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Veröffentlicht am 03.06.2023

Fantastische Trauer?

Schlangen im Garten
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Ja, Trauer kann fantastisch sein. Und zwar nicht im Wortsinne von „super, spitze, mega“ für „fantastisch“ sondern im Sinne von „unwirklich, übernatürlich, märchenhaft“. Denn so sieht die Trauer der Familie ...

Ja, Trauer kann fantastisch sein. Und zwar nicht im Wortsinne von „super, spitze, mega“ für „fantastisch“ sondern im Sinne von „unwirklich, übernatürlich, märchenhaft“. Denn so sieht die Trauer der Familie Mohn im Roman „Schlangen im Garten“ von Stefanie vor Schulte aus, fantastisch.

Johanne, die Mutter von Steve, Linne und Micha und Ehefrau von Adam ist gestorben. Als sei dieser Schicksalsschlag nicht schon schwer genug zetern nun die Menschen im Umfeld der Familie, diese solle doch langsam mal darüber hinwegkommen und weiter machen mit diesem Ding, das Leben heißt. Trauer bewegt sich innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Normen und wer nicht ins Bild passt stört. Denn Steve treibt auf seinem Longboard mit geschlossenen Augen durch die Stadt, Linne prügelt sich mit allem und jedem, Micha zieht sich gefährlich weit zurück und Adam bekommt die alltäglichsten Dinge nicht mehr auf die Reihe. Also kommt Post vom Traueramt und mit ihr Herr Ginster ins Leben der Familie. Er ist Trauerbeamter und dafür zuständig, dass die Familie doch nun bitte mal vorankomme in ihrem Trauerprozess. Alles bürokratisch korrekt, wie es sich gehört.

Und mit Herrn Ginster ziehen ebenso immer mehr märchenhaft-fantastische Elemente in das Leben der Mohns ein und somit auch in das Schreiben von Stefanie vor Schulte. Im Verlauf der Geschichte wird deutlich, dass die Trauer der Familie nur in der Fantastik dargestellt werden kann, denn Trauer ist etwas Unausprechliches. Das Leben in Trauer ist ver-rückt. So verrückt die Realität des Romangeschehens immer weiter in eine skurrile, surreale Fantasiewelt. Immer häufiger kommt es zu unrealistischen Ereignissen. Die Bilder, die dieses Stilmittel erschafft, sind besonders im Mittelteil unglaublich stark. Die Herangehensweise der Autorin an die Thematik erscheint geradezu frisch im Vergleich zu vielen anderen Veröffentlichungen der letzten Jahrzehnte zum Thema Trauer. Aber sie schlägt wiederum auch in eine Kerbe, welche gerade in den letzten ca. fünf Jahren häufiger in der Literatur auftaucht: Trauer und Verlust mit Absurdität bis skurriler Komik zu begegnen. Man denke an „Marianengraben“ von Jasmin Schreiber, „Barbara stirbt nicht“ von Alina Bronsky oder ähnliches. Das Besondere von vor Schultes Buch ist sicherlich die Fantastik.

Leider sehe ich hier allerdings auch die größte Schwäche des Romans. Denn gerade im letzten Drittel verschwimmt nicht nur Realität mit Fantasie, das Fantastische verdrängt vollständig das Realistische. Unglaublich viele übernatürliche Dinge geschehen und man verliert beim Lesen fast den Überblick, was jetzt eigentlich geschieht. In die Realität finden wir nicht wieder zurück und treiben verschollen in der Mystik. Ohne zu viel zum Ende zu verraten, so hätte es mir doch besser gefallen, wenn wir uns zuletzt hätten wieder in einem realistischen Raum des Trauerprozesses wiederfinden können.

Die Haupt- und Nebenfiguren waren durchaus interessant gezeichnet, auch wenn ich ihnen nur punktuell wirklich richtig nahe war und mit ihnen gefiebert habe. Auch dieser Kontakt zu den Figuren, welcher im Mittelteil besonders eng war, verlor sich zunehmend im letzten Drittel des Buches. Der Schreibstil der Autorin ist solide und findet passende Bilder und Beschreibungen für diesen unaussprechlichen Zustand nach dem Tod einer geliebten Person.

