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Veröffentlicht am 12.05.2023

Babylonische Verwirrung

Babel
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Selten lese ich Fantasy oder verwandte Genres. Babel hat mich aber sofort angesprochen: Ein großartiges Cover und die Handlung versprach alles, was man sich als Bücherratte wünschen kann: Oxford in der ...

Selten lese ich Fantasy oder verwandte Genres. Babel hat mich aber sofort angesprochen: Ein großartiges Cover und die Handlung versprach alles, was man sich als Bücherratte wünschen kann: Oxford in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ein geheimnisvoller Turm, Babel genannt, in dem die wichtigsten Sprachwissenschaftler und begabtesten Übersetzer des Landes arbeiten, um den Reichtum des Königreichs zu mehren und dessen Größe auszuweiten. Ein Waisenjunge, der von China über London nach Oxford kommt und dessen unheimlicher Vormund Prof. Lovell ihn in Sprachen unterrichten läßt, bis Robin selbst in Babel studieren darf. Zusammen mit Ramy, Victoire und Letty bildet er ein Kleeblatt, das in den folgenden Studienjahren fest zusammenhält, trotz aller Differenzen.

Das Buch hat für viele wahnsinnig gut funktioniert, für mich leider nicht. Zunächst konnte mich die Geschichte noch völlig gefangen nehmen, mit den unglaublich detaillierten Einblicken in die Übersetzerarbeit und die sprachwissenschaftlichen Details. Die ganze Atmosphäre der Universitätsstadt ist glänzend dargestellt. Aber die Handlung rund um Robin und seine Gefährten (ein Schelm, wer hier eine Anspielung sieht) hat mich im Laufe der über 700 Seiten immer weniger gefesselt. Mir sind die Charaktere nicht nahegekommen und ich habe tatsächlich das Interesse an ihnen verloren. Während in der ersten Hälfte der schon fast sachbuchartige sprachwissenschaftliche Anteil überwiegt (Achtung: zahlreiche Fußnoten), geht die Handlung immer stärker dazu über, die Kolonialmacht Großbritannien, den Rassismus und auch in die Industrialisierung und ihre Folgen an den Pranger zu stellen und mit allen Mitteln zu bekämpfen. Dieser Kampf artet für mich irgendwann völlig aus. Von Magie ist über weite Strecken nichts zu lesen, sie ist im Hintergrund immer vorhanden, wird aber wenig zum Einsatz gebracht. Wahrscheinlich tue ich der Autorin Unrecht, aber mir schien es teilweise so, als sei die Handlung um Robin um diese anderen Aspekte drumherumgestrickt worden.

Für mich war dieser Genremix aus Sachbuch, Fantasy und starken gesellschaftskritischen Elementen (die Hintergründe sind unbestritten und werden deutlich durch die Autorin dargestellt) leider nichts. Kuang hat einen schönen und bildhaften Schreibstil, allerdings gibt es Passagen, die einfach zu lange geraten sind und die Handlung kommt teilweise kaum voran. Der Roman hat bereits eine große Fangemeinde und die sei ihm ohne Frage gegönnt. Die Autorin ist selbst Sprachwissenschaftlerin und Übersetzerin und diese Kenntnisse bringt sie ganz großartig ein. Daneben sei nochmals auf die wirklich wunderschöne äußere Erscheinung des Romans mit edlem Coverbild, Golddruck, Prägedruck und Lesebändchen hingewiesen.

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Veröffentlicht am 07.05.2023

Ein etwas anderes Ferienlager

Wolf
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Mir war Saša Stanišić ("Herkunft") bisher nicht als Kinderbuchautor bekannt, umso mehr hat mich diese Neuerscheinung interessiert:
Mit einem vorlauten und gewitzten, dennoch eher einsamen jungen Mann ...

