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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 28.02.2022

Psychologisch interessant und emotional bewegend

Unser wirkliches Leben
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„Unser wirkliches Leben“ von Imogen Crimp ist nur auf den ersten Blick eine klassische Liebesgeschichte: junge, mittellose Sängerin mit großen Träumen trifft, älteren, gut betuchten Mann und sie beginnen ...

„Unser wirkliches Leben“ von Imogen Crimp ist nur auf den ersten Blick eine klassische Liebesgeschichte: junge, mittellose Sängerin mit großen Träumen trifft, älteren, gut betuchten Mann und sie beginnen eine Affäre. Trotz dieses eher klischeehaften Set-ups ist der Autorin hier jedoch ein etwas anderer Roman gelungen, einer, der seine Protagonistin nicht als Liebeskranke mit einem Mann als einzigem Lebensinhalt darstellt, sondern ihr komplettes Leben ausleuchtet und ihr somit echte Tiefe verleiht.

Anna ist vom Land nach London gezogen, um am Konservatorium Operngesang zu studieren. Sie hält sich mit Singen im Jazzclub über Wasser und lebt kontinuierlich am Existenzminimum, um ihren großen Traum von der Opernkarriere zu verwirklichen. Von der überbehütenden und kontrollierenden Mutter und dem schweigsamen Vater zu Hause kann sie sich nicht viel Unterstützung erhoffen, denn diesen Lebensweg halten sie für viel zu unsicher. Als sie eines Abends Max kennenlernt, fühlt sie sich sofort zu ihm hingezogen, obwohl er sie von Anfang an auf Abstand hält. Ihre Beziehung entwickelt sich nach und nach in eine ungesunde Richtung, und Anna droht den Bezug zu sich selbst und ihren eigenen Wünschen zu verlieren, entfremdet sich von ihrem Umfeld und macht sich mehr und mehr abhängig von Max. Was anfängt wie ein seichtes Liebesdrama, entwickelt sich bald zu einem ernsthaften Psychogramm einer unsicheren jungen Frau, der es an Halt im Leben mangelt.

Trotz dieser erfreulichen Tiefe wartet „Unser wirkliches Leben“ auch mit einer ganzen Reihe von Klischees auf, und zwar nicht nur im Bereich der Liebesgeschichte, sondern vor allem auch, wenn es um das Leben von Künstler*innen geht. Die Geschichte suhlt sich häufiger recht stark in der Idee der mittellosen Künste und des freien Lebens. Zudem ist das Erzähltempo extrem gemächlich, wovon die Charakterentwicklung zwar enorm profitiert, was aber insgesamt dafür sorgt, dass sich einige Längen ergeben. So mancher Dialog wiederholt sich dabei, und dieselben Themen werden immer und immer wieder angesprochen. Prinzipiell unterstützt diese Erzählweise das Porträt von Anna und ihrer Gefühlswelt, ihr Sich-im-Kreis-Drehen und Nicht-von-der-Stelle-Kommen, der Grat zwischen Raffinesse und Ermüdung ist jedoch schmal und wird hin und wieder überschritten.

Trotz dieser leichten Schwächen ist „Unser wirkliches Roman“ ein Buch, das berührt und nachdenklich macht, mit einer Protagonistin, die mir als Leserin wirklich und wahrhaftig nahe kommt. Eine lohnenswerte Lektüre!

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Veröffentlicht am 19.02.2022

Poetisch, vulgär, rasant – ein Buch wie das echte Leben

Wir
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Zoran Drvenkar ist dafür bekannt, dass er in seinen Romanen kein Blatt vor den Mund nimmt. Seine Figuren sind nicht brav und angepasst, sondern wild und voller Leben, und das tritt in seinem neuesten Roman ...

Zoran Drvenkar ist dafür bekannt, dass er in seinen Romanen kein Blatt vor den Mund nimmt. Seine Figuren sind nicht brav und angepasst, sondern wild und voller Leben, und das tritt in seinem neuesten Roman „Wir – die süßen Schlampen“ ganz deutlich zutage. In gewohnter erzählerischer Brillanz setzt er nach und nach aus verschiedenen Puzzleteilen eine wilde Geschichte über Freundschaft, Verbrechen, Drogen, Gewalt und das echte Berlin zusammen.