Über zwei Drittel des Buches hinweg wähnte ich mich in einem sehr guten, wenn auch nicht grandiosen Werk zum Thema Trauerprozess bzw. Trauerbewältigung. Das letzte Drittel schoss dann meines Erachtens jedoch etwas zu weit übers Ziel hinaus und ließ mich eher unzufrieden zurück. Wenngleich „Schlangen im Garten“ für mich mit 3,5 Sternen „nur“ ein insgesamt (überdurchschnittlich) gutes Buch darstellt, kann ich es durchaus für eine unkonventionelle Lektüre zum Thema Trauer weiterempfehlen.

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Veröffentlicht am 03.06.2023

Eine gänzlich andere Welt

Ein anderes Brooklyn
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Das Brooklyn der 1970er Jahre und der ethnischen Minderheiten scheint wie eine andere Welt im Vergleich zum Bild vom „Disco“-New York der weißen Bevölkerung. Hier wurde Kinder erwachsen, die auf unsicheren, ...

Das Brooklyn der 1970er Jahre und der ethnischen Minderheiten scheint wie eine andere Welt im Vergleich zum Bild vom „Disco“-New York der weißen Bevölkerung. Hier wurde Kinder erwachsen, die auf unsicheren, dreckigen Straßen unterwegs waren. Die Mädchen waren jedoch einfach aufgrund ihres Genders und ihrer Race noch größeren Gefahren ausgesetzt.

Erzählt wird die Geschichte von August, welche zu einem Vierer-Gespann von Freundinnen gehörte, die in diesem anderen Brooklyn aufgewachsen ist. Sie erzählt größtenteils aus der Erwachsenenperspektive heraus von ihrem Aufwachsen, das jedoch sehr bruchstückhaft und nur an einzelnen szenischen Beispielen. Sie selbst ist mittlerweile Anthropologin, welche Beerdigungsrituale verschiedener Völker erforscht.

Durch die recht kurzen Textpassagen wirkt die Geschichte recht locker erzählt. Inhaltlich zeigen sich jedoch zunehmend die Erschwernisse eines Aufwachsens in dieser Gegend in dieser historischen Ära. Neben Armut, Missbrauch und Drogenkonsum wird die Verwahrlosung eines Viertels beschrieben. Leider bleiben viele Themen nur oberflächlich angekratzt oder lassen gänzlich eine historische Einordnung vermissen. Gerade die Perspektive der erwachsenen August hätte hier mehr Reflexionsfähigkeit bieten können. Zeitweise war ich von einzelnen Sätzen und Feststellungen im Roman emotional tief getroffen, aber über die nur 160 Seiten hinweg verpuffte dies wieder. Um einen tiefgreifenden Eindruck zu hinterlassen fehlten dem Roman vielleicht noch 100 weitere Seiten. Wäre ich nicht mit einem gewissen Vorwissen zum zeitlichen, räumlichen und ethnischen Rahmen an das Buch herangegangen, hätten sich mir einige Zusammenhänge nicht aus der Lektüre heraus erschlossen.

Schlussendlich handelt es sich durchaus um einen lesenswerten Roman, der sehr gut hätte werden können, wenn die Autorin etwas mehr Substanz geboten hätte. Für den Einstieg ist dieser jedoch sicherlich geeignet, um dann das Interesse an diese (im negativen Sinne) herausstechende Zeit in Brooklyn (und anderen ärmeren Stadtteilen) zu bieten.

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Veröffentlicht am 03.06.2023

Interessantes Konzept, aber noch Luft nach oben

Lukusch
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Benjamin Heisenberg erschafft in seinem Debütroman ein Buch zwischen Reportage, Deep Fakes und Roman. So lesen wir bereits auf den ersten Seiten, dass das Buch angeblich von Heisenberg nur „herausgegeben“ ...

Benjamin Heisenberg erschafft in seinem Debütroman ein Buch zwischen Reportage, Deep Fakes und Roman. So lesen wir bereits auf den ersten Seiten, dass das Buch angeblich von Heisenberg nur „herausgegeben“ sei. Die Eltern des verschwundenen Filmemachers Simon Ritter haben sich an ihn gewandt, um ein größeres Publikum für die Suche nach ihrem Sohn zu aktivieren. Von ihm sei lediglich eine Mappe mit Dokumenten, Schriftstücken, Zeitungsausschnitten sowie Fotos erhalten. Er habe sich auf die Suche nach seinem Jugendfreund Anton und dessen ewigen Begleiter Igor gemacht und sei in Kiew verschwunden. Ob alle Mitschriften von Simon stammten sei nicht bekannt, so der „Herausgeber“.

