Profilbild von EmmaWinter

EmmaWinter

Lesejury Star
offline

EmmaWinter ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit EmmaWinter über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 24.02.2024

Zwischen Tageszeitungen und Zigarren

Der Trafikant
0

Franz Huchel lebt mit seiner Mutter im Salzkammergut. Als sich die wirtschaftlichen Verhältnisse verschlechtern, schickt die Mutter ihn nach Wien zu Otto Trsnjek, der eine Trafik betreibt, einen kleinen ...

Franz Huchel lebt mit seiner Mutter im Salzkammergut. Als sich die wirtschaftlichen Verhältnisse verschlechtern, schickt die Mutter ihn nach Wien zu Otto Trsnjek, der eine Trafik betreibt, einen kleinen Tabak- und Zeitungsladen. Dort wird der 17-Jährige zum Lehrling und eignet sich schnell an, was er für die Stammkundschaft wissen muss: Was in welcher Zeitung steht und die jeweiligen Vorzüge der verschiedenen Tabaksorten. Er begegnet Professor Freud und verliebt sich in ein undurchsichtiges Mädchen, das ihn nach der ersten Begegnung sitzen lässt. Seine verwirrenden Gefühle versucht er mit Hilfe des Arztes und Psychologen Freud zu ordnen. Was sich im Hintergrund anbahnte, bricht nun brutal in die kleine Idylle der Trafik ein: Im März 1938 marschieren deutsche Wehrmachtstruppen in Österreich ein.

Ein sehr berührendes Buch über einen Jungen vom Land, der in der Großstadt seine Unschuld verliert - auf unterschiedliche Weise. "Und plötzlich wurde ihm bewusst, dass es diesen Buden nicht mehr gab. Weg war der." (S. 236) In diesem Roman wird viel gesprochen und geschrieben. Franzl diskutiert mit seinem Chef und mit Freud, schreibt der Mutter und erhält Antworten von ihr. Das war mir stellenweise etwas zu viel "Theorie", dennoch ist der Roman nicht dialoglastig. Die Handlung schreitet voran und entlarvt dabei immer mehr, dass weite Teile der Bevölkerung den "Anschluss" befürworteten und den unverhohlenen Terror, der sich auf den Straßen breit macht. Die kleine Trafik und ihr Trafikant stehen zunächst für einen Ort, der Weltoffenheit repräsentiert, mit den verschiedenen Tageszeitungen, Meinungen und dem so unterschiedlichen Publikum; später zentriertes es sich symbolisch auf ein kleines Bollwerk. Gab es zwischendrin kleine zähe Stellen, hat mich das Ende wieder komplett versöhnt.

Die Sprache von Seethaler lässt einen durch die Seiten gleiten und unversehens ist die eindringliche Geschichte nach 250 Seiten zu Ende. Ein Roman, den ich sehr empfehlen kann.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 13.02.2024

Die perfekte Nanny

Dann schlaf auch du
0

Wer träumt nicht davon, dass die perfekte Nanny sich nicht nur liebevoll um die Kinder kümmert, sondern auch noch kocht und die Wohnung tipptopp in Schuss hält. Mit Louise glauben Myriam und Paul einen ...

Wer träumt nicht davon, dass die perfekte Nanny sich nicht nur liebevoll um die Kinder kümmert, sondern auch noch kocht und die Wohnung tipptopp in Schuss hält. Mit Louise glauben Myriam und Paul einen Sechser im Lotto gewonnen zu haben. Die Nounou ist immer verfügbar und Myriam kann sich nach zwei Kindern endlich in ihren Beruf als Anwältin stürzen; sieht bereits eine Partnerschaft in der Kanzlei winken. Sie entwickelt neue Energie und ein neues Selbstbewusstsein, das ihr als "Nur-"Mutter völlig abhanden gekommen war. Nun können beide Elternteile voll durchstarten, denn die überaus verlässliche Louise hat alles im Griff. Auch Paul fühlt sich unabhängiger, freier und trifft wagemutigere Entscheidungen, die ihn in seinem Job voranbringen.

Bereits im ersten Satz des Romans erfährt man, was es für ein Ende mit dieser Konstellation nehmen wird. Mit diesem Wissen im Hinterkopf liest man das Buch fast atemlos und hofft irgendwie, dass es doch anders kommen wird.

