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Veröffentlicht am 01.05.2024

Eine Sackgasse in Manhattan

Der Platz im Leben
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Im Dezember hatte ich Gloria Naylors "Die Frauen vom Brewster Place" gelesen, über eine Schwarze Community in einer Sackgasse. Quindlens Roman spielt ebenfalls in einer Sackgasse, aber in der wohlhabenden ...

Im Dezember hatte ich Gloria Naylors "Die Frauen vom Brewster Place" gelesen, über eine Schwarze Community in einer Sackgasse. Quindlens Roman spielt ebenfalls in einer Sackgasse, aber in der wohlhabenden Upper West Side von Manhattan. Unterschiedlicher könnte das Setting dieser beiden Bücher nicht sein, allerdings ist die Sackgasse bezeichnend für beide Romane.

Nora Nolan ist Geschäftsführerin eines kleinen Museums, hat zwei erwachsene Kinder, einen liebevollen Ehemann und einen großen Freundes- und Bekanntenkreis. In ihrer kleinen abgeschotteten Welt ist der gerade erfolgte Zuschlag für einen Autostellplatz auf der Brachfläche in der Sackgasse ein absolutes Highlight für ihren Mann Charlie. Wir nehmen Teil am Leben von Nora und ihren Nachbarinnen, treten ein in das komplizierte Geflecht der Hauseigentümer untereinander, erfahren von kleinen und größeren Sorgen, hören den Klatsch der Sackgasse und der Stadt. Dieses Geflecht ist jedoch fragil. Als es eines Tages zu einem Zwischenfall auf der Straße kommt, ist dies der Auslöser für eine Kette von Veränderungen. Auch bei Nora und Charlie wird ein Prozess in Gang gesetzt, der sich nicht mehr umkehren läßt.

Ich habe den Roman sehr gerne gelesen, obwohl eigentlich nichts wirklich Aufregendes passiert. Es ist die Geschichte einer Frau Mitte 40, die beginnt über ihr Leben nachzudenken, als alles gerade perfekt scheint. Es sind eher Belanglosigkeiten und Oberflächlichkeiten, die zunächst eine Rolle spielen, dennoch war ich ganz schnell gefangen in dieser Atmosphäre der Upper West Side und im Leben von Nora. Ein bisschen wie SATC aber eher ohne S. Die Autorin kannte ich vorher nicht, aber ich werde sicherlich weitere Romane von ihr lesen.

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Veröffentlicht am 24.04.2024

Von Waschweibern und Irrziegen

Nincshof
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Erna Rohdiebl ist über 70 und kriminell veranlagt, bricht sie doch nachts in den Garten der Nachbarn ein, um dort im neuen Pool ihre Bahnen zu ziehen. Dies macht sie zur idealen Komplizin einiger Herren ...

Erna Rohdiebl ist über 70 und kriminell veranlagt, bricht sie doch nachts in den Garten der Nachbarn ein, um dort im neuen Pool ihre Bahnen zu ziehen. Dies macht sie zur idealen Komplizin einiger Herren ihres Heimatortes, die sich nichts sehnlicher wünschen, als dass das kleine Nincshof (gesprochen Ninschhof) von der Welt vergessen wird und fortan in völliger Unabhängigkeit und Freiheit existiert. In Zeiten von Internet und Smartphone ein heikles Unterfangen. Zudem stellt die Neubürgerin Isa Bachgasser, erfolgreiche Dokumentarfilmerin, die selbsternannten Oblivisten (lt. oblivisci = vergessen) vor weitere Herausforderungen.

Der kleine Ort liegt an der österreichisch-ungarischen Grenze und sein Name (nincs = nichts) ist offenbar historisch gewachsen, wie wir im Verlauf der Handlung lernen werden. Die einerseits witzige und liebenswerte, andererseits aber auch überdrehte Handlung spielt sich während eines warmen Sommers von Juni bis August ab. Da passiert im Dorf eine ganze Menge, aber auch etwas mit den Menschen. Diese persönlichen Entwicklungen haben mir sehr gefallen. Der Schreibstil der Autorin ist allerdings etwas gewöhnungsbedürftig. Wie die Handlung ist er häufig sehr humorvoll, steckt aber auch voller Wiederholungen, die als Stilmittel eingesetzt werden. Außerdem wird, wenn über die Charakter gesprochen wird, fast ausschließlich der Vorname plus Nachname verwendet und das wirklich inflationär. Es sorgt nicht unbedingt dafür, dass man sich den Figuren weniger nahe fühlt, vielmehr hat es auf mich irgendwie "ländlich" gewirkt, ruft eine gewisse Stimmung hervor. Ich kann gar nicht genau sagen warum. Einen Teil des Buches habe ich als Hörbuch gehört, sehr charmant gelesen von der Wienerin Verena Noll.