Im eigentlichen Text begleiten wir nun Simon dabei, wie er sich auf die Spuren von Anton und Igor begibt. Diese waren kurz nach der Tschernobyl-Reaktorkatastrophe aus der Ukraine mit einem damaligen Kinderhilfsprogramm nach Westdeutschland in die Familie von Simon gekommen, um sich von der gesundheitlichen Belastung zu erholen. Nach einigen Jahren wurden sie zurück in die Ukraine geholt und der Kontakt brach ab. Das Merkwürdige: Nun taucht Igor 2019 in den Medien auf als Schachgroßmeister, obwohl doch Anton damals das Schachwunderkind gewesen ist und Igor nur der Begleiter im Hintergrund.

Auf der Verfolgungsjagd, die Simon in verschiedene Städte und Länder führt, begleitet ihn Maria, die Jugendliebe von Anton, Tochter des ehemaligen Schachlehrer Antons und heimliche, unerfüllte Liebe von Simon. Sie entdecken zusammen parapsychologische Phänomene, die bereits in der Jugend der beiden Jungs zu beobachten waren und begeben sich auf riskante Abenteuer.

Die Stärken dieses Romans liegen meines Erachtens ganz klar im Spiel von Heisenberg mit Wahrheit und Fälschung. Er produziert äußerst authentisch wirkende Dokumente und Fotos, die sicherlich einige Leser:innen dazu verführen werden, im Internet nach dem Schachgenie Anton aus Tschernobyl, der sogar mit dem Bundeskanzler Kohl Schach spielte, zu suchen. Die Deep Fakes sind Heisenberg wirklich sehr gut gelungen. Auch weiß man bis zum Schluss nicht, was hier alles in diesem Buch von Heisenberg geplant wurde und was nicht. Das Buch ist ein Schachspiel an sich. Auch die parapsychologischen Anteile sind gut gemacht und regen das Interesse an.

Leider gibt es auch zwei größere Schwächen des Romans. Zum einen drehen sich viel zu viele Textfragmente um die Befindlichkeiten von Simon und Maria in der Jetztzeit. Die Verliebtheit von Simon ging mir richtiggehend auf den Geist beim Lesen. Von Maria erfahren wir zudem einiges aus dem Privat-, Ehe- und Sexleben sowie aus deren Träumen (Nachtschlaf, nicht Hoffnungen). Warum ein Filmemacher seine eigenen Liebeleien aus der Ich-Perspektive heraus erzählt, in einer Dokumentenmappe mit Recherchematerial detailliert beschreiben und abheften sollte, ist fraglich. Genauso fraglich wie warum sich dort aus der personalen Erzählperspektive heraus geschriebene Nachtschlafträume von Maria (und all die anderen persönlichen Informationen) befinden sollten, die nichts zum eigentlichen Plot um Anton und Igor beitragen. Und das ist mein letzter Kritikpunkt: Ich hätte in diesem Roman einfach sehr gern viel mehr von Anton und Igor gelesen. Viel zu stark breitgetreten wird das Hier und Jetzt. Ganz zum Schluss kommt noch einmal richtig Spannung auf und ich las atemlos die Geschichte um Anton. Aber da fehlte mir zwischendrin einfach zu viel.

Somit komme ich zu dem Schluss, dass Heisenberg hier ein sehr interessantes Konzept vorgelegt hat, was aber noch Potential zur Ausarbeitung und Umgewichtung gehabt hätte. Ein guter Roman, den ich durchaus für eine Lektüre empfehlen kann, der entweder noch nicht ganz ausgereift ist oder den ich nicht vollständig verstanden habe, da vielleicht ganz gewiefte Schachzüge darin verwebt sind. Somit 3,5 Sterne von mir für dieses ambitionierte Werk.

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Veröffentlicht am 31.05.2023

Die Mauer zwischen uns und „den Anderen“

Die Mauer
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John Lanchester entwirft in seinem Roman „Die Mauer“ eine nicht allzu ferne Zukunft, in welcher bereits „der Wandel“ vonstattengegangen ist, sprich, das Klima ist gekippt, der Meeresspiegel angestiegen, ...

