Starke Prämisse, schwacher Roman
Dass die Wiege der Menschheit in Afrika liegt, ist wissenschaftlich hinreichend nachgewiesen. Der vorliegende Roman des 1968 geborenen, kongolesischen Autors Wilfried N‘Sondé in der Übersetzung aus dem ...
Dass die Wiege der Menschheit in Afrika liegt, ist wissenschaftlich hinreichend nachgewiesen. Der vorliegende Roman des 1968 geborenen, kongolesischen Autors Wilfried N‘Sondé in der Übersetzung aus dem Französischem von Brigitte Große setzt nun eine hochinteressante Prämisse: Was wäre, wenn vor 10.000 Jahren die Königin eines afrikanischen Nomadenstammes ihr Volk sogar bis nach Sibirien auf die Jamal-Halbinsel ans Nordpolarmeer geführt hätte?
Num, ein Schamane der nordischen indigenen Volkgruppe der Nenzen, findet während einem seiner Meditationsausflüge die im Permafrost erhaltenen, aber durch den Rückgang eben jenes Permafrostes freigelegten, sterblichen Überreste genau dieser afrikanischen Königin. Er hat Kontakte zu einem Professor aus Frankreich, Laurent, welchen er daraufhin kontaktiert, um sich wissenschaftliche Hilfe nach seinem Fund zu verschaffen. Die Zeit drängt, denn in wenigen Wochen soll in der Gegend ein Gasvorkommen durch russische Unternehmen ausgebeutet werden. Der archäologische Fund könnte das Vorhaben kippen, so der Gedanke Nums, und die sowieso schon angeschlagene Natur der Tundra vor diesem Eingriff bewahren. Laurent trommelt noch einen jungen kongolesischen Archäologen sowie eine deutsch-japanische Rechtsmedizinerin zusammen, um eine Expedition nach Sibirien zu starten und Num zu helfen. Gleichzeitig möchte aber ein Unternehmer und Mitglied der russischen Mafia sein Gasförderungsvorhaben durchdrücken und ist zu allem bereit, um seinen Reichtum zu mehren.
Der Roman hätte unter dieser Prämisse ein hoch spannender Wissenschaftsroman werden können, der mithilfe starker Figuren und den magischen Anklängen durch mystische Bilder die Geschichte von der Zerstörung der Erde durch den Menschen erzählt. Leider ist er das nicht geworden.
Auf der Rückseite des Buches ist ein Zitat von Jeune Afrique abgedruckt, welches besagt: „Ein vielstimmiger Roman, in dem starke Frauen zu Wort kommen.“ und NDR Kultur meint: „Wilfried N’Sondé trifft mit seiner Geschichte ins Herz“. Vielstimmig ist der Roman eventuell dahingehend, dass es viele Charakter- bzw. Figurenvorstellungen gibt. Leider erstrecken sich diese Figureneinführungen mindestens über das erste Drittel des Romans. „Vielstimmig“ im eigentlichen Sinne sind sie aber kaum, da die Gruppe um Num alle relativ dasselbe denken, nämlich das moralisch „Richtige“, dass kulturelle Funde von indigenen Völkern ebenso wie die Natur bewahrt werden müssen (ganz kurz und einfach zusammengefasst). Dem entgegen steht „der böse Russe“, nämlich Sergej, der ohne jede psychologische Schattierung als der Proto-Bösewicht angelegt ist. Ich gehe hier nicht ins Detail, würde mich auch langweilen das zu tun, aber er entspricht eher einem Holzschnitt, als einem echten Menschen. Kommen wir zum Thema „starke Frauen“. Die deutsch-japanische Cosima hat sich in ihrer Vergangenheit klar gegen eine Grenzüberschreitung von Laurent gewehrt und setzt sich nun im Expeditionsvorhaben scheinbar gestärkt und selbstbewusst gegen ihn durch. Leider verkommt die Figur im Laufe des Romans wieder zu einem reinen Lustobjekt, welches aus der Gefahr gerettet wird. Natürlich von einem Mann. Stark sind tatsächlich die Geister von vorkommenden, verstorbenen Königinnen, die scheinbar die Geschehnisse hintergründig lenken können. „Ins Herz“ hat zumindest mich Wilfried N‘Sondé mit seiner Geschichte nicht treffen können. Viel zu sehr regte mich der zu Beginn schleppende Verlauf und zum Schluss die wahrlich unglaubwürdige (außerhalb der mystischen Vorgänge) Handlung auf. Das letzte Viertel des Romans ist wirklich hanebüchen in den Handlungen der Figuren als auch deren Gedanken und Gefühle.
So wurde der Roman, dessen Plot eigentlich fast vollständig im Klappentext zusammengefasst wird, für mich zuletzt eher quälend in der Lektüre. Psalmodierend werden Predigten über den allumfassenden Zusammenhang von Mensch und Natur eingebaut und die Haltung des Autors wenig subtil im Text verarbeitet. So kommt es immer wieder zu solchen oder ähnlichen Textpassagen (S. 85):
„Was auch geschehe, die Natur handle in sehr langen Zeiträumen und würde am Ende triumphieren, die anmaßenden Menschen, die sich in der Illusion wiegten, sie zu besitzen, oder geblendet sehen von dem Willen, sie sich untertan zu machen, liefen in ihr Verderben. Die allmächtige Natur mit ihrem herrlichen Chaos und ihren unbegreiflichen Gesetzen würde recht behalten. Er wisse doch selbst, dass für die Völker des Nordens die Erde seit unvordenklichen Zeiten weiblich war; nur sie als Nährerin und Beschützerin könne den allem Seienden innewohnenden Geist gebären, beseelen und bewahren. Nur sie könne das Mosaik des Lebendigen zu jenem einzigartigen Bild Anordnen, in dem jedes Teilchen, so unwichtig es auch erscheine, seinen Platz und seine Daseinsberechtigung habe.“
So wird bezogen auf die Lehren aus der Natur schwülstig ein Sermon vorgetragen, während andererseits bezogen auf die Figuren und die Handlung die allseits bekannte literarische Prämisse „Show, don‘t tell!“ leider kaum Beachtung findet. Jedweder Gedankengang und Vorgehensweise der Figuren wird bis aufs Kleinste ausformuliert, kaum etwas wird dem Denkvermögen der Leserschaft zugemutet.
So lässt mich der Roman enttäuscht zurück. Während ich ihn über weite Strecken als "gut, solide" (also bei mir 3 Sterne) empfand und noch auf ein interessantes Ende gehofft hatte, fiel meine innere Bewertung mit dem letzten Drittel noch einmal ab, sodass ich bei 2,5 Sternen lande. Da wir ja hier und auf anderen Plattformen nur runde Bewertungen abgeben können, würde ich mich aber allein aufgrund der liebevollen und hochwertigen Gestaltung des physischen Buches aus dem noch jungen, unabhängigen Verlag Kopf & Kragen (was für ein cooler Name!) für das Aufrunden auf 3 Sterne entscheiden. Den Verlag werde ich aufgrund der bibliophilen Gestaltung ihrer Veröffentlichungen und des Verlagsprogramms weiterhin im Blick behalten.
2,5/5 Sterne