Mir war Saša Stanišić ("Herkunft") bisher nicht als Kinderbuchautor bekannt, umso mehr hat mich diese Neuerscheinung interessiert:
Mit einem vorlauten und gewitzten, dennoch eher einsamen jungen Mann begeben wir uns in das Abenteuer Ferienlager im Wald. Dort teilt sich der namenlose Erzähler eine Hütte mit seinem Klassenkameraden Jörg, der ebenso Einzelgänger ist und ständig von Marko und seinem Gefolge drangsaliert wird: Den Zwillingen Dreschke 1 und Dreschke 2, das klingt allein schon nach Kloppe auf dem Schulhof.
In weiten Teilen als Innenschau des Ich-Erzählers geschildert, geht die Geschichte ihren typischen Ferienlager-Gang vom Pflanzenbestimmen, über den Kletterwald bis zur Nachtwanderung.
Die Gruppe der Kinder, die in der Handlung auftreten, bleibt übersichtlich, fast ebensoviele Betreuer, inklusive Koch, werden zum Leben erweckt. Das gelingt dem Autor sehr gut. Man kann die verschiedenen Charaktere direkt vor sich sehen und das sind schon ganz besondere Typen.
Beeindruckend ist aber der Ich-Erzähler, der uns einen schonungslosen Blick in seine Gefühlswelt gestattet, die durch die erzwungene Gemeinschaft kräftig auf- und durchgerüttelt wird. Nach und nach wird er mutiger und ergreift erst still im Innern und dann auch laut für Jörg Partei.
Es hat Spaß gemacht das Buch (vor)zu lesen. Die Sprache ist peppig, ironisch und witzig. Kurze Sätze und treffende Gedanken, oft auch philosophisch angehaucht, die einen zum Nachdenken bringen. Die knappen Aussagen machen die Geschichte schnell und frech.
Auch mein Sohn (10) hat dem Buch gerne zugehört und beide fanden wir die Bilder, ganz in schwarz und gelb gehalten, sehr passen. Das ist optisch wirklich gelungen. Ich glaube, mit dem Wolf und dem Hirschen hatte mein Sohn ein bisschen zu kämpfen, weil sie nicht real waren, sondern nur in der Vorstellung des Ich-Erzählers existieren und für seine Gefühlswelt stehen.
Ein wirklich schönes Jugendbuch mit einem alten Thema, das aber deswegen nicht weniger aktuell ist und hier sehr schön modern daherkommt.

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Veröffentlicht am 03.05.2023

Jenseits vom Lindgren-Idyll

Die Überlebenden
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Wenn die Eltern sterben, beginnt womöglich ein erstes tiefes Betrachten der eigenen Kindheit. Erinnerungen sind aber immer gefärbt, weil wir sie im Jetzt abrufen, mit der Sicht auf eine Zeit, die Jahrzehnte ...

Wenn die Eltern sterben, beginnt womöglich ein erstes tiefes Betrachten der eigenen Kindheit. Erinnerungen sind aber immer gefärbt, weil wir sie im Jetzt abrufen, mit der Sicht auf eine Zeit, die Jahrzehnte zurückliegt.

Nachdem Vater ist nun auch die Mutter der drei Brüder Nils, Benjamin und Pierre gestorben. Gemeinsam wollen sie den letzten Wunsch der Mutter erfüllen und ihre Asche im See verstreuen, an dessen Ufer das Ferienhaus der Familie liegt. Hier haben sie ihre Sommer verbracht, mit angeln, schwimmen, faulenzen und Spaziergängen im Wald. Hier waren sie glücklich und hielten zusammen, hier waren sie aber auch traurig und unglücklich und haben trotzdem überlebt.

Geschickt läßt der Autor Schulmann die Geschichte rückwärtslaufen. Die 24 Stunden des Tages, an dem die Männer zum Sommerhaus zurückkehren, beginnt eine Minuten vor Mittnacht und wird dann in Kapiteln erzählt, die jeweils zwei Stunden zuvor gespielt haben. Darüber hinaus immer im Wechsel mit einem Kapitel aus der Kindheit. So erschließt sich langsam das Bild einer Familie, die wir so nicht erwartet haben. Eltern, die sich nur selten für die Kinder interessieren und ihre Aufmerksamkeit und Zuneigung punktuell und ohne erkennbares Schema verteilen, oft unberechenbar agieren. Die Brüder, die sich gegenseitig stützen müssten, dies aber nicht immer schaffen und jeder für sich einen Fluchtweg aus diesem Drama sucht.