John Lanchester entwirft in seinem Roman „Die Mauer“ eine nicht allzu ferne Zukunft, in welcher bereits „der Wandel“ vonstattengegangen ist, sprich, das Klima ist gekippt, der Meeresspiegel angestiegen, während Binnenländer austrocknen. Die Lebensbedingungen in vielen Ländern sind dadurch dermaßen beeinflusst, dass sie den Weg über „das Meer“ auf die britische Insel suchen. Die Verzweiflung muss groß sein, denn Großbritannien schützt sich vor „den Anderen“ durch eine Mauer, welche die komplette Insel vom Meer trennt. Das Meer muss bewacht werden durch junge Wehrdienstleistende, die für zwei Jahre mit scharfer Munition auf die Mauer geschickt werden. Hilfesuchende, oder im Sprech der Regierung: „Angreifer“, sollten mit allen Mitteln vom Betreten Großbritanniens abgehalten werden. Kommt einem bekannt vor? Man braucht nur „Mittelmeer“ und „Frontex“ einsetzen und schon bekommt das dystopische Buch von Lanchester natürlich auch schon seine aktuelle Relevanz.

Wir begleiten den jungen Briten Kavanagh als Ich-Erzähler zu seinem ersten Mauereinsatz. Er ist überzeugt von seinem Einsatz und plant für die Zukunft in die Elite aufzusteigen, sich Fernreisen mit dem Flugzeug leisten zu können und einfach „dazuzugehören“. Es wird für den Ernstfall trainiert, denn auf keinen Fall darf eine Person aus Richtung des Meeres die Mauer überqueren, denn es ist bekannt, dass als Exempel genauso viele Verteidiger zur Strafe aufs Meer geschickt werden, sollte ein Anderer einen Durchbruch schaffen. Kavanagh ist dabei keinesfalls der Widerständler-Protagonist, den man an dieser Stelle in einem dystopischen Roman vermuten würde. Er versucht einfach von einer Situation in die nächste zu kommen und dabei möglichst wenige Fehler zu machen. Durch die Erfahrungen, die Kavanagh im Laufe der Geschichte macht, positioniert sich Lanchester natürlich trotzdem ideologisch gegen das Vorgehen dieser zukünftigen Regierung. Die Grausamkeit einer solchen ausschließenden Politik wird immer wieder verdeutlicht. Und das schafft der Autor mit durchaus interessanten Wendungen in der Geschichte bzw. das Ausbleiben von zuvor erwarteten Wendungen. Denn Kavanagh – soviel kann verraten werden – wird auch nicht zum großen Widerständler, und bringt vielleicht noch vollkommen unrealistisch das Regierungssystem ins Wanken. Nein, das Buch erzählt eine vergleichsweise ruhige Geschichte, die wenig Hoffnung ausstrahlt und damit nicht den Weg geht, den viele dystopische Spannungsromane gehen.

Stilistisch bewegt sich Lanchester in soliden Gefilden. Der Schreibstil erlaubt eine zügige Lektüre, macht aber auch keine besonderen literarischen Sprünge. Die Figuren bleiben recht holzschnittartig und zeigen wenig psychologische Tiefe. Damit muss man leben können in diesem Roman.

Es handelt sich hierbei um einen Roman, der sicherlich nicht die Dystopie neu erfindet, aber durchaus auch einmal unerwartete Wege geht. Eine lesenswerte Lektüre, welche man eher als einfachen dystopischen Abenteuerroman und weniger als literarisches Werk sehen sollte, der fortschreibt, was sich leider derzeit in unserer Gegenwart schon bedrohlich ankündigt.

3,5 Sterne dafür von mir, die ich aufgrund des Themas und dem einmal nicht zu heldenhaften Ende aufrunde auf 4 Sterne.

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Veröffentlicht am 31.05.2023

Ein Bericht über die Kolonialzeit in Ostafrika

Nachleben
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„… ich mag Geschichten, aus denen man etwas lernen kann.“ Das lässt Abdulrazak Gurnah eine Figur in seinem Roman „Nachleben“ sagen und man hat nach der Lektüre ebendiesen Romans das Gefühl, dass auch Gurnah ...

„… ich mag Geschichten, aus denen man etwas lernen kann.“ Das lässt Abdulrazak Gurnah eine Figur in seinem Roman „Nachleben“ sagen und man hat nach der Lektüre ebendiesen Romans das Gefühl, dass auch Gurnah genau diese lehrreichen Geschichten besonders mag. Er nutzt das Mittel der Literatur, um seine Leser:innen über das selten beleuchtete Thema der kolonialen Besetzung Ostafrikas durch das Deutsche Kaiserreich aufzuklären.

