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Veröffentlicht am 25.08.2024

Wasser zeigt die Verbindungen zwischen Orten und Zeiten

Am Himmel die Flüsse
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"Am Himmel die Flüsse", das neue Buch der britisch-türkischen, international aufgewachsenen und mit vielen Literaturpreisen ausgezeichneten Schriftstellerin Elif Shafak, ist ein ganz besonderes literarisches ...

"Am Himmel die Flüsse", das neue Buch der britisch-türkischen, international aufgewachsenen und mit vielen Literaturpreisen ausgezeichneten Schriftstellerin Elif Shafak, ist ein ganz besonderes literarisches Werk.

Es geht um die Verbundenheit von allem und allen auf dieser Welt, metaphorisch dargestellt durch das Wasser, das in seinen vielfältigen Formen, ob als Wassertropfen, unterirdischer Fluss oder überwältigende Sturzflut, menschliche Schicksale und Zeiten miteinander verknüpft.

Beginnend mit der Geschichte des Herrschers Assurbanipal im antiken Ninive begleiten wir schließlich den hochbegabten, aber in bitterste Not hineingeborenen Arthur, den "König der Abwasserkanäle und Elendsquartiere", auf seinem Lebensweg in der Zeit der Industrialisierung, genauso wie im Jahr 2014 die 9-jährige Narin auf dem Weg zu ihrer Taufe ins Lalischtal, begleitet von ihrer liebevollen, geschichtenerzählenden Großmutter, sowie eine junge Hydrologin in London im Jahr 2018... und einen Wassertropfen auf seiner Reise durch die Weltregionen und die Jahrtausende.

Was macht für mich ein literarisches Meisterwerk aus?

Erstens die ganz besonders schöne, poetische Sprache: ein Buch, das schon mit seiner Wortwahl ein besonderer Lesegenuss ist und mit treffend gewählten Sprachbildern die Fantasie anregt. Davon findet sich ganz viel in diesem Buch, hier ein paar Beispiele:

"Die Kinder entwurzelter Eltern sind in den Stamm des Erinnerns hineingeboren."

"Arthur weiß inzwischen, dass die Grenzen zwischen Klassen in Wirklichkeit die Grenzen auf einer Landkarte sind. Wenn man in einer reichen und privilegierten Familie zur Welt kommt, erbt man einen Plan, auf dem der weitere Weg vorgezeichnet ist, der Abkürzungen und Nebenwege enthält, und der die üppig grünen Täler, in denen man rasten kann, ebenso nennt wie die schwierigen Stellen, die man besser umgeht. Wer die Welt ohne eine solche Karte betrifft, dem fehlt es an guter Orientierung. Der kommt viel leichter von seinem Weg ab, weil er auf vermeintliche Haine und Gärten zugeht, um schließlich festzustellen, dass er in Sumpf und Moor gelandet ist."

"Endlich habe ich meine Berufung gefunden: Es ist meine Pflicht, das Zerbrochene zusammenzufügen, den Menschen zu helfen, sich an das zu erinnern, was jahrhundertelang vergessen war, und das, was irgendwo auf dem Weg durch jene Zeit verloren gegangen war, wiederzufinden. Ich möchte wie die Themse sein. Ich werde mich um alles Weggeworfene, Beschädigte, Vergessene kümmern."

Mit solchen Sprachbildern ist das Buch voll.

Zweitens die komplexen, gut recherchierten und miteinander verbundenen Themen:

Beim Lesen dieses Buches kann man nebenbei sehr viel lernen. Zwar sind die Figuren fiktiv, doch das, was diese erleben oder ihnen zustößt, beruht überwiegend auf sehr sorgfältig recherchierten historischen Tatsachen (wie die Autorin im Nachwort auch selbst detailliert beschreibt). Dieses Buch hat mir Wissen über so unterschiedliche Gebiete wie das alte Mesopotamien, London zur Zeit der beginnenden Industrialisierung, das Wassergedächtnis, die vergrabenen unterirdischen Flüsse von London, Paris und vielen weiteren Metropolen (auch in Wien gibt es solche), den Völkermord an den Eziden in der Geschichte des osmanischen Reiches sowie durch den IS, Organhandel, die Klimakrise auch als Wasserkrise, die Problematik des Verschleppens von Kunstschätzen in ferne Museen und vieles mehr vermittelt, einfach so nebenbei beim Lesen.