Schnappi, Stinke, Nessi, Rute und Taja sind beste Freundinnen. Echt und unverfälscht, mit allem, was dazugehört. Gerade sind sie von der Realschule abgegangen, und die Welt liegt ihnen zu Füßen. Sie wollen ein wildes, freies Leben, sie fühlen sich unbesiegbar. Eines Tages verschwindet Taja spurlos. Die Suche nach ihrer Freundin führt die Clique in einen tiefen Abgrund aus Drogen und Gewalt, durch den sich die zähe Truppe stets mit einem flotten Spruch auf den Lippen und mit einer guten Portion rauem Charme durchbeißt.

Dabei gelingt es Drvenkar, all seine toughen Mädels zugleich auch verwundbar wirken zu lassen. Sie alle haben Träume und Ängste, sie alle sehnen sich nach etwas und bereuen Dinge. Sie sind keine schablonenartigen „starken jungen Frauen“, sondern echte Persönlichkeiten. Ebenso wie unter der Oberfläche seiner Figuren Verwundbarkeit schlummert, lauert unter der rauen, teils derben Sprache, der sich der Autor bedient, immer auch etwas Zartes, Poetisches, was seinen ganz besonderen Erzählstil ausmacht. Die Spannung entsteht nicht nur aus der Handlung, sondern auch aus der fragmentarischen Erzählweise: Nach und nach erst entsteht ein vollständiges Bild der Geschehnisse, das sich aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zusammensetzt.

Mit „Wir“ ist Zoran Drvenkar wieder einmal ein Roman wie ein Rauschzustand gelungen: heftig, wild, bunt, teils vulgär, oft poetisch und immer mit einem Blick für das Menschliche, Echte, Unverfälschte. Ein Jugendbuch, das ganz sicher nicht nur ein Jugendbuch ist, sondern Lesende aller Altersgruppen in seinen Bann ziehen kann.

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Veröffentlicht am 13.02.2022

Ein wenig nachvollziehbarer Krimi voll unmotivierter Action

Im Auge des Zebras
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„Im Auge des Zebras“ von Vincent Kliesch entstammt der Reihe um den Ermittler Severin Boesherz, dessen Schülerin Olivia Holzmann hier in seine Fußstapfen tritt. Vorweg sei gesagt: Ich habe die anderen ...

„Im Auge des Zebras“ von Vincent Kliesch entstammt der Reihe um den Ermittler Severin Boesherz, dessen Schülerin Olivia Holzmann hier in seine Fußstapfen tritt. Vorweg sei gesagt: Ich habe die anderen Bände um diese Charaktere nicht gelesen, sodass es mir möglicherweise an Hintergrundwissen mangelt. Für sich genommen, konnte mich der Roman aber leider gar nicht überzeugen.

Aufhänger der Geschichte sind gleich zwei Verbrechen, die auf recht konstruierte Weise miteinander verknüpft werden: Die Eltern von sieben Jungen werden zum gleichen Zeitpunkt bestialisch ermordet, die Kinder entführt, und der Drogenboss Sokolov scheint irgendetwas damit zu tun zu haben. Olivia Holzmann, eine toughe Ermittlerin im Liebesrausch, deren neuer Freund ihr jeden Wunsch von den Augen abliest, versucht, Informationen aus Sokolov zu pressen, kommt damit aber nicht besonders viel weiter und wendet sich stattdessen an ihren Mentor Boesherz. Der möchte seiner Protegée eine Lehre erteilen und verweigert ihr die Unterstützung, obwohl es um Menschenleben geht. Pech gehabt!

So „motiviert“, ermittelt Olivia auf eigene Faust und muss bald feststellen, dass der aktuelle Fall eng mit einer Jahre alten ähnlichen Entführung zusammenhängt, bei der ein Zwillingspaar erst in letzter Sekunde gerettet werden konnte. Die Spur ist heiß, aber die Uhr tickt und das Leben der Kinder steht auf dem Spiel.