Die Handlung fand ich sehr unterhaltsam und Erna und Isa sind, bei aller Unterschiedlichkeit, zwei sehr sympathische Charaktere. Aber der Schreibstil ist schon besonders, den muss man mögen. Ich könnte mir vorstellen, dass sich hier die Geister scheiden. Wer sich auf den Roman einläßt, wird auch erfahren, welche wichtigen Rollen die Waschweiber und die Irrziegen in dieser Geschichte spielen.

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Veröffentlicht am 16.04.2024

Wenn Rehe zu Mördern werden

Gesang der Fledermäuse
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Ein wenig Respekt hatte ich schon vor meinem ersten Buch der polnischen Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk.

Wir treffen auf die bereits etwas ältere Janina Duszejko, die recht einsam in Polen ...

Ein wenig Respekt hatte ich schon vor meinem ersten Buch der polnischen Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk.

Wir treffen auf die bereits etwas ältere Janina Duszejko, die recht einsam in Polen nahe der tschechischen Grenze wohnt. Die kleine Siedlung "Luftzug" ist im Winter verwaist und Janina hütet die Häuschen der Städter, unterrichtet Englisch an einer kleinen Schule und übersetzt mit ihrem ehemaligen Schüler Dyzio jeden Freitag Texte des englischen Mystikers William Blake. Ihr Steckenpferd ist jedoch die Astrologie und so ist es für sie keine Überraschung, dass ihr Nachbar Bigfoot an einem Rehknochen erstickt ist, denn der Saturn stand dafür günstig.

In einer augenscheinlich leichten, sehr gut lesbaren Sprache, läßt die Autorin ihre Heldin Janina aus der Ich-Perspektive erzählen. Die Protagonistin überzeugt durch eine humorvolle und direkte Art, präzise Beobachtungsgabe, wunderbare Vergleiche und einer beträchtlichen Entschlossenheit und Unerschrockenheit. So ist es ihr völlig gleichgültig für "verrückt" gehalten zu werden, als sie rächende Tiere für den Tod von Bigfoot verantwortlich macht. Dies teilt sie auch in wohlformulierten Briefen der Polizei mit.

Der Klappentext fokussiert sich sehr auf den Krimi-Aspekt des Romans, es steht aber so viel mehr darin. Es ist nicht bedeutungslos, dass gerade Blake so oft zitiert wird. Hier schafft Tokarczuk viele Verweise und Anspielungen, alles wird man wohl erst beim wiederholten Lesen und nach einer intensiveren Beschäftigung mit William Blake entdecken und verstehen. Die Bedeutung der Natur, der Tiere und die zerstörerische Macht des Menschen sind zentrale Themen. So leiden wir mit Janina, wenn sie vom Steinbruch berichtet, der vielleicht irgendwann das ganze Hochplateau verschlingen wird oder von gequälten Tieren. Aber es geht auch anders: Wie die vermeintlich Schwachen sich eines Gegners erwehren, erzählt Janina am Beispiel der Krammetsvögel (Wacholderdrossel), die sich wie ein einziger Organismus bewegen und so einen Falken besiegen - indem sie geschlossen Kot auf ihn fallen lassen, der seine Flügel verklebt und ihn zur Landung zwingt. - Offenbar stehen die Sterne günstig für die Tiere, denn es bleibt nicht bei einem toten Menschen.

Ich habe das Buch sehr gerne gelesen. Eine ansprechende bildliche und doch leichte Sprache, gelegentlich durch die Begriffe der Astrologie etwas bremsend, aber immer originell und wirklich witzig. Einen eigentümlichen und liebenswerten Kosmos hat die Autorin um ihre Heldin auf dem Hochplateau "Luftzug" gestrickt.

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Veröffentlicht am 14.04.2024

Vermisst

Amissa. Die Verlorenen
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Realität: In Deutschland galten 2023 77.700 Jugendliche als vermisst, davon hatten sich bis Jahresende mehr als 75.000 Fälle wieder erlegt. Manche Vermisste bleiben aber für immer verschwunden.

Fiktion: ...

Realität: In Deutschland galten 2023 77.700 Jugendliche als vermisst, davon hatten sich bis Jahresende mehr als 75.000 Fälle wieder erlegt. Manche Vermisste bleiben aber für immer verschwunden.