Dies schafft er anhand von vier Protagonist:innen, denen er in variierender Erzählgeschwindigkeit und mit wechselndem Fokus durch die Zeit der Besetzung durch die deutsche Kolonialmacht und darüber hinaus bis in die bundesdeutsche Geschichte hinein folgt. Zwei dieser Protagonisten, Ilyas und Hamza ziehen beide für die deutsche Schutztruppe in den Krieg gegen die britischen Truppen. Ungeschönt aber auch urteilsfrei berichtet Gurnah über das Leben als sogenannter Askari und „das Leben danach“, nach dem Krieg, nach der Gewalt. Denn so deute ich den Titel des Buches „Afterlives“, statt dem Leben nach dem Tod, scheint hier das Leben nach dem Krieg für ein fernes Land (Deutschland) auf ostafrikanischem Boden. Nüchtern berichtet er von dem Spannungsfeld zwischen Unterdrückung durch die Besatzungsmacht und gleichzeitig die Faszination für „die deutschen Tugenden“. Der Autor fällt dabei eben kein Urteil, weder über seine Protagonist:innen noch über die Kolonialmacht. Er lässt das Geschehen für sich sprechen.

Mit dieser berichtenden, nüchternen Erzählweise musste ich erst einmal warmwerden und bin es wahrscheinlich nicht einmal jetzt geworden, nach Beenden der Lektüre. Und gleichzeitig kann ich anerkennen, was Gurnah hier macht und dass dies eine bewusst gewählte Distanz ist. Manchmal wirkt der Roman mehr wie ein historischer Lehrbuchtext, als ein literarisches Werk. Emotional mitreißend war die Lektüre für mich dadurch nur selten. Gleichzeitig habe ich aber sehr viel über diese geografische Region Ostafrika (ich möchte nicht von einem speziellen „Land“ sprechen, da die Ländergrenzen durch die Kolonialmächte gezogen und die vielen verschiedenen Bevölkerungsschichten in einen Topf geworfen wurden), ihre Geschichte um die Jahrhundertwende 19./20.Jh. und das Leben im Öffentlichen unter einer Besatzungsmacht wie auch im Privaten mit verschiedenen religiösen Vorstellungen, ethnischen Zugehörigkeiten, Bildungsständen und finanziellen Mitteln. Besonders im Mittelteil webt der Autor zusätzlich eine Liebesgeschichte ein, sodass dieser Roman sich keinesfalls ausschließlich im Kriegsgeschehen bewegt und von Gräueltaten berichtet.

Ich muss zugeben, dass ich zunächst vom Roman enttäuscht war. Da für mich persönlich ein Autor, der den Literaturnobelpreis erhalten hat, das Kriterium erfüllt, dass er mit seinen Büchern eine Symbiose aus gekonnter literarischer Form und wichtigem Inhalt schafft. Das wichtige historische Thema erkenne ich hier definitiv an, aber die literarische Form scheint nicht wirklich besonders oder herausragend. Meine eigenen Ansprüche waren schon vor der Lektüre aufgrund des Nobelpreises sehr hoch, wahrscheinlich zu hoch. Denn - mal provokativ gefragt - was kann ein Autor dafür, wenn sein Werk von irgendeinem Gremium ausgezeichnet wird? Man sollte ein Werk auch gesondert davon betrachten können.

Aufgrund des Schreibstils, inklusive der berichtenden, funktionalen Erzählweise und der mir nicht immer nachvollziehbaren Tempiwechsel, schwankte ich direkt nach Beenden des Buches zwischen 3 und 4 Sternen, habe mich aber aufgrund sehr aufschlussreicher Beiträge im Rahmen einer Leserunde schlussendlich doch für das Aufrunden entschieden. Gurnah erzählt eine historisch wichtige, weiterhin erschreckend wenig beleuchtete Geschichte, nämlich die der Deutschen in Ostafrika, aber eben aus Sicht der ansässigen Bevölkerung. Eine Perspektive, die aus der Feder des britisch-sansibarischen Nobelpreisträger Abdulrazak Gurnah unbezahlbar ist, denn wir befinden uns erst am Anfang der Aufarbeitung deutscher Kolonialgeschichte, die bisher entweder kleingeredet oder aus Sicht der Kolonialmacht geschrieben wurde. Umso wichtiger die Stimmen von Autor:innen, die vom afrikanischen Kontinent stammen und lang unterdrückte Perspektiven ans Tageslicht befördern.

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