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Veröffentlicht am 17.08.2023

Starke Prämisse, schwacher Roman

Frau des Himmels und der Stürme
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Dass die Wiege der Menschheit in Afrika liegt, ist wissenschaftlich hinreichend nachgewiesen. Der vorliegende Roman des 1968 geborenen, kongolesischen Autors Wilfried N‘Sondé in der Übersetzung aus dem ...

Dass die Wiege der Menschheit in Afrika liegt, ist wissenschaftlich hinreichend nachgewiesen. Der vorliegende Roman des 1968 geborenen, kongolesischen Autors Wilfried N‘Sondé in der Übersetzung aus dem Französischem von Brigitte Große setzt nun eine hochinteressante Prämisse: Was wäre, wenn vor 10.000 Jahren die Königin eines afrikanischen Nomadenstammes ihr Volk sogar bis nach Sibirien auf die Jamal-Halbinsel ans Nordpolarmeer geführt hätte?

Num, ein Schamane der nordischen indigenen Volkgruppe der Nenzen, findet während einem seiner Meditationsausflüge die im Permafrost erhaltenen, aber durch den Rückgang eben jenes Permafrostes freigelegten, sterblichen Überreste genau dieser afrikanischen Königin. Er hat Kontakte zu einem Professor aus Frankreich, Laurent, welchen er daraufhin kontaktiert, um sich wissenschaftliche Hilfe nach seinem Fund zu verschaffen. Die Zeit drängt, denn in wenigen Wochen soll in der Gegend ein Gasvorkommen durch russische Unternehmen ausgebeutet werden. Der archäologische Fund könnte das Vorhaben kippen, so der Gedanke Nums, und die sowieso schon angeschlagene Natur der Tundra vor diesem Eingriff bewahren. Laurent trommelt noch einen jungen kongolesischen Archäologen sowie eine deutsch-japanische Rechtsmedizinerin zusammen, um eine Expedition nach Sibirien zu starten und Num zu helfen. Gleichzeitig möchte aber ein Unternehmer und Mitglied der russischen Mafia sein Gasförderungsvorhaben durchdrücken und ist zu allem bereit, um seinen Reichtum zu mehren.

Der Roman hätte unter dieser Prämisse ein hoch spannender Wissenschaftsroman werden können, der mithilfe starker Figuren und den magischen Anklängen durch mystische Bilder die Geschichte von der Zerstörung der Erde durch den Menschen erzählt. Leider ist er das nicht geworden.

Auf der Rückseite des Buches ist ein Zitat von Jeune Afrique abgedruckt, welches besagt: „Ein vielstimmiger Roman, in dem starke Frauen zu Wort kommen.“ und NDR Kultur meint: „Wilfried N’Sondé trifft mit seiner Geschichte ins Herz“. Vielstimmig ist der Roman eventuell dahingehend, dass es viele Charakter- bzw. Figurenvorstellungen gibt. Leider erstrecken sich diese Figureneinführungen mindestens über das erste Drittel des Romans. „Vielstimmig“ im eigentlichen Sinne sind sie aber kaum, da die Gruppe um Num alle relativ dasselbe denken, nämlich das moralisch „Richtige“, dass kulturelle Funde von indigenen Völkern ebenso wie die Natur bewahrt werden müssen (ganz kurz und einfach zusammengefasst). Dem entgegen steht „der böse Russe“, nämlich Sergej, der ohne jede psychologische Schattierung als der Proto-Bösewicht angelegt ist. Ich gehe hier nicht ins Detail, würde mich auch langweilen das zu tun, aber er entspricht eher einem Holzschnitt, als einem echten Menschen. Kommen wir zum Thema „starke Frauen“. Die deutsch-japanische Cosima hat sich in ihrer Vergangenheit klar gegen eine Grenzüberschreitung von Laurent gewehrt und setzt sich nun im Expeditionsvorhaben scheinbar gestärkt und selbstbewusst gegen ihn durch. Leider verkommt die Figur im Laufe des Romans wieder zu einem reinen Lustobjekt, welches aus der Gefahr gerettet wird. Natürlich von einem Mann. Stark sind tatsächlich die Geister von vorkommenden, verstorbenen Königinnen, die scheinbar die Geschehnisse hintergründig lenken können. „Ins Herz“ hat zumindest mich Wilfried N‘Sondé mit seiner Geschichte nicht treffen können. Viel zu sehr regte mich der zu Beginn schleppende Verlauf und zum Schluss die wahrlich unglaubwürdige (außerhalb der mystischen Vorgänge) Handlung auf. Das letzte Viertel des Romans ist wirklich hanebüchen in den Handlungen der Figuren als auch deren Gedanken und Gefühle.