Fiktion: Die Suche nach vermissten Jugendlichen hat sich die NGO Amissa auf die Fahnen geschrieben, die von einem schweizer Milliardär finanziert wird. Zu den engagierten Mitarbeitern und Mitarberinnen gehören Jan Kantzius und seine Frau Rica. (Die Charaktere haben sich in "Das Fundstück" kennengelernt und sind mittlerweile verheiratet.) Die beiden geraten auf der Autobahn in eine Massenkarambolage, die durch ein Mädchen ausgelöst wird, das in Panik über die Fahrbahn läuft und getötet wird. Mit ihr beginnt für das Ehepaar Kantzius ein neuer Fall und sie erkennen bald ein Muster, das auf weitere Opfer hinweist.

Dieser erste Teil einer neuen Serie von Frank Kodiak alias Andreas Winkelmann ist spannend aufgebaut. Kurze Kapitel und schnelle Szenenwechsel. Es gibt immer wieder Abschnitte aus Opfersicht, in denen sich die Handlung zuspitzt, so dass die Suche zu einem Wettlauf mit der Zeit wird. Um die Dramatik zu steigern, werden die Leser lange im Dunkeln gelassen, um welches Opfer es eigentlich geht, denn es wird kein Name genannt. Insgesamt ein solider typischer Winkelmann/Kodiak-Thriller. Fies und auch brutal, aber nicht unbedingt herausragend.

Einen Teil habe ich als Hörbuch gehört, gelesen von Charles Rettinghaus, der Synchronstimme u.a. von Jamie Foxx.

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Veröffentlicht am 12.04.2024

In welche Richtung würdest Du gehen?

Das andere Tal
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Wer eine Chance auf eine der begehrten, prestigeträchtigen und machtversprechenden Ausbildungen im Conseil haben möchte, muss einen Aufsatz schreiben. Es geht um die Frage, in welche Richtung man gehen ...

Wer eine Chance auf eine der begehrten, prestigeträchtigen und machtversprechenden Ausbildungen im Conseil haben möchte, muss einen Aufsatz schreiben. Es geht um die Frage, in welche Richtung man gehen würde, hätte man denn die Chance dazu. Es gibt nur zwei Wege aus dem Tal, nach Westen in die Vergangenheit oder nach Osten in die Zukunft. Die gleiche Stadt, die gleichen Personen aber jeweils 20 Jahre zeitversetzt und ein Tal reiht sich an das nächste. Niemand weiß, wieviele es sind. Odile ist 16 und bewirbt sich um einen solchen Ausbildungsplatz. Sie ist eine Außenseiterin, ohne Freunde und eigentlich auch ohne wirkliche Ambitionen. Eines Tages entdeckt sie sogenannte Besucher, also Personen aus einem anderen Tal, die jemanden aus ihrer Familie aus der Ferne sehen dürfen. Diese Besuche sind selten und werden unter extrem strengen Auflagen nur gewährt, wenn ein Todesfall bevorsteht. Trotz der Masken, die die Besucher tragen müssen, erkennt Odile die Personen und weiß daher auch, wer sterben wird. Diesen Vorfall nimmt sie in ihren Aufsatz für das Conseil auf und wird zum Auswahlverfahren zugelassen.

Der Autor hat ein Gedankenexperiment geschaffen, das viel Platz für philosophische Fragestellungen läßt. Der Roman ist eine Mischung aus Coming-of-Age, Dystopie und ein bisschen Zeitreise, eingebettet in eine zeitlose Gegenwart ohne Computer und Handy, aber mit Auto, Prügelstrafe und scharf bewachten Grenzen. Die Entwicklung von Odile und ihre zarte Freundschaft gerade mit der Person, die offenbar sterben wird, hat mich sehr berührt. Die Handlung wird konsequent aus der Sicht von Odile erzählt, in einer Sprache, die die Handlung in den Vordergrund rückt. Das Tal und seine "Regierung" nehmen im Laufe der Handlung immer mehr Gestalt an und doch bleiben bis zum Schluss Fragezeichen. Der Autor hat hier eine sehr komplexe und auch durchdachte Gesellschaft erschaffen, die man allerdings so annehmen muss, wie sie geschildert wird. Würde man bestimmte Verhaltensweisen etc. hinterfragen, gibt es Logiklücken. Der zentrale Konflikt: Darf man in die Vergangenheit eingreifen? Ein außergewöhnliches, stellenweise sehr bedrückendes Buch, mit dessen Protagonistin ich zwar mitgefiebert habe, die mir aber nicht so nahe gekommen ist. Dafür wirkte sie auf mich zu distanziert und oft auch passiv. Der Roman wird mich noch einige Zeit gedanklich beschäftigen.

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