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Veröffentlicht am 31.05.2023

Interessant im historischen Kontext

Töchter Haitis
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Im Rahmen der Reihe vom Manesse Verlag kann man nun mal wieder eine gänzlich unbekannte, moderne Klassikerin aus einem Land entdecken, was in unserer heutigen Literaturwelt leider kaum auftaucht. Marie ...

Im Rahmen der Reihe vom Manesse Verlag kann man nun mal wieder eine gänzlich unbekannte, moderne Klassikerin aus einem Land entdecken, was in unserer heutigen Literaturwelt leider kaum auftaucht. Marie Vieux-Chauvet gehörte Anfang des 20. Jahrhunderts zur Bevölkerungsgruppe der sog. „Mulatten“ in Haiti. Haiti, ein Land, in dem es die einzige erfolgreiche Revolte gegen eine Kolonialmacht, nämlich Frankreich, gab, was seitdem jedoch durch ein ständiges Auf und Ab in seiner Politik gekennzeichnet ist.

All dies und noch mehr erfährt die Leserschaft des Romans „Töchter Haitis“. Allein mithilfe des Romantextes der Autorin wäre es jedoch schwer, ein Verständnis für die Gegebenheiten und die Geschichte Haitis zu entwickeln. So macht in diesem Falle das Gesamtpaket aus prosaischem Text sowie Anmerkungen des Verlags, Nachwort von Kaiama L. Glover, Professorin an der Columbia University, und editorische Notiz den großen Wert dieser Veröffentlichung aus.

Im Roman von Vieux-Chauvet begleiten wir die Ich-Erzählerin Lotus durch die politischen Unruhen Anfang des 20. Jahrhunderts in Haiti. Sie gehört eigentlich der bevorzugten und machthabenden Bevölkerungsgruppe der Mulatten an. Laut Anmerkungen war „Mulatte“ ursprünglich eine Bezeichnung für Personen mit einem schwarzen und einem weißen Elternteil, die nach Vertreibung der Franzosen zur tonangebenden Schicht wurden und im haitianischen Kontext eine gängige (Selbst-)Bezeichnung, kein beleidigender, rassistischer Begriff, wie im Deutschen. Gleichzeitig ist Lotus allerdings die Tochter einer Prostituierten, was sie in einen niederen Gesellschaftsstand bringt. Und sie ist eine Frau, was ihre Möglichkeiten in der Zeit der Handlung einschränkt. Somit verbindet die Autorin in diesem aus dem Jahre 1954 stammenden Roman die Themen „race, class und gender“. Die Protagonistin verliebt sich in einen Revoluzzer und schwankt im gesamten Roman zwischen politisch-gesellschaftlichen Engagement und Liebe für diesen Mann, wird Teil der Bewegung, die sich gegen die festgefahrene Ordnung aufbäumt, hat aber scheinbar gar kein intrinsisches Interesse daran, sondern scheint nur ihren Geliebten gefallen zu wollen. Über den gesamten Roman hinweg versucht sie, mit sich selbst und ihren Selbstzweifeln ins Reine zu kommen. So gestaltet sich der Roman fast wie eine späte Coming-of-Age-Geschichte.

Lotus ist jedoch keine Sympathieträgerin in diesem Roman. Sie ist psychisch auffällig, wankelmütig und melodramatisch. Das macht sie für die Leser:innen unglaublich anstrengend. Ihr Gehabe ist nur schwer auszuhalten und nervt kolossal über den gesamten Roman hinweg. So oft stellt sie sich selbst als ein sensibles, naives Frauchen dar, dass diese Figur aber auch andere der Nebenfiguren antiquiert wirken. Ebenso altmodisch wirkt die überschwänglich, theatralische Sprache. Jedes Auf und Ab von Lotus‘ Gehabe macht die Sprache mit und unterstreicht den aufgeplusterten, antiquierten Stil des Buches. Würde ich allein dies bewerten, wäre ich wohl bei 2,5 bis 3 Sternen gelandet.