So wurde der Roman, dessen Plot eigentlich fast vollständig im Klappentext zusammengefasst wird, für mich zuletzt eher quälend in der Lektüre. Psalmodierend werden Predigten über den allumfassenden Zusammenhang von Mensch und Natur eingebaut und die Haltung des Autors wenig subtil im Text verarbeitet. So kommt es immer wieder zu solchen oder ähnlichen Textpassagen (S. 85):

„Was auch geschehe, die Natur handle in sehr langen Zeiträumen und würde am Ende triumphieren, die anmaßenden Menschen, die sich in der Illusion wiegten, sie zu besitzen, oder geblendet sehen von dem Willen, sie sich untertan zu machen, liefen in ihr Verderben. Die allmächtige Natur mit ihrem herrlichen Chaos und ihren unbegreiflichen Gesetzen würde recht behalten. Er wisse doch selbst, dass für die Völker des Nordens die Erde seit unvordenklichen Zeiten weiblich war; nur sie als Nährerin und Beschützerin könne den allem Seienden innewohnenden Geist gebären, beseelen und bewahren. Nur sie könne das Mosaik des Lebendigen zu jenem einzigartigen Bild Anordnen, in dem jedes Teilchen, so unwichtig es auch erscheine, seinen Platz und seine Daseinsberechtigung habe.“

So wird bezogen auf die Lehren aus der Natur schwülstig ein Sermon vorgetragen, während andererseits bezogen auf die Figuren und die Handlung die allseits bekannte literarische Prämisse „Show, don‘t tell!“ leider kaum Beachtung findet. Jedweder Gedankengang und Vorgehensweise der Figuren wird bis aufs Kleinste ausformuliert, kaum etwas wird dem Denkvermögen der Leserschaft zugemutet.

So lässt mich der Roman enttäuscht zurück. Während ich ihn über weite Strecken als "gut, solide" (also bei mir 3 Sterne) empfand und noch auf ein interessantes Ende gehofft hatte, fiel meine innere Bewertung mit dem letzten Drittel noch einmal ab, sodass ich bei 2,5 Sternen lande. Da wir ja hier und auf anderen Plattformen nur runde Bewertungen abgeben können, würde ich mich aber allein aufgrund der liebevollen und hochwertigen Gestaltung des physischen Buches aus dem noch jungen, unabhängigen Verlag Kopf & Kragen (was für ein cooler Name!) für das Aufrunden auf 3 Sterne entscheiden. Den Verlag werde ich aufgrund der bibliophilen Gestaltung ihrer Veröffentlichungen und des Verlagsprogramms weiterhin im Blick behalten.

2,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 14.08.2023

Unfair Games – Die Wege einer Freundschaft

Morgen, morgen und wieder morgen
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Gabrielle Zevin ist mit ihrem Roman „morgen, morgen und wieder morgen“ ein echter PC-Spiele-Freundschafts-Blockbuster gelungen. Ich bin begeistert.

Sadie und Sam sind beide in den 1970 geboren und lernen ...

Gabrielle Zevin ist mit ihrem Roman „morgen, morgen und wieder morgen“ ein echter PC-Spiele-Freundschafts-Blockbuster gelungen. Ich bin begeistert.