Drittens das Bewusstsein für soziale und kulturelle Unterschiede, Benachteiligungen und Privilegien und wie sie die Möglichkeiten der einzelnen Menschen und ihre Weltsicht prägen. Das Buch zeigt etwa an vielen Beispielen (siehe z.B. das mittlere Zitat oben) auf, wie die eigene soziale Schicht und der eigene kulturelle und familiäre Hintergrund Türen öffnet oder schließt, wie schwierig es sein kann, diesem Hintergrund zu entfliehen und wie wenig Bewusstsein auf Seiten der Privilegierten dafür oft besteht, sowohl historisch als auch in der heutigen Zeit. Damit bietet das Buch viel Stoff zum kritischen Reflektieren und auch für Diskussionen mit anderen und eignet sich dadurch auch besonders gut für gemeinsame Leserunden.

Viertens authentisch gezeichnete, tiefgründige und facettenreiche Figuren und eine spannend erzählte Geschichte. Dieses Buch hat mich gepackt, wie schon länger keines mehr, und als ich die liebevoll gezeichneten Figuren einmal kennen gelernt hatte, war ich sehr schnell emotional tief mit ihnen und ihrem Schicksal verbunden, habe mitgefiebert und wollte unbedingt wissen, wie es weitergeht. Bis zum Ende, das die verschiedenen Handlungsstränge noch einmal geschickt miteinander verwebt, war das Buch absolut fesselnd.

Es handelt sich hierbei also um ein literarisches Meisterwerk, wie ich schon länger keines mehr gelesen habe. Im Klappentext findet sich die Aussage des Schriftstellers Hanif Kureishi, es handle sich bei Elif Shafak um "eine der besten Schriftstellerinnen der Welt" - dem kann ich absolut zustimmen und werde definitiv noch weitere Bücher von ihr lesen.

Empfehlen kann ich das Buch allen, die sich für wirklich gute Literatur und/oder für die angesprochenen Themen interessieren, dieses Buch ist wirklich ein besonderer Lesegenuss.

Nötig ist allerdings, sich innerlich auch für sehr schwierige Themen menschlicher Grausamkeit zu wappnen: diese hat es in der Geschichte immer wieder gegeben, es gibt sie leider bis heute, und sie kommen auch detailliert im Buch vor.

Das macht beim Lesen gerade deshalb emotional besonders betroffen, weil es aufgrund der gut recherchierten wahren Hintergründe eben nicht möglich ist, sich mit der Vorstellung, es sei nur eine Geschichte, davon zu distanzieren: schreckliche Dinge werden Menschen, Tieren und der Natur durch andere Menschen angetan, bis zum heutigen Tag, und Elif Shafak spricht das klar und mutig an.

Es ist also trotz der schönen, poetischen Sprache und der spannenden Geschichte nicht nur ein reiner Lesegenuss, sondern macht auch sehr nachdenklich und sensibilisiert für das Leid der Welt und für das, was Menschen, Tieren und Natur angetan wird, bis zum heutigen Tage. Damit kann es aber auch aufrütteln, sich im Rahmen der eigenen Möglichkeiten für eine bessere Welt einzusetzen.

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Veröffentlicht am 19.08.2024

Langatmig und verstörend

Love Letters to a Serial Killer
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Das Cover und Thema dieses Buches haben mich neugierig gemacht. Und dieses Buch hätte vielleicht gut sein können, wenn es anders geschrieben wäre. Zum Beispiel, wenn es glaubhaft um die psychologischen ...

Das Cover und Thema dieses Buches haben mich neugierig gemacht. Und dieses Buch hätte vielleicht gut sein können, wenn es anders geschrieben wäre. Zum Beispiel, wenn es glaubhaft um die psychologischen Hintergründe der Frauen gehen würde, die sich für Serienkiller interessieren, ihnen schreiben und sogar eine Beziehung zu ihnen eingehen wollen (dazu gibt es ja reale historische Beispiele, wie z.B. zu Ted Bundy). Oder wenn es zumindest ein wirklich spannender Thriller/Krimi wäre, der so interessant geschrieben ist, dass man nächtelang wach bleibt und weiterlesen möchte.