Slimani läßt uns nicht nur in die Seele von Myriam schauen, die zwischen ihren Muttergefühlen und ihrem Wunsch nach Anerkennung und beruflichem Erfolg hin und her gerissen wird. Auch Louise lernen wir immer näher kennen, durchbrechen die glatte Oberfläche und die Mauern der Unsichtbarkeit, die sie um sich errichtet hat, und blicken in einen Abgrund.

Der Roman hat mich sehr bewegt und wirklich heftig durchgeschüttelt. Es sind bekannte Themen, die hier angesprochen werden, das Muttersein, die Zerrissenheit mit der man/frau zu kämpfen hat, die Erkenntnis, dass sich mit Kindern eben doch alles ändert und Eltern ständig jonglieren, um alle Bälle in der Luft zu halten. Wie Slimani diese Aspekte zusammenbringt, mit den Charakteren Myriam und Louise, ist großartig gelungen. Der Roman liest sich Dank des Schreibstils, der ganz eng bei den Figuren bleibt, sehr bildhaft und man meint, in der Pariser Wohnung selbst mit am Küchentisch zu sitzen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 13.02.2024

Der David Copperfield des 21. Jahrhunderts

Demon Copperhead
1

Was für ein Wurf! Hier erzählt Demon seine Lebensgeschichte und die hat es weiß Gott in sich. Die Handlung wird konsequent aus Demons Sicht erzählt, rückblickend, was einerseits bedeutet, dass er alles ...

Was für ein Wurf! Hier erzählt Demon seine Lebensgeschichte und die hat es weiß Gott in sich. Die Handlung wird konsequent aus Demons Sicht erzählt, rückblickend, was einerseits bedeutet, dass er alles mit seinen kindlichen Augen sieht, andererseits natürlich als nun Erwachsener auch kommentieren kann. Die Geschichte des Waisenjungen, dem das Schicksal übel mitspielt, bleibt so dicht an Dickens Vorlage, dass es fast unglaublich erscheint, dass es dennoch eine so eindrucksvolle, intensive, eigene Geschichte ist - eingebunden in das 21. Jahrhundert im ländlichen Virginia mit allem Elend, das man sich vorstellen kann. Nicht nur zahlreiche Charaktere sind nahezu identisch angelegt, die Namen, Beziehungen, selbst kleinste Ereignisse werden "übernommen". Die Autorin spielt mit ihrer Vorlage, dass es eine Freude ist. Dass beide Romane 64 Kapitel haben, ist da nur das Tüpfelchen auf i. Die Adaption funktioniert so unglaublich gut, ich bin noch ganz hin und weg von diesem Roman. Als neuen Aspekt hat die Autorin die Opioidkrise (seit 1999), die in den USA besonders durch das Schmerzmittel Oxycontin ausgelöst wurde, hinzugenommen. Was da passiert ist, ist im wahrsten Sinne des Wortes unglaublich. Das Ergebnis läßt sich so zusammenfassen: "Eine ganze Generation von Kindern wuchs ohne Familie auf." (S. 809) Ganz entscheidend wirkt sich diese Krise auch auf die Handlung des Romans und das Schicksal von Demon und seinen Weggefährten aus. Der Autorin war es ein Anliegen, für ihre Heimatregion eine Lanze zu brechen, deren Einwohner*innen als Hillbillies verschrien sind. Was die Opioidkrise gerade in diesem Landstrich angerichtet hat, ist schlicht furchtbar.

Der Roman liest sich ganz wunderbar. Die Stimme des Ich-Erzählers Demon ist witzig, ironisch, schlagfertig, originell und aufgeweckt. Wer David Copperfield kennt, wird begeistert sein und die, die das Buch von 1849/50 bisher nicht gelesen haben, werden es ebenso sein. Eine erschütternde (soziale Missstände, Pflegeelternsystem, Kinderarbeit, Drogen) und gleichzeitig auf humorvolle Weise unterhaltende Lektüre, die mich mit einem Aspekt in der US-Gesellschaft, nämlich der Opioid-Krise, vertraut gemacht hat, die ich bisher so nicht wahrgenommen hatte.

Sehr zu empfehlen ist nicht nur dieser großartige mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Roman, sondern auch die Serie "Painkiller" auf Netflix, die sich genau mit dieser Krise und dem Mittel Oxycontin beschäftigt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 11.02.2024

Colorism trennt hellhäutige Zwillinge - Ein starker Roman

Die verschwindende Hälfte
0

Vor zehn Jahren ist Desiree mit ihrer Zwillingsschwester Stella aus ihrem kleinen Dorf Mallard in Louisiana über Nacht getürmt. 1968 ist sie wieder zurück und sorgt für Aufsehen. In das Örtchen, im dem ...

