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Veröffentlicht am 17.11.2022

Familiengeschichte

Dschinns
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Der Anfang von Fatma Aydemirs "Dschinns" liest sich wie ein Happy End: der anstehende Ruhestand, eine schöne Wohnung und die Aussicht auf Rückkehr in die Heimat. Der plötzliche Tod des Familienvaters Hüseyin ...

Der Anfang von Fatma Aydemirs "Dschinns" liest sich wie ein Happy End: der anstehende Ruhestand, eine schöne Wohnung und die Aussicht auf Rückkehr in die Heimat. Der plötzliche Tod des Familienvaters Hüseyin läutet das Bröckeln der Fassade ein - nach und nach ergibt sich eine tragische Familiengeschichte. Die Geschichte aus der ersten und zweiten Generation der 'Gastarbeiter' wird nacheinander, aber nicht chronologisch aus der Perspektive aller sechs Familienmitglieder erzählt. In den Leben der Eltern und ihrer vier größtenteils schon erwachsenen Kinder spiegeln sich die Themen Zerrissenheit zwischen den Kulturen, Emanzipation, Traditionen, Queerness, seinen eigenen Weg finden und gehen. Dieser Rundumschlag kratzt manchmal an der Grenze, bis zu der literarische Verdichtung glaubwürdig ist, passt aber insgesamt.
Bei der Sprache fühlte ich mich oft in einen Sog hineingezogen, musste mich bremsen, die Seiten nicht zu überfliegen. Dabei aber sehr gut und flüssig lesbar.
Mich hat das Buch berührt, mir migrantische Themen vor Augen geführt, die in meinem Alltag so nicht vorkommen.

Veröffentlicht am 29.10.2022

Schwache Geschichte – packende Atmosphäre

Unsre verschwundenen Herzen
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Ich war überrascht, dass Celeste Ngs neuster Roman "Unsre verschwundenen Herzen" diesmal nicht in der US-amerikanischen jüngeren Vergangenheit spielt, sondern eine Dystopie ist. In den hier beschriebenen ...

Ich war überrascht, dass Celeste Ngs neuster Roman "Unsre verschwundenen Herzen" diesmal nicht in der US-amerikanischen jüngeren Vergangenheit spielt, sondern eine Dystopie ist. In den hier beschriebenen USA herrscht ein totalitäres System, das das Gesetz PACT erlassen hat, welches die Bevölkerung auf Patriotismus einschwört. Hieraus resultiert ein Klima der Angst und weithin akzeptierter Rassismus. Celeste Ng setzt hier bei bereits realen Tatsachen an: verbreiteter Rassismus, zu häufige Wegnahme von Kindern aus Familien, Zensur in Bibliotheken etc. PACT scheint dadurch also gar nicht so weit weg, wie man zunächst denken könnte.
Beschrieben werden diese dystopischen USA anhand des Jungen Bird und seiner Mutter Margaret, die beide asiatisch-stämmig sind und (nicht nur deshalb) in Außenseiterrollen gedrängt werden. Die Geschichte der beiden ist berührend, aber leider auch ohne richtigen Handlungsbogen. Die Vergangenheit der beiden wird nach und nach solide aufgearbeitet, die Geschichte in der Gegenwart ist aber schwach und irgendwie bleibt bei mir die Frage, was die Autorin mir mit der Geschichte der beiden eigentlich sagen möchte. So bleibt sie Mittel zum Zweck, was schade ist.
Eine große Rolle spielen auch Bibliotheken bzw. Bibliothekarinnen. Das Bild, das hier von Bibliothekarinnen gezeichnet wird, ist zwar liebevoll heroisch, aber leider auch klischeehaft und romantisiert, weswegen ich mit dieser Darstellung etwas hadere.
Das Leben in einem totalitären System fand ich packend beschrieben – die eigentliche Geschichte konnte da aber leider nicht mithalten.

Veröffentlicht am 26.10.2022

Ungewöhnliche Freundschaft

Alte Sorten
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In "Alte Sorten" stoßen die jugendliche Sally und die erwachsene Liss aufeinander. Beide sind Außenseiterinnen, ecken immer wieder an, sind keine reinen Sympathieträgerinnen. Beschrieben wird der Prozess, ...

In "Alte Sorten" stoßen die jugendliche Sally und die erwachsene Liss aufeinander. Beide sind Außenseiterinnen, ecken immer wieder an, sind keine reinen Sympathieträgerinnen. Beschrieben wird der Prozess, wie beide sich gegenseitig helfen wollen – und wiederum auch die Hilfe der jeweils anderen anzunehmen lernen.
Ich mochte diese Geschichte zweier Frauen unterschiedlicher Generationen, die beim genauen Augenmerk doch so einiges verbindet und ohne die viel Tamtam Freundinnen werden. Gefallen hat mir auch die spätsommerliche bis herbstliche ländliche Atmosphäre, die im Buch beschrieben wird, ohne dass es zu romantisch wird. Bei der Sprache bin ich über manche Sätze gestolpert, die für mich grammatikalisch ungewohnt formuliert waren – insgesamt aber gut lesbar.

Veröffentlicht am 26.10.2022

Nicht meins

Ein Sommer in Niendorf
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Heinz Strunk lässt mich mal wieder ratlos zurück: ist das jetzt große Literatur oder cringe? Vielleicht ja auch beides. Der absolut unsympathische Protagonist urlaubt in Niendorf an der Ostsee und will ...

Heinz Strunk lässt mich mal wieder ratlos zurück: ist das jetzt große Literatur oder cringe? Vielleicht ja auch beides. Der absolut unsympathische Protagonist urlaubt in Niendorf an der Ostsee und will dort seine Familiengeschichte aufschreiben. Insgesamt passiert wenig handfestes in diesem Roman, in dem der Protagonist sich selbst leid tut, säuft und die Lesenden an seinen Gedanken über die Welt und seine Mitmenschen, auf die er durchweg mit arroganter Verachtung schaut, teilhaben lässt.
Mich hat das leider weder auf eine literarisch wertvolle noch auf eine bitter-bös-witzige Art packen können.

Veröffentlicht am 26.10.2022

Polen 1980

Im Wasser sind wir schwerelos
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Tomasz Jedrowski beschreibt in seinem Debüt eine schwule Liebe in Polen 1980. So die Kurzfassung, aber das Buch bietet mehr als auf diesen ersten Blick erkennbar. Die Liebes- ist auch eine Coming-of-Age-Geschichte ...

Tomasz Jedrowski beschreibt in seinem Debüt eine schwule Liebe in Polen 1980. So die Kurzfassung, aber das Buch bietet mehr als auf diesen ersten Blick erkennbar. Die Liebes- ist auch eine Coming-of-Age-Geschichte und ist einfühlsam beschrieben. Noch beindruckender, und im Buch auch mehr Raum einnehmend als die Liebesgeschichte, fand ich aber das Bild, das der Autor vom Alltag in Warschau im Sommer und Herbst 1980 zeichnet. Für mich wurde die Lebensrealität in der Zeit vor der Ausrufung des Kriegsrechts in Polen 1981 lebendig in all ihrer Bedrückung, Ungerechtigkeit aber auch Alltäglichkeit.
Man merkt dem Buch an vielen Stellen an, dass es nicht zuvorderst für ein polnisches Publikum geschrieben wurde, was ja nicht automatisch schlecht sein muss. Vielleicht ist es in manchen Einzelheiten auch plakativ. Aber insgesamt trifft Tomasz Jedrowski meiner Einschätzung nach doch den Nerv und beschreibt Polen (bzw. Warschau) im Jahr 1980 sehr eindringlich.