Für mich war die Lektüre allerdings ungemein lehrreich und damit mehr als lohnenswert bezüglich des Wissenszuwachses. Da der Verlag mit seiner Aufarbeitung durch Anmerkungen, Nachwort und editorische Notiz wirklich eine herausragende Arbeit geleistet hat, hat er enorm zu meinem Verständnis der Relevanz des Romans im historischen Kontext und bezogen auf die Rolle der Frauen dort beigetragen. So habe ich über Haiti, dessen Geschichte, die politisch-gesellschaftlichen Zerwürfnisse und die Einwohner unglaublich viel gelernt. Insgesamt also ein durch die Aufarbeitung des Verlags lesenswertes Buch für alle, die mehr über Haiti erfahren möchten.

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Veröffentlicht am 31.05.2023

Strapaziös? Definitiv. Genial? Auch das.

Unendlicher Spaß
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Dieses fast 1600 Seiten starke Machwerk von David Foster Wallace (DFW) in inhaltlich in einer kurzen Rezension darzustellen, erscheint ein fast unlösbares Unterfangen. Wartet doch der 1996 erstmals im ...

Dieses fast 1600 Seiten starke Machwerk von David Foster Wallace (DFW) in inhaltlich in einer kurzen Rezension darzustellen, erscheint ein fast unlösbares Unterfangen. Wartet doch der 1996 erstmals im englischsprachigen Original veröffentlichte Roman mit einer massiven Themendichte auf.

Die „Rahmenhandlungen“ (Plural!) spielen sich grob in einer Tennisakademie für 10 bis 18jährige angehende Profisportler, einem nahegelegenen Entzugswohnheim für Drogen- und Alkoholabhängige sowie auf einem Felsbrocken zwischen zwei Agenten. Im ersten Setting geht es hauptsächlich um die Sucht nach Erfolg, Leistungsdruck und Belastungen der jugendlichen Sportler:innen, aber auch um das familiäre System einer der Schüler und gleichzeitig Hauptprotagonist Hal Incandenza. Dessen durch Selbstmord bereits verstorbener Vater gründete die Akademie, widmete sich danach dem Drehen von post-avangardistischen Filmprojekten. Eines dieser Projekte ist der Film „Unendlicher Spaß“, welcher zur Hirnerweichung und dem Tod führt. Das holt die Agenten franko-kanadischer Separatistengruppen sowie des US-Geheimdienstes auf den Plan. Jetzt auch noch verständlich den Erzählstrang in dem Entzugswohnheim hier zu erklären, ist mir einfach nicht sinnvoll möglich.

Sie verschiedenen Erzählstränge werden in nicht-chronologischer Reihenfolge, in wechselndem Muster im Buch angebracht, über die ersten 500 Seiten hat man prinzipiell keine Ahnung, was so wirklich vor sich geht, im Mittelteil hat man das Gefühl, langsam zu verstehen, wohin der Autor mit der ganzen Sache möchte, und verliert diese Idee zum Ende hin wieder vollständig. Das klingt wirr? Ist es auch. Warum lohnt sich trotzdem potentiell eine Lektüre?

Der Roman spielt hauptsächlich im Jahre 2012, was also ca. 16 Jahre vom Entstehungszeitpunkt in der Zukunft liegt. DFW beschreibt die Zersetzung von Individuen und damit auch einer Gesellschaft in einem Maße, was im Jahre 2022 den Leser:innen eine Gänsehaut bescheren kann. Für mich grandios an diesem Roman war jedoch nicht unbedingt die hier erschaffene Welt als Ganzes, sondern bestimmte Textsegmente zu speziellen Themengebieten, die dermaßen authentisch geschildert sind, dass sie Augen öffnend sind. So wird Drogenkonsum, -trips, -abhängigkeit, -entzug usw. wirklich so ausführlich wie – zumindest von mir – noch nie gelesen dargestellt. Auch der Themenkomplex um Anhedonie und schwere Depressionen ist mehr als gelungen. Mit dem Wissen, dass sich DFW in 2008 selbst nach jahrzehntelanger schwerer Depression suizidiert hat, lässt die Beschreibungen diesbezüglich noch einmal in einem ganz intensiveren Licht dastehen. Noch nie hat mir ein Text so stark verdeutlicht, warum es Menschen mit dem Krankheitsbild der schweren Depression den Suizid als einzige alternativlose Möglichkeit sehen zu handeln.

Womit aber dieser Roman und damit auch der Autor DFW am meisten brilliert ist die Sprache. Es ist nicht in Worte zu fassen, wie kreativ der Autor die Sprache zu seinem Mittel macht, um nicht nur eine bitterböse Analyse der Gesellschaft und Kritik an ebendieser zu vermitteln, sondern einfach auch amüsante Plotbausteine einzuweben. Gerade wenn man versucht die aberwitzigen Geschehnisse in diesem Roman einer anderen Person, die das Buch nicht gelesen hat, zu vermitteln, wird das Ausmaß des Humors erst so richtig sichtbar. Bisher habe ich in noch keinem Buch so viele kreative Ideen im Umgang mit Sprache und Handlung erlebt. Was sich vor allem in den kongenialen Anmerkungen des Autors zeigt. Diese umfassen fast 200 Seiten allein, gehören definitiv zum Plot dazu, können und sollten also keinesfalls übersprungen werden, und erzählen mitunter eigene Geschichten für sich. Eigentlich lese ich lieber Fußnoten direkt unten auf der entsprechenden Seite, wie es bei kürzeren Werken DFW‘ gehandhabt wird, aber hier ist dies nicht ansatzweise möglich, wenn allein die „Filmografie“ von Hals Vater ganze 12 Seiten einnimmt.

Und wenn von Sprache die Rede ist, dann muss in Verbindung mit „Unendlicher Spaß“ zwingend der Übersetzer Ulrich Blumenbach - nicht nur genannt, nein - geehrt werden! Glücklicherweise bekam er die Zeit zugestanden, die er für die Übersetzung eines solchen Werkes auch brauchte, nämlich sechs (!) Jahre. Was dieser Mensch hier erarbeitet hat, kann man nicht hoch genug loben. Es handelt sich um Zauberei.

Ich habe das Gefühl, meine Rezension ist einfach nur wirr und zerfasert. Und ganz ehrlich? Der vorliegende Roman ist eine wirre, zerfaserte Zettelkiste. Ein wilder Montageritt, der gleichzeitig unglaublich zäh sein kann. Durch diese knapp 1600 Seiten habe ich mich in vier vierhundert Seiten Abschnitten genähert, durchgekämpft, sie bezwungen. Unverhohlen: Die Lektüre von „Unendlicher Spaß“ kann unendlich anstrengend sein und lässt sich keinesfalls süffig runterlesen. Deshalb ist das Buch keinesfalls etwas für jede Person. Viele werden es frustriert abbrechen. Also kann ich trotz meiner vergebenen vollen Punktzahl hier keinesfalls eine allgemeine Leseempfehlung aussprechen, kann aber garantieren, wer sich die Mühe macht, sich durch diesen Zettelkasten mit den Stimmen von vielen wirklich schwer beschädigten Figuren durchzukämpfen, wird mit einer genialen Gesellschaftskritik, Humor, Kreativität und Spaß an der Sprache belohnt werden.

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Veröffentlicht am 27.05.2023

Vom schwierigen Blick in den Rabenkopf

Raben
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Einer der weltweit bedeutendsten Rabenforschern und Leiter des Departments für Verhaltens- und Kognitionsbiologie der Uni Wien, Thomas Bugnyar, hat ein populärwissenschaftliches Sachbuch mit dem wohl eingängigsten ...

Einer der weltweit bedeutendsten Rabenforschern und Leiter des Departments für Verhaltens- und Kognitionsbiologie der Uni Wien, Thomas Bugnyar, hat ein populärwissenschaftliches Sachbuch mit dem wohl eingängigsten aller möglichen Titeln „Raben“ zu ebendiesen intelligenten und sozialen Vögeln vorgelegt.

Natürlich dreht sich in diesem Buch fast alles um die Raben, aber es ist wichtig zu betonen, dass Bugnyar ebenso viel Wert darauf legt, die Vorgehensweise von verhaltens- und kognitionsbiologischer Forschung den Lesenden nahe zu bringen. So beschreibt er ausführlich und verständlich Studiendesigns, die wissenschaftlich valide und reliabel aber gleichermaßen tierfreundlich angelegt sein müssen. Wir erfahren in diesem Buch nicht nur einiges zu den Fähigkeiten der Rabenvögel, sondern eben auch ganz Konkretes aus den Forschungsstationen Haidlhof und Grünau, die größten weltweit.

Somit kann Bugnyar auch aus einem großen Fundus an eigenen Fotos von genau den Raben schöpfen, über die er in seinem Buch berichtet. So wird das soeben im Text Beschriebene durch wunderbare Farbfotos unterstrichen. Viele davon erscheinen eher wie Schnappschüsse aus den Forschungsstationen, inklusive wissenschaftliche Mitarbeiter, wirken dadurch aber umso authentischer.

Eine Eigenart dieses Sachbuches, welche mich zunächst verwunderte, ist die Angewohnheit Bugnyars all seine aktuellen und ehemaligen (Promotions-)Student:innen, Post-Docs usw. namentlich im Fließtext zu benennen. Ich habe es letztlich als eine Hommage für diese wechselnden Teams, ohne die die wissenschaftliche Arbeit in diesem Ausmaß nicht möglich wäre, verstanden. Nur selten erwähnen angesehene Professoren all ihre wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen, viele lassen sie in Monografien gänzlich unter den Tisch fallen und heimsen das Lob dann ganz für sich allein ein. Dass der Autor hier nicht nur alle Helfer:innen nennt, sondern auch Fotos der Teams im Laufe der vergangenen fast 30 Jahre präsentiert, halte ich schlussendlich für äußerst sympathisch.

Der Autor scheint also ähnlich sozial veranlagt zu sein, wie die Raben, die lautstark „Haa!“ schreien, wenn sie eine Futterquelle entdecken und weitere Raben damit zu sich rufen. Viele interessante Anekdoten aber auch knallharte Forschungsergebnisse nimmt man aus der Lektüre von „Raben“ mit. Dass diese Forschung wichtig ist, um den Menschen zu verdeutlichen, dass sie keineswegs die einzigen Lebewesen mit kognitiven und sozialen Fähigkeiten sind, unterstreicht der Autor. Er verdeutlicht, wie wichtig ein respektvoller Umgang mit allen Tieren, nicht nur seinen Favoriten, den Raben, ist.

Das Buch kann ich allen Interessierten ans Herz legen, egal ob sie Vorwissen im Bereich des wissenschaftlichen Arbeitens haben oder nicht. Und gerade die, die nicht nur fertige Ergebnisse vorgesetzt bekommen, sondern auch einen Blick hinter die Kulissen werfen wollen, können hier nur gewinnen. Für alle, die sich dann weiter belesen wollen hält Bugnyar am Ende des Textes noch Literaturhinweise im Fließtext bereit. Das ist zwar auch etwas ungewöhnlich, da sonst gesondert im Anhang genannt, aber es passt zum „integrativen“ Stil des Buches. „Raben“ ist ein gutes, einfach verständliches „Einstiegsbuch“, so betont der Autor, dass er nicht nur die beiden Säulen der universitären Wissenschaft Forschung und Lehre ernst nimmt, sondern auch die dritte, nämlich die Vermittlung von Information an die interessierte Öffentlichkeit. Ich wünsche ihm eine große Öffentlichkeit für sein Buch und sein Anliegen.

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Veröffentlicht am 27.05.2023

Eindrückliches Werk über die Unterdrückung der Indigenen Bevölkerung Australiens

Wie rote Erde
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Bis zur Lektüre von „Wie rote Erde“ war das Narrativ, welches ich zu den sog. „Aborigines“ und Australien allgemein folgendes: Irgendwann im 18.Jh. wurde Australien nach der „Entdeckung“ durch James Cook ...

Bis zur Lektüre von „Wie rote Erde“ war das Narrativ, welches ich zu den sog. „Aborigines“ und Australien allgemein folgendes: Irgendwann im 18.Jh. wurde Australien nach der „Entdeckung“ durch James Cook zur Strafinsel gemacht, darauf bildeten sich erste Siedlungen und die australischen Ureinwohner wurden „lediglich“ regional ins Landesinnere verdrängt. Irgendwie bekam Australien immer ein edles Bild in meinem Kopf, mir kam nicht der Gedanke, dass mit den First Nations of Australia genauso umgegangen wurde, wie mit anderen Bevölkerungen kolonisierter Kontinente. Natürlich ein fataler Irrglaube!

Der vorliegende Roman von Tara June Finch, einer Wiradjuri-Autorin, deren Vorfahren - und somit auch sie selbst - zur Indigenen Bevölkerung im zentralen New South Wales gehören, ist diesbezüglich mehr als augenöffnend. Mithilfe von drei Erzählebenen berichtet die Autorin von den Folgen, die eine Kolonialherrschaft auf die 50.000 Jahre alte Zivilisation eines Kontinents und deren wenige verbleibenden Mitglieder hat. So geht es auf der Handlungsebene um August Gondiwindi, welche nach einer zehnjährigen Abwesenheit in Großbritannien aufgrund des Todes ihres Großvaters Albert und dessen anstehender Beerdigung wieder an den Ort ihres Aufwachsens, die Farm „Prosperous House“ in einer fiktiven Region Australiens, zurückkehrt. Das heruntergekommene Anwesen, in dem noch immer ihre Großmutter lebt, wird durch ein Zinnabbauunternehmen gefährdet, denn Aboriginals (der etwas weniger kolonial belastete Begriff für früher sog. „Aborigines“) haben keinen rechtsgültigen Anspruch auf Grund und Boden, wenn sie nicht nachweisen können, dass seit Beginn der europäischen Kolonisierung eine ständige Verbindung zum beanspruchten Gebiet aufrechterhalten wurde, z.B. durch kulturelle Praktiken. Aber es haben in der Vergangenheit die europäischen Siedler „natürlich“ (muss man leider sagen) durch grausame Vorgehensweisen dafür gesorgt, dass die Kultur der Aboriginals fast vollkommen vernichtet wurde. Davon erfahren wir durch die beiden anderen Erzählebenen des Romans, denn Augusts Großvater hat kurz vor seinem Tod an einem Wörterbuch mit Begriffen aus der Sprache seines Volkes gearbeitet. Auszüge dieses Wörterbuchs werden immer wieder abwechselnd zu Kapiteln, in denen es um August geht, in den Text eingestreut. Dabei handelt es sich nicht um reine Übersetzungen, sondern um eine Geschichts- und Anekdotensammlung. Albert hat also nicht nur historische Geschehnisse anhand der zu übersetzenden Wörter festgehalten, sondern auch eigene Erlebnisse aus seinem Leben. So zeigt sich ein zunehmend grausames Bild der Herrschaft über die seit tausenden von Jahren auf dem Kontinent und dazugehörigen Inseln lebenden Menschen. Bis in die 1970er Jahre hinein wurden systematisch Kinder in Umerziehungslager gesteckt und zu z.B. Haushaltshilfen erzogen, die dann faktisch als Sklaven gehalten werden konnten. Man wähnt einen Lichtblick auf der dritten Erzählebene zu erkennen, auf welcher ein Brief in mehreren Fortsetzungen zitiert wird, der von einem deutschen, protestantischen Missionar 1915 verfasst wurde. Dieser Pastor gründete die Mission, aus der später Prosperous House entstanden ist. Er beschreibt sich selbst als den Indigenen Menschen offen und mildtätig gegenüber; er habe immer nur das Beste für sie gewollt, indem er sie in die Mission aufnahm, vor den Weißen beschützte und ihnen Schulbildung zukommen ließ. Im Verlauf des Buches kommt man allerdings immer mehr ins Zweifeln, ob sein Handeln in letzter Konsequenz nicht auch zur fast vollständigen Auslöschung der Indigenen Sprache und Kulturtechniken geführt hat.