Vor zehn Jahren ist Desiree mit ihrer Zwillingsschwester Stella aus ihrem kleinen Dorf Mallard in Louisiana über Nacht getürmt. 1968 ist sie wieder zurück und sorgt für Aufsehen. In das Örtchen, im dem alle Schwarzen fast weiß aussehen und stolz darauf sind, bringt sie ihre Tochter mit und die ist "rabenschwarz" (S. 9). Zu Stella hat sie keinen Kontakt mehr, denn in New Orleans, wohin die beiden gegangen waren, ist sie plötzlich verschwunden. Untergetaucht in eine Welt, die nicht ihre ist, in die Welt der Weißen.

Was für eine Geschichte! In sechs Kapiteln folgen wir neugierig und gefesselt den Lebensläufen der Zwillinge, die sich so unterschiedlich entwickelt haben. Die Autorin läßt die Handlung ständig um die Fragen kreisen, wer bin ich? Wer will ich sein und wer kann ich sein? Was bedeutet es Schwarz zu sein und was bedeutet es, eine weiße oder hellere Hautfarbe zu haben? Als "Colorism" bezeichnet man die Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe, die sich auch innerhalb einer Community zeigen kann, eben wie im fiktiven Mallard. Unglaublich intensiv zeigt die Geschichte auf, wie "Colorism" die Charaktere in ihrem Denken und ihrem Handeln beeinflusst. Da passt der (mehrdeutige) Titel des Romans so hervorragend! Die Handlung regt auf so vielen Ebenen, vor allem durch die Beziehungen der Personen untereinander, zum Nachdenken an. Ich bin ganz begeistert. Der Roman ist - neben seinem hohen kulturellen Wert zur Black Lives Matter-Bewegung - auch noch spannend und unterhaltsam geschrieben. Dadurch, dass die Handlung nicht durchgängig chronologisch erzählt wird, gibt es immer wieder überraschende oder aufschlussreiche Informationen, die das Geschehene komplettieren. Ich kann das Buch nur wärmstens empfehlen. Es sensibilisiert und informiert und wird mich noch lange beschäftigen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 12.01.2024

Der Eifeler Pockenkarneval

Monschau
0

Der pensionierte Hauptkommissar Harald Uteng ist endlich bereit, in einem Krimipodcast über einen seiner alten Fälle zu sprechen. Gerade ist die erste Folge aufgenommen, da ist Uteng auch schon tot. Alles ...

Der pensionierte Hauptkommissar Harald Uteng ist endlich bereit, in einem Krimipodcast über einen seiner alten Fälle zu sprechen. Gerade ist die erste Folge aufgenommen, da ist Uteng auch schon tot. Alles sieht nach einem Unfall aus, denn der Pensionär hat ganz gerne mal einen Schluck getrunken. Anton Brekke, Kommissar in Oslo, läßt dieser Tod jedoch keine Ruhe. Hat vielleicht alles mit dem alten Fall von 1991 zu tun, in dem er selbst ermittelt hat? Der Mörder der 17-jährigen Malin wurde jedoch verurteilt, denn die Beweise waren erdrückend. Der kleine Ort Aremark wird nun nochmals erschüttert.

Die Handlung wird auf zwei Zeitebenen erzählt. Die aktuellen Ermittlungen wechseln sich mit den Ereignissen von 1991 ab. Wir lernen die jeweiligen Akteure des Dorfes kennen und wissen bereits, dass hier irgendwo mindestens noch ein Täter unterwegs sein muss. In kurzen Kapiteln wird die Geschichte schnell vorangetrieben. Die Handlung ist gespickt mit Verdächtigen und unheimlichen Momenten. Kommissar Brekke ist jedoch kein auffälliger Charakter und beherrscht deswegen den Roman auch nicht, er bleibt ein wenig blass. Der Thriller liest sich sehr gut, man ist schnell mitten im Geschehen und verfolgt, wie sich Spuren ergeben und wieder im Sande verlaufen.

Insgesamt ein solider Thriller, der alle erforderlichen Kriterien erfüllt. Es gibt zahlreiche Fährten und man ist nie ganz sicher, ob man jetzt auf das "richtige Pferd" gesetzt hat oder nicht. Für ein absolutes Highlight reicht es jedoch nicht.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere