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Veröffentlicht am 10.11.2022

Brennpunkt Berlin: Zwischen Studentenunruhen und Spionage

Kinder des Aufbruchs
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Endlich geht mit "Kinder des Aufbruchs" die Geschichte um die Zwillinge Alice und Emma weiter.

Nachdem in "Kinder ihrer Zeit" die Flucht aus Ostpreußen nach Berlin, die Trennung der Zwillinge, der Mauerbau ...

Endlich geht mit "Kinder des Aufbruchs" die Geschichte um die Zwillinge Alice und Emma weiter.

Nachdem in "Kinder ihrer Zeit" die Flucht aus Ostpreußen nach Berlin, die Trennung der Zwillinge, der Mauerbau und schließlich die geglückte Flucht nach West-Berlin 1961 im Zentrum standen, sind nun sechs Jahre vergangen. Alice und Emma leben immer noch in Berlin. Emma arbeitet weiterhin als Dolmetscherin und hat Kontakt in hohe politische Kreise. Alice ist mittlerweile Journalistin und berichtet erschüttert über das brutale Vorgehen der Polizei gegen die Studentinnen und Studenten in Berlin 1967. Vor dem Hintergrund der Unruhen werden die Schwestern mit ihrer Vergangenheit konfrontiert und alte Bekannte aus der DDR tauchen auf und suchen den Kontakt zu ihnen. Zu ihnen gehört die Sängerin Irma Assmann, die früher für den KGB spioniert hat. Langsam baut sich ein Geflecht aus Schuld, Misstrauen und Angst auf. Zudem wird Alice in eine Fluchtvorbereitung verwickelt und Emma fühlt sich einem verängstigten Heimkind verpflichtet, das sie mit der Zeit mehr als lieb gewinnt. Dann geschieht ein Mord und Stasi und BND scheinen ihre Hände im Spiel zu haben.

Claire Winter hat mit dem zweiten Teil um Emma und Alice wieder einen tollen Schmöker vorgelegt, der genau richtig ist, um es sich damit auf dem Sofa für ein paar Stunden gemütlich zu machen und alles um sich herum zu vergessen. "Kinder des Aufbruchs" kann problemlos ohne Kenntnis des ersten Teils gelesen werden.

Wieder wird eine ausgefeilte fiktive Handlung in historische Ereignisse eingebunden und so eine überaus spannende und auch informative Geschichte gezaubert. Mit der bewegten Zeit von Schah-Besuch, Studentenunruhen, dem Tod von Benno Ohnesorg, den Protesten gegen die Allmacht des Springerkonzerns und der gespannten Lage zwischen Ost- und West-Berlin, hat die Autorin erneut einen überaus dramatischen Rahmen für ihre Geschichte gewählt. Die historischen Ereignisse sind hervorragend recherchiert und wunderbar aufbereitet, so dass sich die fiktive Handlung nahtlos einfügt. Das Berlin Ende der 1960er Jahre wird ganz wunderbar eingefangen. Der Schreibstil ist wie gewohnt sehr flott und leicht zu lesen, sehr bildhaft und die Geschichte ist von Beginn an spannend. Bis zum Ende wird die Spannungskurve aufrechterhalten, erst kurz vor Schluss laufen alle Fäden zusammen.

Die letzten Seiten hätten gerne noch etwas ausführlicher sein können, da ist für mich eine Leerstelle geblieben. Im Vergleich zum Rest des Buches, ging es etwas rasch zu Ende. Allerdings hat gerade diese Leerstelle das Potenzial für einen weiteren Roman.

Ich kann "Kinder des Aufbruchs" nur empfehlen, ein klasse Unterhaltungsroman mit Anspruch, der durch den lockeren und bildhaften Schreibstil, den Spannungsbogen und die eindrucksvolle Recherchearbeit besticht, die die Autorin nicht nur in das Archiv des Springerkonzerns, sondern auch in einen alten Fluchttunnel geführt hat. Das Nachwort von Claire Winter informiert ausführlich für die im Roman vorkommenden historischen Ereignisse.

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Veröffentlicht am 08.11.2022

Liebe zwischen Sozialismus und Solidarność

Im Wasser sind wir schwerelos
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Während eines Ernteeinsatzes lernen sie sich kennen, Ludwik und Janusz, gerade fertig mit der Uni und nun auf dem Feld, um Rote Beete auszugraben. Ihr obligatorischer Beitrag zum Sozialismus in Polen 1980. ...

Während eines Ernteeinsatzes lernen sie sich kennen, Ludwik und Janusz, gerade fertig mit der Uni und nun auf dem Feld, um Rote Beete auszugraben. Ihr obligatorischer Beitrag zum Sozialismus in Polen 1980. Ludwik hat das marode Regime satt und auch in seinem Umfeld äußern sich immer wieder Kritiker*innen. Aber durch Janusz treten diese Empfindungen zunächst in den Hintergrund. Ludwik, der sich schon als Neunjähriger zu einem anderen Jungen hingezogen fühlte und als Jugendlicher einen einschlägigen Park aufgesucht hat, verliebt sich fast augenblicklich. Im Anschluss an den Arbeitsdienst zelten die beiden einige Zeit an einem See, fern von allen Zwängen. Zurück in Moskau werden sie durch den Druck von Regime und Gesellschaft und der um sich greifenden Hoffnungslosigkeit auf eine gemeinsame und selbstbestimmte Zukunft eingeengt. Ludwik möchte in den Westen gehen, Janusz hingegen hat durch Beziehungen die Möglichkeit, ein besseres Leben als die meisten zu führen. Er möchte das Land nicht verlassen.

Die Handlung wird in Rückblicken aus der Sicht Ludwiks erzählt, der sich in Amerika befindet und sich an die Ereignisse im zurückliegenden Jahr erinnert. Wunderbar ruhig schildert Jedrowski die Liebe zwischen den beiden jungen Männern, die durch die gemeinsame Lektüre von "Giovannis Zimmer" von James Baldwin vertieft wird. Es gibt Parallelen in den Geschichten, aber Jedrowskis Protagonisten sind sympathisch, lebendig und bewegen sich in einer Aufbruchsstimmung. Anders als Baldwin zeigt Jedrowski einfühlsame und zarte Seiten an seinen Figuren. Allerdings spielt auch hier das Thema Scham eine ganz große Rolle. "Ich trug mein Anderssein und meine Scham im Inneren verborgen." (S. 104)

Man hofft so sehr auf einen guten Ausgang der Handlung. Die Situation im Land ist eindrücklich und griffig wiedergegeben, das Schlangestehen, die Nahrungsmittelknappheit, die schlechte ärztliche Versorgung und dann wieder der Überfluss auf der Seite der Privilegierten. Die Handlung ist durchweg interessant, es passiert ständig etwas und man fiebert mit. Der Schreibstil hat mir sehr gut gefallen und die Geschichte hatte ich schnell gelesen. Am Ende bleibt zumindest Hoffnung.

Eine klare Leseempfehlung für dieses schmale Büchlein von 220 Seiten.


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Veröffentlicht am 13.10.2022

Medizinstudent zwischen Kosaken und Husaren

Der Wintersoldat
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Gegen den Willen seiner wohlhabenden polnischstämmigen Familie beginnt Lucius ein Medizinstudium in seiner Heimatstadt Wien. Als 1914 der erste Weltkrieg ausbricht, sieht Lucius seine Chance, dem ungeliebten ...

Gegen den Willen seiner wohlhabenden polnischstämmigen Familie beginnt Lucius ein Medizinstudium in seiner Heimatstadt Wien. Als 1914 der erste Weltkrieg ausbricht, sieht Lucius seine Chance, dem ungeliebten theoretischen Studium zu entkommen und endlich praktische Arbeit leisten zu können. Als er nach einigen Umwegen sein Ziel in Galizien, dem östlichen Teil des österreichisch-ungarischen Kaiserreichs, erreicht, sieht er sich mit einem Behelfslazarett in einer Kirche konfrontiert und er, der die Medizin lediglich aus Büchern kennengelernt hat, ist der einzige Arzt. Läuse, verantwortlich für Typhusepidemien, Ratten, und Amputationen, die durch Wundinfektionen nötig werden sowie psychische Leiden bestimmen fortan sein Leben als Mediziner. Durch die praktische Hilfe der erfahrenen Schwester Margarete gelingt es Lucius bald, eine Art Routine zu entwicklen. Besonders die erfolgreiche Behandlung eines Patienten mit Nervenleiden bringt Lucius Auftrieb, bis ein Rekrutierungskommando nach wieder wehrfähigen Soldaten sucht. Lucius trifft eine folgenschwere Entscheidung. In einer nebeligen Nacht verliert er zudem Margarete aus den Augen und in Galizien steht die Brussilow-Offensive bevor.

Daniel Mason hat einen unglaublich eindrucksvollen Roman über die Schrecken des Krieges geschrieben. Schonungslos werden die desolaten Zustände an der Front beschrieben, der grausame Umgang mit dem "Kriegsmaterial" Mensch, die unzureichende Ausrüstung der Soldaten, der fehlende Nachschub an medizinischer Ausstattung, die Planlosigkeit der militärischen Aktionen und vor allem die Sinnlosigkeit des Kriegs. Der Autor versteht es geschickt, bereits während der geschilderten Studienzeit in Wien die nicht mehr zeitgemäße, wirklichkeitsferne und in Selbstherrlichkeit versunkene Obrigkeit darzustellen; bestes Beispiel ist Professor Zimmer.

Wie Lucius buchstäblich in den Krieg stolpert und wie die Hässlichkeit des Krieges ihn in vielen kleinen Episoden durch die Jahre begleitet, ist wirklich gut geschrieben und lesenswert. Man sollte allerdings nicht zu zart besaitet sein, denn die Behandlung von verwundeten Soldaten nimmt einen nicht unerheblichen Raum ein. Es gibt aber auch viele feinfühlige Kontrastszenen, in denen die Landschaft oder die zarte Beziehung zwischen Lucius und Margarete im Zentrum stehen. Die Abgeschlossenheit des kleinen Ortes in den Karpaten und die kleine Gruppe von Menschen, die sich um die Verletzten bemüht, sind einerseits repräsentative Figuren, andererseits haben sie aber auch ganz besondere Biographien erhalten. Die Örtlichkeit, die Figur des unerfahrenen Lucius und die beherrschenden Themen Krankheit und Tod haben mich ein klein wenig an Manns "Zauberberg" erinnert. Zeitlich überschneiden sich die Romane, wo der "Zauberberg" endet, beginnt der "Wintersoldat", nämlich mit dem 1. Weltkrieg und dem Zerfall der alten Ordnung.

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Veröffentlicht am 13.10.2022

Warmherziger und rührender Roman

Ein Baum wächst in Brooklyn
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Auf nichts freut sich die 11-jährige Francie mehr, als auf den Samstag in Brooklyn. Er verspricht so viel wundervolle Freuden, dass die ersten 70 Steiten des Romans nur einen Samstagnachmittag im Jahre ...

Auf nichts freut sich die 11-jährige Francie mehr, als auf den Samstag in Brooklyn. Er verspricht so viel wundervolle Freuden, dass die ersten 70 Steiten des Romans nur einen Samstagnachmittag im Jahre 1912 beschreiben. Mit der Begeisterungsfähigkeit und uneingeschränkten Liebe, wie sie nur ein Kind empfinden kann, wird jedes Ritual, jede Kleinigkeit beschrieben und plötzlich steht man mitten in Brooklyn. Geräusche, Gerüche und das ganze bunte Treiben auf der Straße, den Hinterhöfen und Geschäften, die Jagd nach jedem Penny, den der Trödler herausrückt und die wohlüberlegte Umsetzung des Ertrages in Süßigkeiten ziehen die Leser hinein in eine wunderschöne Geschichte.

Francie wächst in bitterer Armut auf, oft genug müssen sie und ihr Familie hungern und frieren. Die Zuversicht verläßt sie jedoch nicht, allem kann sie noch etwas Gutes abgewinnen, selbst dem trunksüchtigen Vater und den Erniedrigungen und Ungerechtigkeiten in der Schule. Sie hat ein Ziel, das sie nicht aus den Augen verliert: Eines Tages möchte sie Schriftstellerin werden.