Abgesehen von Boesherz’ völlig fehlgeleiteten Erziehungsmaßnahmen schafft es auch keine andere der Figuren, mir als Leserin so recht ans Herz zu wachsen. Dafür sind die Szenenwechsel zu rapide, die Handlungsstränge zu wirr, und in die Länge gezogene Action-Szenen rauben möglicher Charakterentwicklung den Platz. Der Stil ist hier und da etwas holprig, mit einer Mischung aus wenig bildhafter Sprache und teils umständlichen Schachtelsätzen, die den Lesefluss zusätzlich mindern. Spannung will sich (trotz des an sich sehr interessanten Rätsels, das im Vordergrund stehen sollte) nicht so recht einstellen, und eine Reihe teils irrelevanter Handlungsstränge sorgt für Verwirrung.

Leider kann Vincent Kliesch mit „Im Auge des Zebras“ nicht überzeugen, obwohl der eigentliche Fall und seine Lösung eine durchaus interessante Grundidee bieten. Dieses Potenzial wird jedoch überlagert von Schwächen in puncto Struktur, Handlungsablauf und Sprache, sodass das Leseerlebnis schnell in Vergessenheit geraten wird. Schade!

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Veröffentlicht am 13.02.2022

Eine epische Odyssee der Moderne

Zum Paradies
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Hanya Yanagiharas monumentaler Amerika-Roman „Zum Paradies“ ist ein Buch, das seinesgleichen sucht. Auf 900 Seiten werden drei Jahrhunderte amerikanischer (teils fiktiver) Geschichte erzählt und die Schicksale ...

Hanya Yanagiharas monumentaler Amerika-Roman „Zum Paradies“ ist ein Buch, das seinesgleichen sucht. Auf 900 Seiten werden drei Jahrhunderte amerikanischer (teils fiktiver) Geschichte erzählt und die Schicksale von Menschen ausgebreitet, die alle nur nach einem suchen: ihrem persönlichen Paradies.

Das wohl hervorstechendste Merkmal von „Zum Paradies“ ist seine Dreiteilung. Der fast 900 Seiten schwere Roman besteht im Grunde aus drei separaten Romanen, die nur lose miteinander zusammenhängen. Gemein ist ihnen der Schauplatz (ein Haus am Washington Square, New York), Familiennamen und ein scheinbar zufällig verteiltes immer wieder verwendetes Namens-Repertoire. Die Geschichte eines jungen Mannes, der in einem alternativen Amerika des 19. Jahrhunderts eine arrangierte Ehe mit einem älteren Mann eingehen soll; die Geschichte eines jungen Mannes, der während der AIDS-Epidemie im 20. Jahrhundert versucht, sein hawaiianisches Erbe mit seiner Beziehung zu einem älteren, reichen weißen Mann unter einen Hut zu bringen; die Geschichte einer jungen Frau am Ende des 21. Jahrhunderts, die in einem von Pandemien geschüttelten totalitären Staat lebt und eine arrangierte Ehe führt. All diese Geschichten werden von wenigen zentralen Themen zusammengehalten: Selbstbestimmung und Freiheit, Krankheit, Homosexualität und (kulturelle) Identität.

Yanagiharas Figuren sind so lebendig, dass sie förmlich aus den Buchseiten zu steigen scheinen. Mit einer atemberaubenden Sprachgewalt erzählt sie Profanes und Essenzielles gleichermaßen. Ihre Charaktere sind zugleich dreidimensionale, runde Charaktere mit einem tiefen Seelenleben und Platzhalter für das allgemein menschliche Streben nach einem Sinn, der tiefen Sehnsucht nach etwas Unbestimmten, das sie alle „das Paradies“ nennen. In dieser Sehnsucht sind sie miteinander verbunden, und zugleich auch mit uns Lesenden, die wir diesen Wunsch nach Mehr und die Hilflosigkeit beim Erreichen dieses unbestimmten Ziels nur allzu gut nachvollziehen können.