Sadie und Sam sind beide in den 1970 geboren und lernen sich im Alter von 11 Jahren im Kinderkrankenhaus Mitte der 1980er in Los Angeles kennen. Sadie ist dort, weil ihre Schwester an Krebs erkrankt und dort in Behandlung ist. Sam verbringt bereits seit Wochen seine Zeit dort, weil bei einem schweren Autounfall seinen linken Fuß zertrümmert wurde und er unzählige OPs und schwere Schmerzen ertragen muss. Im Aufenthaltsraum, der eine Spielekonsole zu bieten hat, lernen sich die beiden kennen und werden Spielkameraden auf Lebenszeit. Ab diesem Punkt verfolgen wir mit Vor- und Rücksprüngen die Freundschaft dieser beiden Menschen, welche auf ihrer beiderseitigen Passion für PC-Spiele basiert. Nach einer Funkstille treffen sie sich während des Studiums wieder, entwickeln ihr erstes gemeinsames Spiel, werden Unternehmenspartner der Firma „Unfair Games“, die Wege trennen sich nach längerer Zusammenarbeit wieder und führen irgendwann wieder zusammen.

Durchweg spannend erzählt Gebrielle Zevin in ihrem 555 Seiten langen Roman die Geschichte einer intensiven Freundschaft, welche immer wieder auch Züge von Liebe füreinander enthält aber auch durch einige Tiefschläge in Zweifel gezogen wird. Was mir besonders gefällt: So einige Autor:innen hätten die Ausgangssituation für eine schwülstige Liebesgeschichte genutzt. Zevin tritt nicht in diese Falle, sie beschreibt eine dafür umso intensivere, hoch emotionale Freundschaftsgeschichte. So wirkt der Roman in seinem Aufbau ein wenig wie die Freundschaftsvariante von „Zwei an einem Tag“ von David Nicholls, ist aber so viel mehr.

So beschäftigt sich Zevin sehr ausführlich in ihrem Roman mit dem Thema einer Behinderung und was diese für einen jungen Menschen bedeutet. Sam wird sein Leben lang durch den Autounfall mit seinem Fuß, den chronischen Schmerzen und der daraus resultierenden Gehbehinderung zu kämpfen haben. Bisher habe ich in noch keine literarischen Roman so selbstverständlich darüber gelesen, wie schwer die Entscheidung für einen Studenten sein kann, ob er seine beste Freundin besuchen kann, weil ihre Wohnung zwischen zwei U-Bahn-Stationen liegt, es winterlich glatt auf den Straßen ist und er mit Gehstock nur unsicher laufen kann. Die Autorin erwähnt dabei das Thema nicht nur nebenbei und hakt damit ein Themenfeld auf der Liste „einzubringender Tiefe“ für den Roman ab, nein, es durchzieht in vielen Aspekten den Roman. So wird sehr authentisch verdeutlicht, wie ein Mensch mit einer Behinderung und chronischen Schmerzen nach außen hin arrogant, zurückgezogen oder gar gereizt wirken kann und dadurch seine engen Freundschaften riskiert. Toll gemacht!

Darüber hinaus geht die Autorin auf PC-Spieleentwicklung und deren Veränderung über die letzten 30 Jahre hinweg, die Hürden für weibliche Entwicklerinnen, ethnische Identität in diesem Kontext und PC-Spiele als kulturelles sowie gesellschaftsrelevantes Phänomen ein. Ich habe diesen unglaublich süffig geschriebenen Pageturner eingesogen und mit jeder Faser geliebt.

Besonders herausstellen möchte ich zuletzt noch die Übersetzung von Sonia Bonné. Sie übersetzt aus dem Englischen und studiert Informatik in Berlin. Warum ist diese Info so wichtig? Der Verlag hat hier diesem Text, der von der Tochter zweier Elternteile, die beide in der IT-Branche arbeiten, gekonnt einer Übersetzerin in die Hand gegeben, die aus eigenem Fachwissen heraus genau versteht, wovon die Autorin schreibt. Nie wirkt der Text mit seinen Games-spezifischen Ausdrücken ungelenk übersetzt, immer wie aus einem Guss.

Wer also ein Faible für die PC-Spielewelt der letzten 30 Jahre hat, eine wunderbar mitreißende Freundschaftsgeschichte lesen und in die immersive Welt von diesen glaubhaften Figuren eintauchen will, ist hier genau richtig. Eine eindeutige Leseempfehlung meinerseits für diesen großartigen, literarisch anspruchsvollen Unterhaltungsroman, der mit Eichborn genau den richtigen deutschen Verlag gefunden hat.