Diese drei Erzählebenen verknüpft die Autorin wirklich unglaublich gekonnt ineinander, sodass der Spannungsbogen um die Geschichte der Gondiwindis immer straffer zum Ende hin zusammengezogen wird. Winch tappt bei ihrem Plot jedoch nie in die Falle des Kitsches. Steilvorlagen, die andere Autor:innen genutzt hätten, um billig die Emotionen der Leserschaft zu locken, umgeht die Autorin gekonnt, weiß durch Wendungen zu überraschen und dabei hoch informativ zu schreiben. Das wirkt niemals belehrend sondern stets eindrücklich wachrüttelnd. Atemlos verfolgt man die Geschichte um die Anerkennung der Indigenen Bevölkerung und deren Zivilisation noch bis in die aktuelle Gegenwart hinein. Dabei hinkt das Land Australien als Teil des Commonwealth der Zeit hinterher, ist es doch das einzige, das bis zum heutigen Tage kein Abkommen mit seinen Indigenen Bevölkerungsgruppen abgeschlossen hat! Stand doch bis vor wenigen Jahrzehnten noch über den Kinderheimen „Denk Weiß. Handle Weiß. Sei Weiß.“ und wurde dafür gesorgt, dass keine Sprache, kein Jagen, keine Zeremonien erhalten wurde, dass Aboriginals mit Didgeridoo in der Hand zum sauberen Werbebildchen für ein Touristenmagnet geworden sind, ohne eine tatsächliche Anerkennung ihrer Kultur zu erleben.

Der Haymon Verlag hat wirklich eine herausragende Arbeit dadurch geleistet, diesen Roman durch eine sehr gute Übersetzung von Juliane Lochner sowie ein erhellendes Glossar im Anhang verständlich zu machen. Eine vollkommene Abrundung erhält das Buch durch das Nachwort der Autorin, die viele historischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge nochmals verdeutlicht. Allein eine winzige Kritik muss ich an diesem ansonsten großartigen Buch üben: Es wäre hilfreich gewesen, wenn die Begriffe, die ganz hinten im Glossar stehen, im Romantext durch kleine hochgestellte Zahlen kenntlich gemacht worden wären. So wusste man nie, welcher Begriff nun im Anhang zu finden sein wird und welcher nicht. Ein Lesen der Erläuterungen direkt während der Romanlektüre finde ich immer als sinnvoller für das Verständnis als ein nachträgliches Lesen. Besonders loben möchte ich jedoch den Verlag für den feinfühligen Umgang mit der Triggerwarnung. Bereits unter dem Klappentext findet man den Hinweis auf Seite 375 (als auf der letzten Seite) befinde sich eine entsprechende Warnung. So hat man als potentielle:r Leser:in die Möglichkeit schon vor der Lektüre sich dessen bewusst zu sein und sich für oder gegen diese zu entscheiden. Schon häufiger habe ich diese Warnungen einfach so auf der letzten Seite vorgefunden, wenn das Kind schon potentiell in den Brunnen gefallen ist und man den Roman bereits zu Ende gelesen hat.

Abschließend kann ich nur kurz und knapp zusammenfassen: Hierbei handelt es sich um ein erhellendes Lesehighlight zum Thema Kolonialismus und dessen Folgen in einer Region der Erde, die bisher diesbezüglich wenig bis gar nicht in Prosaform beleuchtet wurde. Ich kann dieses Buch nur allen Interessierten ans Herz legen. Man wird danach nie mehr dasselbe Bild von Australien haben, aber wer will schon mit einer beschönigten Geschichtsdarstellung leben?

5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 27.05.2023

Solide Endzeit-Novelle

Die Nacht danach
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In Nikodem Skrobisz‘ nur 99 Seiten dünnen eBook „Die Nacht danach“ entwickelt er eine Versuchsanordnung für den Moment kurz nach einem Atomkrieg. In einem nicht näher benannten westlichen Land entdecken ...