Aber nichts davon ist der Fall. Denn "Love letters to a serial killer" ist einfach nur langatmig und banal. Es geht um eine junge Frau, die im Leben beruflich wie privat absolut erfolglos ist, sich wenig reflektiert und kaum weiterentwickelt und eine absurde Obsession mit einem angeklagten Serienkiller entwickelt, dann Briefkontakt aufnimmt und schließlich unglaublich stolz ist, seine Freundin zu sein.

Es tut beim Lesen fast schon weh und ist verstörend, wie sehr die junge Frau auf die vermutete Gefährlichkeit des Serienkillers sexuell abzufahren scheint und wie wenig Mitgefühl für dessen Opfer sie aufbringt.

Die weiteren Figuren, die im Buch vorkommen, sind charakterlich ebenfalls sehr eindimensional und flach gezeichnet und es gibt keinerlei Entwicklung zum Besseren, kein Sich-Hinterfragen und Lernen... das einzige, was sich entwickelt, ist die zunehmende Obsession der jungen Frau. Auch sprachlich ist es ein eher simpel geschriebenes Buch.

Für mich war dieses Buch ein Ausflug in ein Genre, in dem ich sonst kaum etwas lese (vermutlich Dark Romance oder ähnliches), ich vermute aber stark, dass es auch in diesem Genre deutlich Besseres zu lesen gibt.

Selbst, wenn man keine besonderen Ansprüche an das Niveau, Charakterentwicklung oder Sprache hat, ist es kein sonderlich empfehlenswertes Buch. Über weite Strecken passiert nicht viel Spannendes, banale Handlungen werden in epischer Breite geschildert und so konnte das Buch auch vom Unterhaltungsaspekt her meine Erwartungen kaum erfüllen.

Ich wüsste nicht wirklich, wem ich das Buch empfehlen könnte. Zwei Sterne dennoch gnadenhalber für die einigermaßen interessante Grundidee und vereinzelte spannende Stellen im Buch.

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Veröffentlicht am 06.08.2024

Was müssen wir über unsere Familiengeschichte wissen, um eine glückliche Zukunft haben zu können?

Juli, August, September
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In "Juli, August, September" von Olga Grjasnowa begleiten wir Lou, eine junge Frau in den 30ern, durch diese drei Monate in einem Jahr ihres Lebens in der jetzigen Zeit. Im Juli ist Lou in Deutschland, ...

In "Juli, August, September" von Olga Grjasnowa begleiten wir Lou, eine junge Frau in den 30ern, durch diese drei Monate in einem Jahr ihres Lebens in der jetzigen Zeit. Im Juli ist Lou in Deutschland, wo sie mit ihrem Mann Sergej und der gemeinsamen kleinen Tochter Rosa lebt.

Lou ist Galeristin und schreibt an einem Buch, Sergej ist ein berühmter Pianist, viel auf Konzerten und wenig zu Hause. Die Familie ist von ihrer Herkunft jüdisch, Lou ist mit ihrer Mutter als Kind aus Russland nach Deutschland emigriert, auch ihr Mann ist jüdisch und hat Wurzeln in Russland. Die weitere Verwandtschaft lebt mehrheitlich in Israel.

Sergej und Lou beschäftigt die Frage, ob und wie sie ihrer kleinen Tochter Rosa das Jüdisch-Sein vermitteln können, das sie selbst kaum aktiv religiös praktizieren, aber ihnen doch als kulturelles und familiäres Erbe wichtig ist... und sie aber gleichzeitig davor schützen können, sich zu sehr zu exponieren. Bisher sind sie dem Thema eher durch Vermeidung begegnet, werden aber laufend vor Herausforderungen diesbezüglich gestellt, etwa, als eine Kindergartenfreundin ihrer Tochter ein Anne-Frank-Bilderbuch zeigt.

Im August trifft Lou, gemeinsam mit ihrer Mutter und mit Rosa, ihre Verwandten zur 90er-Feier ihrer Großtante auf Mallorca.

Im September begibt sie sich schließlich spontan in einem weiteren Land auf Spurensuche, um ihre Familiengeschichte und Herkunft - und vielleicht auch sich selbst und ihren momentanen psychischen Zustand - besser zu verstehen.