5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 14.08.2023

Nilufars Reise nach Iran und in die Vergangenheit

Terafik
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Die Veröffentlichung „Terafik“ der Autorin Nilufar Karkhiran Khozani trägt die Beschreibung „Roman“ auf dem Cover, erscheint aber sehr nah an der Autorin selbst und ihrer ersten Reise als erwachsene Frau ...

Die Veröffentlichung „Terafik“ der Autorin Nilufar Karkhiran Khozani trägt die Beschreibung „Roman“ auf dem Cover, erscheint aber sehr nah an der Autorin selbst und ihrer ersten Reise als erwachsene Frau in das Geburtsland ihres Vaters entlang geschrieben zu sein.

Die Romanfigur Nilufar Karkhirian Khozani begibt sich nicht nur rein physisch das erste Mal nach Iran, sondern kehrt mithilfe von Erinnerungen zurück in ihre eigene Kindheit und das Aufwachsen in ihrem Heimatland Deutschland mit einem iranischen Vater, der, als Nilufar auf der Schwelle zur Teenagerzeit steht, kurz nach der Trennung von ihrer Mutter Deutschland wieder verlässt und nach Iran zurückkehrt. Auch seine Erlebnisse in Deutschland während des Ingenieurstudiums und darüber hinaus flechtet die Autorin – hier sicherlich besonders stark fiktionalisiert – in ihren Roman ein. So entsteht ein Geflecht aus autobiografischen Anteilen aus Ereignissen während der Reise Nilufars nach Iran, ihren eigenen Erinnerungen an das Aufwachsen und (kursiv im Text hervorgehoben) den Erlebnissen des Vaters in Deutschland, welches Nilufars Familiengeschichte vor allem väterlicherseits formt.

Für mich besonders interessant an diesem Roman sind die Beschreibungen des Besuches in Iran. Hier erleben wir mit Nilufar, wie es ist, in Deutschland nicht als „Deutsche“ zu gelten und in Iran nicht als „Iranerin“. Ein Eindruck, welchen viele - wenn nicht gar fast alle - Menschen, deren Eltern aus verschiedenen Kulturen stammen, teilen. Nilufar muss sich in die iranische Gesellschaft mit ihren rigiden Vorgaben für Frauen einfinden und bleibt stets wie ein Fremdkörper in diesem ausgeklügelten Tanz aus Verboten und kleinen Grenzüberschreitungen im Privaten. Die Beobachtungen in Iran sind damit die eindrücklichsten des Romans für mich. Auch die geschilderten Erfahrungen des Vaters in Deutschland und das Aufwachsen Nilufars sind nicht uninteressant, gleichen sich aber auch naturgemäß bereits existierenden Berichten von Eingewanderten und deren Nachkommen.

Sprachlich erschien für mich der Roman besonders zu Beginn sehr stark. Wenn immer wieder Gleichnisse verwendet werden, um die Eindrücke des Vaters zu verdeutlichen. Eine unheilvolle Atmosphäre entsteht hier sehr drängend:

„In der Dämmerung zogen schwarze Wolken auf, vereinzelte Tropfen schlugen auf dem Asphalt ein wie Granaten, ein Vogel schoss auf das Fenster zu, ein dumpfer Klang wie ein Fingertipp auf ein Mikrofon. […] Jeder Schritt, den er den Flur hinab tat, erschütterte die alten Dielen unter dem Linoleum, mit jedem Schritt hinterließ er kaum sichtbare Kerben im Boden der Fachhochschule. Ein Wasserfall strömte auf die angestaubte Stadt. […] Seine Hände waren immer schon Fäuste gewesen.Ein ganzer Fluss rann seinen Körper hinab, er watete durch einen Ozean. […] Der Himmel war Zement. […] Eine Maschinengewehrsalve aus Wassertropfen hämmerte gegen die Fenster.“

Leider hatte ich das Gefühl, dass diese angedeutete, brutale Intensität dann aber im Roman inhaltlich wie auch sprachlich nicht so richtig eingelöst wird. Eher berichtartig geht es danach weiter, was ich zwar interessiert gelesen habe, aber nicht in das Geschehen mitgerissen wurde.

Insgesamt ist der Autorin Nilufar Karkhiran Khozani ein sehr guter Blick von innen und außen auf das Leben ihrer Familie in Iran gelungen. An der Figur Nilufar konnte ich allerdings nicht so stark andocken, wie es mir bei anderen Büchern mit ähnlichem Inhalt (z.B. „Die Sommer“ von Ronya Othmann o.ä.) besser gelungen ist. Aus dem Roman werden mir einzelne gesellschaftliche Beschreibung aus Iran im Gedächtnis bleiben, die gesamte Geschichte jedoch leider weniger. Trotzdem gibt es von mir definitiv eine Leseempfehlung für alle, die einen Blick ins Innere dieses kontroversen Landes werfen möchten.

3,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 11.08.2023

Eine Panoramaaufnahme ohne Fokus

Abtrünniger vor Inselpanorama
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Der noch recht junge Verlag Edition CONVERSO (gegründet 2018) hat sich inhaltlich allen Regionen rings um Mittelmeer, Adria und den Küsten Kleinasiens verschrieben. Er bringt uns Literatur aus den bisher ...

Der noch recht junge Verlag Edition CONVERSO (gegründet 2018) hat sich inhaltlich allen Regionen rings um Mittelmeer, Adria und den Küsten Kleinasiens verschrieben. Er bringt uns Literatur aus den bisher häufig übersehenen Regionen in bibliophiler Gestaltung näher. Der Roman „Abtrünniger vor Inselpanorama“ wurde vom kroatischen Schriftsteller Edi Matic in 2020 unter dem kroatischen Titel „POP“ (dt. der Pope, der Priester) erstveröffentlicht und erscheint nun in der Übersetzung von Alida Bremer.

Der Roman verbindet inhaltlich die beiden Themen, die der Verlag geschickt in den deutschen Titel hat einfließen lassen: Zum einen lernen wir zu Beginn in einer Verhörsituation Jadran Grobarek (der Abtrünnige) kennen. Er war bis zu einem folgenschweren Vorfall der Bodyguard eines kroatischen Ministers und floh unter falscher Identität auf eine kleine Insel vor der kroatischen Küste. Diese falsche Identität ist die eines Franziskaners, unter dessen Soutane Jadran nun einige Zeit unentdeckt auf der Insel verbringen konnte. Dass er aufgeflogen ist, erfahren wir bereits im ersten Kapitel, in welchem er von einem Kriminalist befragt wird. Zum anderen lernen wir ab dem zweiten Kapitel die kleine Insel mit deren Natur und vielen ihrer kauzigen Bewohner kennen (das Inselpanorama).

Leider schöpft der Roman nicht ansatzweise das Potential aus, welches er zu Beginn noch durch die angedeuteten Möglichkeiten definitiv vorhanden war. Welch wunderbare Verwechslungsgeschichte hätte dies werden können, welch mitreißender Spannungsroman, welch tiefgründiges Abbild einer kleinen, vergessenen Inselgesellschaft, welch Roman mit dem Fokus auf die faszinierende Flora und Fauna dieser Adria-Insel. Aber leider hat der Autor all diese Bereiche nur leicht tangiert und keins davon mit Bravour gemeistert. Dem Roman geht der Fokus verloren. Das ist wirklich schade, ließen doch die wunderbare Aufmachung und der interessante Titel so viel erhoffen.