In Nikodem Skrobisz‘ nur 99 Seiten dünnen eBook „Die Nacht danach“ entwickelt er eine Versuchsanordnung für den Moment kurz nach einem Atomkrieg. In einem nicht näher benannten westlichen Land entdecken Scott und Sarah, ein Ehepaar ein einem Trailerpark, und Henry und Celine ein Pärchen, was sich nur für einen One-Night-Stand in der Luxusstrandvilla von Henrys Vater getroffen hat, Blitze am nächtlichen Himmel. Die darauffolgenden roten Atompilze in der Ferne lassen auf einen nuklearen Angriff schließen und bringen die beiden Paare zu ganz unterschiedlichen Schutzmaßnahmen. Scott, ein Afghanistan-Veteran, schaltet schnell und schleppt seine Ehefrau schnellstmöglich in die zumindest ein wenig Schutz bietende Kanalisation. Henry muss mit Celine nicht auf das Abwassersystem zurückgreifen, hat ihm doch sein Vater unter dem Haus einen luxuriösen, mit allem was das Prepperherz sich wünscht ausgestatteten, ABC-sicheren Bunker hinterlassen.

Nun schreibt Skrobisz die divergierende Geschichte dieser beiden Paare, die unterschiedlicher in sozioökonomischem Status und Ausgangssituation nicht sein könnten, über einen Zeitraum von grob zwei Wochen fort. Der Überlebenskampf bekommt ganz unterschiedliche Qualitäten und läuft auf einen Showdown hinaus.

Zugegebenermaßen gefiel mir der Einstieg in diese Geschichte tatsächlich nicht sonderlich. Das lag hauptsächlich an den psychologisch eher unrealistischen Reaktionen der verschiedenen Protagonisten auf das Niedergehen der vielen, markerschütternden Atombomben. Da werden währenddessen und kurz danach knackig-coole Sprüche gemacht, die an Action-Filme aus den 90ern erinnern, in denen der Held immer einen flotten Spruch draufhatte, egal in welcher brenzligen Situation er sich befand. Gut, nun wird die Geschichte vom Autor als „Ein (sic) Tragikomödie, die von der Struktur ein Kammerspiel ist, erzählt in Romanform.“ beschrieben. Komödienhaft waren die Kommentare allerdings für mich nicht, eher – wie gesagt – unrealistisch. Und „tragisch“ ist nun einmal die Grundlage dieser Geschichte: ein Atomkrieg. Tragik im Speziellen bietet über die aus diversen Endzeitszenarien in Film- und Buchform bekannten Probleme im Überlebenskampf hinaus, die Geschichte nicht.

Was die Geschichte jedoch zu bieten hat, ist mit Fortlauf der Lektüre eine sehr gute Darstellung der Atmosphäre während den ersten Tagen nach einem Atomkrieg und dem knappen Überleben. So fühlt man sich an Cormac McCarthys Beschreibung der Düsternis einer untergehenden Welt in „Die Straße“ erinnert. Der Vorteil von Skrobisz‘ Buch: Es ist weitaus kürzer und demnach keinesfalls so langatmig, wie es bei McCarthy manchmal der Fall ist. Die für mich aber größten Stärken dieser Veröffentlichung sind die moralischen Fragen, die das Buch im Verlauf aufwirft: Wofür lohnt es sich überhaupt so etwas zu überleben? und Was ist zielführender und moralisch vertretbarer; Kooperation oder seine eigenen Wege gehen, um zu überleben? Auch wird durch die unterschiedlichen finanziellen Voraussetzungen der beiden Paare die Frage der Überlebenschancen im Spannungsfeld „arm vs. reich“ aufgeworfen.

Meines Erachtens handelt es sich hierbei um eine solide Novelle, die als Ausgangspunkt das Szenario eines Atomkrieges wählt, und kurz und knapp den ein oder anderen Denkanstoß geben kann. Das ist sicherlich am besten für Leser:innen geeignet, die sich zuvor gedanklich eher wenig mit dem Thema beschäftigt haben und nun damit erstmals in Berührung kommen. Für Leser:innen, die sich schon eingehender diesbezüglich belesen haben, wird das Buch keine signifikant neuen Erkenntnisse bieten können. Somit also ein guter Startpunkt, der durchaus noch Potential nach oben hat. Ausgehend von den zuvor veröffentlichten Werken des 23jährigen Autors ist definitiv von diesem Potential auszugehen und seine zukünftigen Veröffentlichungen sollten im Auge behalten werden.

3,5/5 Sterne

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