Das erste und letzte Drittel des Buches habe ich sehr spannend gefunden. In der Mitte - das ist der Teil, in dem hauptsächlich das Familientreffen auf Mallorca beschrieben wird - hatte es für mich gefühlt Längen (trotz der insgesamt angenehm kurz gehaltenen Kapitel), die aber wiederum möglicherweise gut das Gefühl der Langeweile, Unverbundenheit und Sich-Gegenseitig-Nicht-Verstehens der verschiedenen Familienmitglieder widerspiegeln.

Die Charaktere wirken mehrheitlich getrieben, unzufrieden und im Leben nicht sehr angekommen. Das gilt für Lou selbst genauso wie für ihren derzeitigen Ehemann, ihren geschiedenen Ex-Mann als auch für die Mehrheit der beschriebenen Verwandten. Man lebt so dahin, mit all seinen Problemen, Fragen, Zweifeln und Neurosen... und tut sich oft schwer damit, sich wirklich ehrlich miteinander zu unterhalten und sich tiefgründig aufeinander einzulassen.

Damit ist der Autorin eine gelungene Charakterisierung der psychischen Herausforderungen vieler Menschen der heutigen Zeit gelungen und sie zeigt am Beispiel einer jüdischen Familie, wie alte Geschichten und Traumata bis heute nachwirken und wie schwierig es ist, miteinander darüber zu sprechen und sie zu überwinden.

Ein treffendes Zitat dafür, das die Themen des Buches insgesamt gut zusammenfasst, findet sich auf S. 182, da sagt Lou zu ihrem Mann: "Ich weiß nicht mehr, warum wir das alles tun. Wir geben uns so viel Mühe für eine Religion, obwohl wir nicht an Gott glauben, für eine Vergangenheit, an der kaum etwas gut war, für eine Zukunft, die maximal ungewiss ist, und für eine Identität, die wir selbst nicht mehr verstehen."

Insgesamt war es ein angenehm zu lesendes Buch, das spannende Fragen aufwirft und zum Nachdenken anregt. Zum Beispiel über das Spannungsfeld Recht auf Schweigen über die eigene Geschichte (der älteren Verwandten) vs. legitimes Bedürfnis der jüngeren Generation, offene Fragen zu klären und damit vielleicht auch mehr Klarheit über die eigene Identität und Familienposition zu bekommen.

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Veröffentlicht am 30.07.2024

Liebevoll gestaltetes Einschlafbüchlein für 1- bis 2-jährige

Gute Nacht! Sei so nett und bring mich ins Bett!
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Das Cover des Einschlafbüchleins ist absolut entzückend gestaltet und hat meine kleine Tochter gleich begeistert angesprochen. Man sieht darauf eine entzückende Maus (dachte ich zuerst, eigentlich ist ...

Das Cover des Einschlafbüchleins ist absolut entzückend gestaltet und hat meine kleine Tochter gleich begeistert angesprochen. Man sieht darauf eine entzückende Maus (dachte ich zuerst, eigentlich ist es ja ein Siebenschläfer), die darum bittet, ins Bett gebracht zu werden.

Das Buch hat angenehme, dicke, stabile Seiten mit abgerundeten Ecken und eignet sich dadurch auch schon gut für 1- bis 2-jährige.

Auch inhaltlich würde ich es schon ab 12 bis 18 Monaten empfehlen und nicht erst ab 24 Monaten, wie in der offiziellen Altersempfehlung. Denn die Geschichte und die Seiten sind sehr simpel gestaltet: auf jeder Seite findet sich eine kleine Aufgabe, mit der das Kind den Siebenschläfer beim Einschlafen begleiten kann.

Zum Beispiel wird das Kind gebeten, den Schlafanzug des Siebenschläfers zu suchen, der noch auf der Wäscheleine hängt, oder auf die Zahnpastatube zu drücken, damit etwas rauskommt.

Alle üblichen Bettgehroutinen werden können somit anhand des Siebenschläfers noch einmal wiederholt und gemeinsam mit dem Kind durchgespielt werden.