Die Qualität des Romans lässt im Verlauf immer mehr nach und damit fiel auch mein Interesse an der Geschichte immer stärker ab. Mir blieb die Hauptfigur viel zu flach und unausgeleuchtet, ebenso wurden mir dann ab der zweiten Hälfte noch zu viele neue Nebencharaktere eingeführt, die nur kurz erwähnt werden, aber gar keine große Rolle spielen. Die Handlung plätschert zunehmend so dahin. Für mich war letztlich vieles zu unemotional geschildert. Es gab zwar den ein oder anderen Moment, bei dem ich "drin" war, aber nie so richtig mitgefiebert habe. Dafür wurde irgendwie jede Anekdote um diese Inselbewohnerin oder jenen Fischer, dieses Kulturprojekt oder jene kapitalistische Ausbeutung zu schnell hintereinander abgearbeitet. Letztlich bleibt vollkommen offen, welche Geschichte mit welchem Fokus der Autor überhaupt erzählen bzw. den Lesenden näher bringen wollte. War ich zu Beginn noch gespannt, wohin die Reise literarisch geht, konnte mich der Roman spätestens ab der Hälfte aufgrund des fehlenden Fokus‘ nicht mehr fesseln und ich habe mich dann im letzten Viertel so richtig darüber geärgert. Auch geht meines Erachtens der vom Autor nach dem ersten bzw. vor dem letzten Kapitel angewandte Perspektivwechsel von der Ich-Perspektive des Ermittlers hin zu einer personalen Erzählperspektive im Mittelteil nicht auf. Der Mittelteil ist wie die Zeugenaussage von Jadran angelegt, dort gibt es aber Einblicke in die Köpfe der Inselbewohner und Geschehnisse, die Jadran so ausführlich nicht kennen kann.

Trotzdem freue ich mich, dass der Verlag diesen häufig übersehenen Teil Europas in den Blick nimmt und einen Titel aus der Region veröffentlicht hat. Wenn man also an dem wuseligen und gleichzeitig mitunter anachronistischen Leben auf einer kroatischen Adria-Insel interessiert ist und bibliophile Buchausgaben mag, könnte einem dieses Buch gefallen, welchem allerdings ein erneutes Lektorat gut zu Gesicht stehen würde, um Flüchtigkeitsfehler zu bereinigen.

Wenngleich ich auch vom Roman als solchen sehr enttäuscht bin, habe ich mich bei 2,5 Sternen bezogen auf die Romangeschichte dennoch für das „Aufrunden“ auf 3 Sterne entschieden. Das liegt allein an der Arbeit des Verlags, denn dieser hat dem Roman nicht nur eine wunderschöne Verpackung mit liebevollen Illustrationen auf dem Vorsatz, hochwertigem Papier sowie beim genaueren Hinsehen einer interessanten Schriftart gegeben, sondern auch mit dem deutschen Titel "Abtrünniger vor Inselpanorama" den Roman viel besser getroffen als es der Originaltitel "POP" schafft.

2,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 04.08.2023

Warum Siegfried?

Siegfried
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Bis Seite 150 ein ständiger Abbruchkandidat, danach etwas schlüssiger. Nein, Antonia Baum konnte mich mit dieser Befindlichkeitsprosa nicht so richtig erreichen.

Die Ich-Erzählerin des vorliegenden Romans ...

Bis Seite 150 ein ständiger Abbruchkandidat, danach etwas schlüssiger. Nein, Antonia Baum konnte mich mit dieser Befindlichkeitsprosa nicht so richtig erreichen.

Die Ich-Erzählerin des vorliegenden Romans ist eine Mitte 30jährige Schriftstellerin in einer Schaffens-, Finanz- und Beziehungskrise. Wobei hier alles sich gegenseitig bedingt und auch noch stark von der Kindheit der Erzählerin geprägt ist. Aber noch einmal einen Schritt zurück. Die Erzählerin begibt sich, nachdem sie ihrem Partner/Vater der gemeinsamen Tochter einen Seitensprung mit ihrem Lektor gebeichtet hat, in die ambulante Sprechstunde der Psychiatrie. Dort solle ein ganz sympathischer Oberarzt tätig sein und auf diesen wartet sie nun im Wartezimmer. Während der Wartezeit reminisziert sie nun über ihre Kindheit, die sie mit den Streitigkeiten der Mutter mit dem Stiefvater (Siegfried) und - wenn diese zusammen verreist waren - in der Obhut der Großmutter Hilde (Mutter von Siegfried) verbracht hat. Sie lebte in finanzieller Sicherheit, um nicht zu sagen in gut situierten Verhältnissen, in Lehre, Niedersachsen. Mit den Jahren ist Siegfried - immer adrett gekleidet, Firmeninhaber, Bauleiter, der vorwiegend in ostdeutschen Städten baut - scheinbar zum Nonplusultra der Lebensführung für sie geworden. Dieses kindliche Vorbild kollidiert nun mit ihrem Leben als mittellose Schriftstellerin mit einem Partner, der nicht nach den Konventionen lebt, also ab in die Psychiatrie.