Der Roman ist voller Kummer und doch auch kleiner Glücksmomente. Gelegentlich scheint durch, wie es hätte sein können, wie man es sich für die Kinder gewünscht hätte. Mit der Reise zurück in die Kindheit am See versucht vor allem Benjamin, das mittlere Kind, die Vergangenheit und die Beziehung zu den Eltern zu verarbeiten. Er, der immer versucht hat, den Überblick zu behalten, über Geschwister und Eltern, schleppt seit Jahrzehnten eine unglaubliche Last mit sich herum.

Ein sehr eindringlicher Roman, der mich wahnsinnig traurig gemacht hat. Eine große Leseempfehlung völlig jenseits vom Lindgren-Idyll.

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Veröffentlicht am 03.05.2023

Der postmoderne Detektiv

Die New-York-Trilogie
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Mein erstes Buch von Paul Auster, das ich mir völlig anders vorgestellt hatte. Die New-York-Trilogie ist leserunfreundlich, anstrengend, verwirrend, kompliziert und läßt einen am Ende allein. ABER es ist ...

Mein erstes Buch von Paul Auster, das ich mir völlig anders vorgestellt hatte. Die New-York-Trilogie ist leserunfreundlich, anstrengend, verwirrend, kompliziert und läßt einen am Ende allein. ABER es ist dennoch ein unglaublich faszinierendes Leseabenteuer, wenn man sich darauf einläßt.

Der Band besteht aus den drei Romanen "Stadt aus Glas", "Schlagschatten" und "Hinter verschlossenen Türen". Wobei ich es so empfunden habe, dass die Handlungen immer etwas substanzieller werden. Bei allen Texten handelt es sich im weitesten Sinne um eine Detektivgeschichte. Es geht um das Beobachten, Verfolgen und um das Scheitern. Als Paradebeispiel für postmoderne Romane gibt es unzählige Anspielungen auf andere Texte, Autoren und Genres. Es gibt Verdoppelungen und Wiederholungen in den kuriosesten Formen. In "Stadt aus Glas" verdoppelt sich z.B. plötzlich der Verfolgte und der Verfolger ist hin und her gerissen, welchem Zwilling er folgen soll. Das Spiel mit den Namen ist bei Auster besonders ausgeprägt, so taucht er selbst im ersten Roman auf und weitere Figuren treten unvermittelt im dritten Roman wieder auf die Bühne. Daher lohnt es sich wirklich alle Texte zu lesen. In "Schlagschatten" haben alle Figuren als Namen Farben, so soll Privatdetektiv Blue im Auftrag von White einen Mann namens Black beobachten. Die Stadt New York spielt als Namensgeberin der Trilogie eine herausragende Rolle und verkörpert ein Labyrinth, in dem einige Charaktere einfach verloren gehen bzw. sich auflösen. Auch dies ein Stilmittel des postmodernen Romans, das Verschwinden und Auflösen von Existenzen. Die Handlung nimmt immer wieder große Abzweigungen, die dann ins Leere laufen. Letztlich lösen sich auch die Geschichten auf und verlieren sich in den Häuserschluchten der Metropole. Wer sich im Vorhinein ein bisschen mit den Methoden und Stilmitteln auseinandersetzt, der wird ständig Aha-Erlebnisse haben.

"Stadt aus Glas" gibt es auch als großartig umgesetzte Graphic Novel/Comic, die bildlich umsetzen kann, was der Autor in seinem Text schreibt. Das ist wirklich ganz klug gemacht und trägt zum Verständnis bei.