Trotz ähnlicher Themenwahl fühlen sich die drei Teile des Romans auch unterschiedlichen Genres zugehörig, was die „Allgemeingültigkeit“ der menschlichen Existenz, wie sie hier dargestellt wird, weiter unterstreicht. Teil 1 erinnert an einen Jane-Austen-Roman unter umgekehrten Vorzeichen mit einer klassischen romantischen Heldin in Gestalt eines Mannes. Teil 2 ist in vielerlei Hinsicht eine Tragödie, ein Roman, der wenig Raum für Hoffnung lässt. Das Buch endet fulminant in einer waschechten Dystopie im dritten Teil, die vielleicht (auch aufgrund ihrer verhältnismäßig größeren Länge) den Höhepunkt des Buches darstellt.

„Zum Paradies“ ist sicher keine leichte Kost, zugleich aber ein Roman, der einen unwiderstehlichen Sog aufbaut, dem man sich nicht entziehen kann, der es schafft, seine Figuren zum Leben zu erwecken und uns Lesenden ganz nah zu bringen. Ein echtes Meisterwerk!

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Veröffentlicht am 13.02.2022

Betroffen machend und extrem spannend

Ich bin der Abgrund
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„Ich bin der Abgrund“ von Donato Carrisi ist ein Psycho-Thriller im wahrsten Sinne des Wortes: Im Vordergrund steht nicht nur eine geschundene Psyche, sondern mehrere. Sie alle reagieren unterschiedlich ...

„Ich bin der Abgrund“ von Donato Carrisi ist ein Psycho-Thriller im wahrsten Sinne des Wortes: Im Vordergrund steht nicht nur eine geschundene Psyche, sondern mehrere. Sie alle reagieren unterschiedlich auf ihr Trauma. Die Spannung kommt bei diesem Psychogramm nie zu kurz, wenngleich der ein oder andere Zufall etwas unglaubwürdig daherkommt.

Der Müllmann, der namenlose Protagonist des Buchs (Namenlosigkeit herrscht im Buch übrigens prominent vor und verleiht ihm damit einen fast parabelhaften Anstrich), tötet Menschen. Aber nicht aus Lust, sondern aus einem Zwang heraus, der aus einem extremen Kindheitstrauma entstanden ist. Als er eines Tages mehr oder minder aus Versehen das Leben einer jungen Frau rettet, beginnt er eine Verbindung zu spüren, wie er sie zuvor nie erlebt hat. Diese Aktion weckt aber die Aufmerksamkeit der „Fliegenjägerin“, die sich auf seine Fersen heftet – eine Frau mit ihren ganz eigenen Dämonen, die sich der Ausrottung häuslicher Gewalt verschrieben hat. Eine spannende Jagd beginnt.

Das vorherrschende Thema im Buch ist Missbrauch – schonungslos wird geschildert, was jungen Menschen widerfährt und sie zu älteren, grausameren, resignierteren Menschen macht. Das macht diesen Thriller zu einem Buch, das nicht einfach auf billige Art schockieren und seinen Lesenden einen kalten Schauer über den Rücken jagen will, sondern betroffen machen, das Leid greifbar machen. „Ich bin der Abgrund“ präsentiert uns keine Monster, sondern vielschichtige, komplexe Charaktere mit echten Biographien, was ihm im Thriller-Genre eine gewisse Sonderstellung einräumt.

Diese Komplexität überträgt sich leider nicht immer auf den Handlungsablauf, der doch häufiger zu recht unglaubwürdigen Zufällen greift, um die Geschichte voranzutreiben. Das sorgt für so manches Stirnrunzeln, tut aber dem deutlich erkennbaren Spannungsbogen nur wenig Abbruch.

„Ich bin der Abgrund“ ist ein Psycho-Thriller, der den Menschen und seine Psyche an sich in den Vordergrund stellt, was ihm – trotz kleiner Schwächen auf Handlungsebene – meisterhaft gelingt.

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