Dieser Roman war wirklich ein anstrengendes Stück Arbeit. Aber nicht im Sinne von der lohnenswerten Arbeit, die darin steckt, z.B. einen anspruchsvollen Text zu lesen und zu verstehen, sondern die Arbeit lag eher darin, bei der Sache zu bleiben und nicht entnervt vorab abzubrechen. Die Autorin hat nämlich ein Problem, welches die Erzählerin - wir erinnern uns, ebenso Schriftstellerin - auch im Roman mit ihrem ewig unvollendetem Roman hat: das Plot-Problem.

Auf Seite 152 des Buches heißt es: „Und dann tranken wir schnell etwas, Benjamin [der besagte Lektor] lehnte sich wieder zurück, sprach über […], aber ich hörte nur mit halbem Ohr zu, denn mich beschäftigte seine Kritik an meiner Schwachstelle, das Plot-Problem. Die starke Erzählung, die fehlte, die im Nebel lag. Ich war traurig, wütend, ich wollte aus der Stelle verschwinden, aber ich lächelte, nickte.“

Exakt an diesem Problem leidet auch der Roman „Siegfried“. Es fehlt der ziehende Plot, die starke Erzählung. Zumindest auf den ersten 150 Seiten wirkt es einfach nur wie das Gefühlschaos einer überforderten Schriftstellerin, Partnerin, Mutter. Ohne, dass Zusammenhänge hergestellt werden zu den Ursachen, verhalten sich die Figuren zueinander nicht nachvollziehbar. Es wird mal hier mal dort eine Andeutung gemacht, die absolut nichts erklärt. Es wird ausschweifend u.a. über Hilde schwadroniert und Siegfried, die titelgebende Figur, bleibt nur am Rande erwähnt. Man fragt sich die ganze Zeit, was das denn soll, warum hier einfach nur behauptet wird, Siegfried sei der scheinbare Retter - oder besser: Ritter in schillernder Rüstung - für die Erzählerin. Da der Text über weite Strecken zusammenhangslos wirkt, war ich mehrfach kurz davor, das Buch anzubrechen, habe aber dann doch noch bis zum Ende durchgehalten. Und hier muss man zugeben: Das Buch wird nach diesen ersten 150 Seiten stärker, wenn vielleicht auch nicht gleich „stark“. Erst danach wird hergeleitet, warum die Protagonistin so tickt, wie sie tickt. Das ist dann durchaus im Sinne einer Reinszenierung ihrer Kindheitserfahrungen psychologisch nachvollziehbar. Insgesamt bleibt aber zu viel in diesem Roman blass. Der Ost-West-Konflikt wird immer mal wieder angeschnitten, hat aber auch irgendwie keinen Halt in der Geschichte und sagt wenig aus. Dieser eine Tag, den die Protagonistin im Wartezimmer in der Psychiatrischen Institutsambulanz verbringt, ist nur ganz, ganz dünn gestrickte Rahmenhandlung und könnte ebenso wegfallen. Mal davon abgesehen, dass das vollkommen unrealistisch dargestellt wird.

Insgesamt bin ich froh, noch die letzten 100 Seiten des Buches gelesen zu haben, so erschienen nachträglich die durchgequälten ersten 150 Steinen nicht mehr ganz so sinnlos verschwendete Lesezeit. Trotzdem gibt es durchaus bessere, zeitgenössische Roman, die das Thema der Erforschung eigener Befindlichkeiten in einer Beziehungskrise mit dem Hintergrund einer nicht ganz so blendend weißen Kindheit literarisch ansprechender bearbeiten.

2,5/5 Sterne

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