Ein Leseerlebnis der besonderen Art, das ich für alle empfehlen kann, die sich für den postmodernen Roman interessieren oder generell an Sprach- und Wortspielen Freude habe. Es gibt so viel zu entdecken, aber man braucht wirklich Ausdauer. Als Tipp kann ich noch das Hörbuch empfehlen, das von Stefan Kaminski grandios gelesen wird.

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Veröffentlicht am 19.04.2023

Die Satteltaschenbücherei von Kentucky

Wie ein Leuchten in tiefer Nacht
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In den 1930er Jahren hatte die Weltwirtschaftskrise die USA fest im Griff und Präsident Franklin D. Roosevelt setzte mit zahlreichen Reformen (New Deal) dagegen. Die größte Bundesbehörde, die im Zuge dieser ...

In den 1930er Jahren hatte die Weltwirtschaftskrise die USA fest im Griff und Präsident Franklin D. Roosevelt setzte mit zahlreichen Reformen (New Deal) dagegen. Die größte Bundesbehörde, die im Zuge dieser Reformen geschaffen wurde, war die WPA (Works Progress Administration). Neben ihrer Hauptaufgabe der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (Bau von Staudämmen, Straßen, Brücken etc.), wurden auch Programme initiiert, die der Allgemeinheit auf anderem Wege zu Gute kommen sollten: Interviewprogramme, Theateraufführungen in der Provinz und die Versorgung der Menschen mit Büchern, um die Bildung zu fördern. Und hier fängt die Geschichte von Jo-Jo Moyes an.

Als in Baileyville im tiefsten Kentucky eine Bücherei mit Lieferservice durch berittene Bibliothekarinnen aufgebaut wird, ist die unglücklich mit einem wohlhabenden Einwohner verheiratete Engländerin Alice eine der ersten, die sich freiwillig meldet. Durch diese körperlich anstrengende und nicht von allen wohlwollend betrachtete Arbeit, lernt sie Freundinnen, das bergige Umland und die Menschen kennen, die sehnsüchtig auf Bücher warten oder sich ihr mit einem geladenen Gewehr entgegenstellen. Zu den entschiedensten Gegnern der Satteltaschenbücherei gehört ausgerechnet ihr Schwiegervater, der mit im ehelichen Haushalt mit den papierdünnen Wänden lebt.

Ein wunderbar flott zu lesender Schmöker, der sehr gut unterhält. Ich hatte noch kein Buch der Autorin gelesen und hatte mir dieses gekauft, weil mich die Geschichte der Horseback Librarians sehr interessiert hat, von denen ich schon gelesen hatte. Die Handlung des Roman vereint Liebesgeschichte und Gerichtsfall, Freundschaft und Hass, Dramatik und Witz, vor allem aber ganz viel Faktenwissen über das Satteltaschenbücherei-Programm. Moyes beschreibt die harten Bedingungen, unter denen hauptsächlich Frauen in die entlegensten Winkel geritten sind, um isoliert lebende Menschen mit Lesematerial zu versorgen. Die Freunde und Ablehnung über diesen neuen Service wird ebenso detailliert dargestellt, wie die Lebensbedingungen der armen Bevölkerung in den Bergen oder in den Kohleminen. Umweltzerstörung ist ein Thema, das ich in diesem Roman nicht erwartet hatte, es spielt aber auch eine wesentliche Rolle.

Wer im Internet unter Stichwörtern sucht, wird viele aussagekräftige historische Fotos finden, an denen sich auch die Autorin orientiert haben muss, um Details zu beschreiben: Mit Zeitung tapezierte Hütten, Bibliothekarinnen, die bettlägerigen Personen vorlesen, Kinder, die sich um eine Lesefibel scharren, reißende Flüsse und wackeligen Brücken, die überquert werden müssen.

Ich kann das Buch als Schmöker sehr empfehlen. Das Thema ist unglaublich bewegend und ich werde mich damit noch weiter beschäftigen.

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