückhaltenden Sprache ein trauriges Kapitel der irischen Geschichte großartig zu thematisieren. Die Misshandlung und Ausbeutung von tausenden von Frauen und Mädchen, die durchgeführten Zwangsadoptionen von den in den Magdalenen-Heimen geborenen Kindern, das alles wird nur angerissen und angedeutet. Die Not und das Elend werden dennoch deutlich. Im Zentrum steht Furlong, selbst ohne Vater aufgewachsen und möglicherweise nur durch die Unterstützung einer freundlichen älteren Dame gemeinsam mit seiner Mutter dem Schicksal entkommen, ebenfalls in einem solchen Heim geboren zu werden. Die eher düstere Gesamtstimmung des Buches drückt auch auf Furlong, der sich entscheiden muss, ob er sich gegen das mächtige Konvent stellt, das übrigens auch die einzige gute Schule des Ortes unterhält, die bereits drei seiner Töchter besuchen, oder ob er wegschaut.

Durch einzelne kleine Sätze wird auf schreckliche Art deutlich, wie schlecht es denen geht, die nicht in gesicherten Verhältnissen leben: "And early one morning, Furlong had seen a young schoolboy drinking the milk out of the cat`s bowl behind the priest's House." (S. 13) Der Schreibstil hat mir sehr gut gefallen und ich habe an Kurzgeschichten von Kate Chopin denken müssen.

Ein wertvolles kleines Buch mit einer großen Botschaft.

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Veröffentlicht am 07.05.2023

Ein etwas anderes Ferienlager

Wolf
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Mir war Saša Stanišić ("Herkunft") bisher nicht als Kinderbuchautor bekannt, umso mehr hat mich diese Neuerscheinung interessiert:
Mit einem vorlauten und gewitzten, dennoch eher einsamen jungen Mann ...

Mir war Saša Stanišić ("Herkunft") bisher nicht als Kinderbuchautor bekannt, umso mehr hat mich diese Neuerscheinung interessiert:
Mit einem vorlauten und gewitzten, dennoch eher einsamen jungen Mann begeben wir uns in das Abenteuer Ferienlager im Wald. Dort teilt sich der namenlose Erzähler eine Hütte mit seinem Klassenkameraden Jörg, der ebenso Einzelgänger ist und ständig von Marko und seinem Gefolge drangsaliert wird: Den Zwillingen Dreschke 1 und Dreschke 2, das klingt allein schon nach Kloppe auf dem Schulhof.
In weiten Teilen als Innenschau des Ich-Erzählers geschildert, geht die Geschichte ihren typischen Ferienlager-Gang vom Pflanzenbestimmen, über den Kletterwald bis zur Nachtwanderung.
Die Gruppe der Kinder, die in der Handlung auftreten, bleibt übersichtlich, fast ebensoviele Betreuer, inklusive Koch, werden zum Leben erweckt. Das gelingt dem Autor sehr gut. Man kann die verschiedenen Charaktere direkt vor sich sehen und das sind schon ganz besondere Typen.
Beeindruckend ist aber der Ich-Erzähler, der uns einen schonungslosen Blick in seine Gefühlswelt gestattet, die durch die erzwungene Gemeinschaft kräftig auf- und durchgerüttelt wird. Nach und nach wird er mutiger und ergreift erst still im Innern und dann auch laut für Jörg Partei.
Es hat Spaß gemacht das Buch (vor)zu lesen. Die Sprache ist peppig, ironisch und witzig. Kurze Sätze und treffende Gedanken, oft auch philosophisch angehaucht, die einen zum Nachdenken bringen. Die knappen Aussagen machen die Geschichte schnell und frech.
Auch mein Sohn (10) hat dem Buch gerne zugehört und beide fanden wir die Bilder, ganz in schwarz und gelb gehalten, sehr passen. Das ist optisch wirklich gelungen. Ich glaube, mit dem Wolf und dem Hirschen hatte mein Sohn ein bisschen zu kämpfen, weil sie nicht real waren, sondern nur in der Vorstellung des Ich-Erzählers existieren und für seine Gefühlswelt stehen.
Ein wirklich schönes Jugendbuch mit einem alten Thema, das aber deswegen nicht weniger aktuell ist und hier sehr schön modern daherkommt.

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