Was ich mir anhand der Beschreibung erwartet hätte und das Buch nicht hat: eingebaute haptische Elemente. Wenn das Kind gebeten wird, an einer Schnur zu ziehen, damit das Licht angeht, dann ist diese Schnur nur aufgemalt und es ist keine tatsächliche Schnur ins Buch eingebaut (ich erwähne das extra, weil ich auch viele Kleinkindbücher mit solchen eingebauten haptischen Elementen kenne). Und so ist das bei allen Aufgaben, das Buch besteht rein aus - sehr hübschen - Zeichnungen. Dafür einen Stern Abzug, weil ich mir das anhand der Beschreibung des Buches anders erwartet hätte und manche der interaktiven aufgezeichneten Elemente, wie besagte Schnur, sehr klein, dünn und unauffällig aufgezeichnet sind.

Abgesehen davon ist es aber ein wunderschönes und liebevoll gestaltetes Buch, das ich Eltern von Kleinkindern absolut empfehlen kann und das das Einschlafritual definitiv bereichern wird.

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Veröffentlicht am 28.07.2024

Transgenerationale Traumatisierung im Lichte des aktuellen Zeitgeschehens

Sobald wir angekommen sind
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Micha Lewinskys Romandebüt "Sobald wir angekommen sind" spielt in der aktuellen Zeit, in der in Mitteleuropa eigentlich immer noch viel Sicherheit und materieller Wohlstand vorhanden sind, aber die multiplen ...

Micha Lewinskys Romandebüt "Sobald wir angekommen sind" spielt in der aktuellen Zeit, in der in Mitteleuropa eigentlich immer noch viel Sicherheit und materieller Wohlstand vorhanden sind, aber die multiplen Krisen die Psychen vieler Menschen angreifen und für tiefgreifende Angst und Verunsicherung sorgen. Umso mehr gilt das für jene, die sowieso schon die Last transgenerationaler Traumata tragen, so wie den Hauptprotagonisten Ben Oppenheim, den wir in diesem Roman kennen lernen.

Ben steht eigentlich ganz gut im Leben, er lebt in Zürich, hat eine mittelmäßig erfolgreiche Karriere als Roman- und Drehbuchautor hinter sich, zwei halbwüchsige Kinder und eine Frau, mit der er in Trennung lebt und sich aus finanziellen Gründen - zwei familientaugliche Wohnungen sind im teuren Zürich für die Familie nicht leistbar - abwechselnd gemäß dem Nestmodell bei den Kindern in der ehemals gemeinsamen Wohnung aufhält. Materiell geht es der Familie nicht schlecht und im Hintergrund gibt es auch noch Bens vermögenden Vater, der bei Bedarf immer wieder mal mit kleineren Finanzspritzen aushilft. Und auch faktisch ist in der sicheren Schweiz bis jetzt kein Krieg.

Doch Ben stammt, genauso wie seine Noch-Frau und Mutter seiner Kinder Marina, aus einer jüdischen Familie, aus einer langen Linie der wenigen Überlebenden von Verfolgungen und Ausrottungsversuchen seines Volkes. Besonders verbunden fühlt er sich dem ebenfalls jüdischen Schriftsteller Stefan Zweig, an dessen Biografie in Drehbuchform er arbeitet, und der damals in den 1930er Jahren schon frühzeitig die Zeichen der Zeit erkannte und sich rechtzeitig ins sichere Brasilien rettete (wo er sich aber schlussendlich in einer depressiven Phase das Leben nahm).

Mit der Trennung von seiner Frau scheint es Ben insgesamt nicht so schlecht zu gehen, er hat schon eine neue Beziehung gefunden, mit der jungen Künstlerin und getrennt lebenden Mutter Julia Beck (ohne jüdische Abstammung und ohne ähnliche transgenerationale Traumatisierungserfahrungen). Es könnte also einiges ganz okay sein in Bens Leben, wären da nicht die tiefen Ängste davor, dass der Krieg im Osten Europas sich unerwartet und plötzlich auch auf die Schweiz ausdehnen könnte und es dann vielleicht zu spät sei für eine Flucht.