"Aber Armut, Hunger und Trunkenheit sind doch hässliche Themen. Wir alle wissen ja, dass es das gibt. Aber man schreibt doch nicht darüber." (S. 406), urteilt die Englischlehrerin über Francies Aufsätze. Doch genau darüber schreiben Francie und Betty Smith und das so warmherzig, anrührend und liebevoll, dass man diesen Roman einfach lieben muss.

Überbordend an Beobachtungen, Situationsbeschreibungen und Ideen läßt der Roman uns teilhaben an Francies Weg ins Erwachsenenleben. Eine Geschichte die Mut macht, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren und eindrücklich versinnbildlicht durch den Baum, der sich aus dem Schutt der Hinterhöfe in die Sonne reckt und wächst und wächst.

Riesige Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 13.10.2022

Die Nase im Wind

Logbuch der Leidenschaft
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Ein U-Boot-Kommandant segelt 1949 eine Yacht von Brake über den Atlantik nach Brasilien, vorbei an den Nordsee-Minen des 2. Weltkrieges. Ein amerikanischer Schriftsteller läßt sich eine 57-Fuß-Yacht bauen, ...

Ein U-Boot-Kommandant segelt 1949 eine Yacht von Brake über den Atlantik nach Brasilien, vorbei an den Nordsee-Minen des 2. Weltkrieges. Ein amerikanischer Schriftsteller läßt sich eine 57-Fuß-Yacht bauen, die statt der veranschlagten 7.000 Dollar dann doch stattliche 30.000 Dollar kostet, und sticht damit 1907 von San Francisco aus in See; mit an Bord sind nicht nur seine Schreibmaschine, sondern auch ein Grammophon und 500 Bücher. Dann gibt es da diese kleine Jolle, gerade mal 4,83 Meter lang und 1,85 Meter breit, ohne Unterschlupft, die 1963 mit zwei Mann Besatzung eine Strecke von 650 Meilen über den Nordatlantik zurücklegt, durch einen Orkan, der seinesgleichen sucht. Ein junger Franzose zerlegt den Rekord seines Vorgängers, indem er 2017 mit seinem 30 Meter langen Trimaran in 42 Tagen um die Welt segelt. Er schafft die 50.000 Kilometer unfassbare 6 Tage und 10 Stunden schneller, mit einem 15-köpfigen Team im Hintergrund und haufenweise moderner Technik. Die Apollo-Missionen standen gar Pate für eine Reparaturmethode.

Na, neugierig geworden?

Nicht nur für Segelfans hat Autor Marc Bielefeld hier 15 abenteuerliche Geschichten zusammengestellt, die von einer unbedingten Passion für das Wasser und das Segeln handeln. Obwohl es natürlich nicht ohne Fachvokabular geht, lassen sich die Reportagen auch ohne Segelkenntnisse hervorragend lesen. Der Autor versteht es, voller Emotionen die Leidenschaft zu vermitteln, die für die oft waghalsigen Segeltörns notwenig war. Alles andere als sachlich formuliert Bielefeld seine Texte, jede Geschichte für sich ein "dolles Ding". Besonders gut hat mir die Mischung gefallen, quer durch die Jahrhunderte, winzige Jollen und "hochnervöse Segelmonster": Männer auf der Jagd nach Rekorden und solche, die kurz vor dem Ziel lieber abdrehen; Frauen, die per Anhalter um die Welt segeln oder Armenspeisung betreiben.

Abgerundet wird das "Logbuch der Leidenschaft" durch Fotos zu jedem Beitrag in der Mitte des Buches. Das Inhaltsverzeichnis bietet gleichzeitig jeweils einen kurzen Abriss der einzelnen Reportagen. Die Literaturangaben enthalten einiges, das ich zusätzlich lesen werde, um mehr über einzelne Segelpersönlichkeiten zu erfahren.

Im August habe ich auf der Segelyacht von Freunden übernachtet. Ein 44 Fuß langes Boot aus den 1920er Jahren, eine Ketsch aus Teakholz. In der Wandkoje kam ich mir vor wie in einem Sarg und nun weiß ich, dass diese Rohrkojen tatsächlich so heißen: Coffin Bank, Sargkoje.

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