Marina und Ben haben schon öfters darüber gesprochen, was in einem solchen Fall zu tun sei, um sich selbst und vor allem die gemeinsamen Kinder zu schützen. Und dann passiert tatsächlich etwas, von dem beide denken, es könnte der letzte Auslöser gewesen sein und in einer plötzlichen Aktion fliehen die beiden ohne viel weiteres Nachdenken mit den gemeinsamen Kindern nach Brasilien, nun doch wieder als scheinbar gemeinsame Familie, und ohne Bens neue Freundin Julia und deren Sohn. Sich dort zurechtzufinden, stellt die Familie vor alle möglichen unerwarteten Herausforderungen und der noch nicht eingetretene Weltkrieg in der Schweiz bringt die Frage mit sich, ob die Flucht nicht doch überstürzt war.

Ich habe dieses Buch innerhalb kürzester Zeit ausgelesen, weil mich die Geschichte sofort gepackt hat und ich mich sehr mit den Figuren identifizieren konnte. Es spiegelt für mich sehr gut das aktuelle Zeitgeschehen und zeigt auf, wie sich dieses mit individuellen Schicksalen verknüpft und wie persönliche Ängste und intergenerationale Traumatisierungen durch die aktuellen Krisen wie durch ein Brennglas verschärft werden können.

Noch vor zehn Jahren hätte so eine plötzliche Flucht, wie sie in diesem Buch beschrieben wird, möglicherweise sehr unrealistisch gewirkt... nun kenne ich selbst einige Menschen, bei denen die Krisen der letzten Jahre ähnliche Ängste hervorgerufen haben und die sich ebenfalls sehr intensiv mit dem Gedanken daran, Mitteleuropa zu verlassen, getragen haben (und es gibt auch einige, die das ja tatsächlich getan haben).

Gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Veränderungen bahnen sich langsam an, können sich aber - wie die Geschichte zeigt - durchaus auch dann sehr plötzlich zuspitzen, und oft zeigt sich erst im Nachhinein, welche Ängste vielleicht übertrieben waren und wer tatsächlich ein feines Sensorium für bevorstehende Gefahren hatte, das gemeinsam mit dem Mut zum entschlossenen Handeln diese Personen dann gerettet hat. So ist Bens und Marinas Handeln für mich insbesondere vor deren Familiengeschichte als Nachkommen Überlebender für mich sehr gut nachvollziehbar.

Sehr gut gefallen hat mir auch, dass das Buch nicht mit der Ankunft in Brasilien endet, sondern das Leben in Brasilien und die damit verbundenen Herausforderungen ebenfalls detailliert und authentisch geschildert werden. Damit macht es nachfühlbar, dass es zwar möglich ist, auszuwandern, aber sich damit nicht automatisch alle Probleme, die man im Leben hatte, in Luft auflösen, und das Leben anderswo - noch dazu als Neuangekommene - nicht unbedingt einfacher ist.

Auch der Titel "Sobald wir angekommen sind" ist für mich sehr stimmig und passend. Im Buch zeigt sich eben genau diese Problematik: Ben kommt nicht wirklich an im Leben. Nicht so ganz in seiner Karriere als Buch- und Drehbuchautor mit mittelmäßigem Erfolg. Nicht so ganz in der Beziehung zu den zwei Frauen Marina und Julia, zwischen denen er sich weder wirklich entscheiden, noch sich langfristig auf eine davon wirklich tiefgehend einlassen kann. Und örtlich auch nicht.

Ben bleibt ein Getriebener und Ängstlicher, der doch verzweifelt nach einem "Ankommen" und einem sicheren Hafen sucht, geografisch und in einer Beziehung, und diesen doch nicht finden kann, solange er in den alten Traumatisierungen und Ängsten gefangen bleibt und jederzeit am Sprung ist, zu fliehen. Das hat der Autor sehr authentisch herausgearbeitet und stellt es auch immer wieder in den Kontext der Geschichte des jüdischen Volkes und stellt anhand des Protagonisten Ben und der Menschen in seinem Leben Fragen und Anregungen dazu, was das Spezifische dieser Geschichte und der daraus resultierenden Prägungen ausmachen kann und wie sich dieses Thema bis heute auf die Menschen auswirkt.

Ein sehr interessantes und nachdenklich machendes Buch, das ich allen empfehlen kann, die sich gerne mit Themen des aktuellen Zeitgeschehens im 21. Jahrhundert und deren Auswirkungen auf die Psyche der heutigen Menschen vor dem Hintergrund transgenerationaler Traumatisierungen interessieren.

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