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Veröffentlicht am 27.05.2023

Eine Odyssee durch das Los Angeles des Jahres 1965

Graffiti Palast
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„Wie in Selma!“ rufen die Demonstranten 1965 im Stadtteil Watts. Das Getto in Los Angeles fängt metaphorisch und tatsächlich Feuer, als durch die öffentliche, brutale Verhaftung von zwei schwarzen Jugendlichen ...

„Wie in Selma!“ rufen die Demonstranten 1965 im Stadtteil Watts. Das Getto in Los Angeles fängt metaphorisch und tatsächlich Feuer, als durch die öffentliche, brutale Verhaftung von zwei schwarzen Jugendlichen und die Mutter des einen eine Kette von Ereignissen ins Rollen gebracht wird, die die stete Spannung den Frust der Diskriminierten zum Überlaufen bringt. Über mehrere Tage hinweg bestimmen die Unruhen und Kämpfe zwischen schwarzen Anwohnern und weißen Polizisten das Leben in diesem Gebiet L.A.s. Mittendrin befindet sich Monk. Er ist ein selbsternannter Semiologe und wandert durch die Stadt auf der Suche nach neuen Graffitis und Tags, die Auskunft geben über Bandengebiete, Gesellschaftskritik üben oder einfach nur ästhetisch schön sind. All das notiert er in seinem Notizbuch, welches so zu einer inoffiziellen Landkarte des aktuell umkämpften Gebiets wird. Während Monk immer wieder von seinem Weg zurück nachhause abgebracht wird, wartet dort seine schwangere Partnerin auf ihn und bangt um dessen Sicherheit in einer Welt, die aus den Fugen geraten scheint.

A. G. Lombardo schafft in seinem Roman „Graffiti Palast“ etwas ganz Außergewöhnliches. Er vermischt die aufgeheizte Stimmung in den schwarzen Communities der 1960er Jahre, anhaltende Polizeigewalt gegenüber Minderheiten, aber auch den Jazz der Straße und der Clubs mit der Geschichte von Odysseus, dem Held der griechischen Mythologie, dessen zehnjährige Irrfahrt auf der Heimreise aus den Trojanischen Kriegen sagenumwoben ist. Monk ist hier unser Odysseus, er versucht zu seiner Penelope heimzukehren, die währenddessen auf einer nicht enden wollenden Hausparty, welche einer Belagerung gleicht, von angeblichen Freunden Monks umworben wird, sich ihren Annäherungsversuchen entziehen muss und sehnlichst auf die sichere Rückkehr des Vaters ihres noch ungeborenen Kindes wartet. Monk in der Zwischenzeit wird von verschiedensten Personengruppen und Verlockungen, abgeschnittene Wege durch die Unruhen und mysteriöse Zufälle von seinem Heim ferngehalten. Mal schnappen ihn sich die militarisierten Fruits of Islam, die Mitglieder der Nation of Islam, um ihn anzuwerben. Mal wird er von der Polizei verhaftet, mal landet er in der Hand der einen Gang mal in der der anderen. So treibt er durch die Stadt, passt sich dem Rhythmus dieser an und passt gleichzeitig irgendwie gar nicht dazu.

Das ist wild und mitunter surreal erzählt. Man hat das Gefühl und Halluzinogenen ein wildes Jazzstück zu hören und mal hierhin und dorthin gezogen zu werden. Das Buch scheint eine unendliche Geschichte und man wähnt schon Monk verloren in den Untiefen von Feuer und Gosse. Währenddessen schafft es jedoch Lombardo gekonnt damals wie heute brandaktuelle Gesellschaftskritik zu üben, fügt knallharte Sätze ein, die die Lebensrealität so vieler Schwarzer damals und heute einfangen. So wundert man sich oft, wie es sein kann, dass diese Welt des Jahres 1965 der Welt des Jahres 2022 so stark ähneln kann. Es werden nicht nur dysfunktionale Beziehungen zwischen den ethnischen Gruppen sondern auch innerhalb der schwarzen Community aufgezeigt. So hebt er die wichtige Rolle der schwarzen Frauen hervor indem er schreibt: „Tausende schwarze Frauen kommen von der Arbeit. Keine Männer – die sind fort, geraubt von Polizei, Drogen, Suff, der Landstraße, Glücksspiel, Zuhälterei, Geliebten, Huren, Billardsalons, oder dem Tod. Die Frauen kehren zurück zu ihren Familien, zu Kindern, die nicht mehr nach Daddy fragen, zu Stille und Leere, die ihre Seelen betäuben und vernichten.“ Ebenso gnadenlos sind die Beobachtungen zu den Mechanismen innerhalb der Polizei während der Unruhen: „Die ganze Nacht ist Jagdsaison, und jeder Abschuss, ob tödlich oder nicht, bedeutet eine Dienstaufsichtsermittlung, die einem ein paar entspannte freie Tage einbringt. […] bis wie immer auf ‚Gefahr im Verzug‘ oder ‚berechtigte Notwehr‘ entschieden wird.“

Und Monk „will doch nur durch die Stadt kommen, unbehelligt von all den Parteien und Interessengruppen, will nur ihre Zeichen studieren und friedlich Wissen über sie ansammeln.“ Stattdessen hängt er fest in immer wieder neuen Verirrungen in dieser endlosen Nacht des Feuers, der Zeichen und der Wunder. Zeit spielt hier keine Rolle mehr, es scheint alles nur eine unendliche Abfolge von Schlaf, Bewusstsein, Traum und Halluzination.

Das ist alles schon grandios gemacht. Man muss aber eine gewisse Toleranz für gefühlt niemals enden wollende Irrfahrten haben, um diesen Roman bis zum Ende interessiert folgen zu können. Zugegebenermaßen fehlte mir manchmal die Geduld mit der Geschichte. Warum sich Monk immer und immer wieder von seinem Weg abbringen lässt, war für mich manchmal kaum auszuhalten. Deshalb erschien mir das Buch während der Lektüre auch einen Tacken zu lang, weshalb ich nicht die volle Punktzahl dafür herausrücke. Trotzdem bleibt dieser ungewöhnliche Roman definitiv eine Leseempfehlung für alle, die sich von den oben genannten Themenbereichen angesprochen fühlen. Das ist ein Roman, wie ich ihn in dieser Form bisher noch nie gelesen habe. Wirklich sehr interessant.

4,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 27.05.2023

Ein warmherziger Roman mit Tiefgang

Zweckfreie Kuchenanwendungen
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Wer dieses wunderbar gestaltete Buch des Kröner Verlags in die Hand nimmt und zum Lesen aufschlägt, kann sich zweier Dinge sicher sein: Dass man währenddessen ständig Appetit bekommen wird und dass man ...

Wer dieses wunderbar gestaltete Buch des Kröner Verlags in die Hand nimmt und zum Lesen aufschlägt, kann sich zweier Dinge sicher sein: Dass man währenddessen ständig Appetit bekommen wird und dass man das Buch nicht mehr aus der Hand legen möchte, bis man es bis zur letzten Seite inklusive jeder Anmerkung eingesogen hat. Oder sollte ich besser sagen, weg gefuttert hat?

Die Singapurische Autorin Yeoh Jo-Ann erschafft in ihrem ersten Roman eine Welt, die die Lesenden fasziniert, überrascht aber vor allem warm hält. Zunächst bekommen wir den grummeligen Sukhin vorgestellt, welcher als 35jähriger Lehrer irgendwie mit sich und der Welt unzufrieden zu sein scheint. Dem tut er manchmal offen verbal, meist aber nur gedanklich kund und wirkt dadurch unwillkürlich in seiner Grantigkeit urkomisch. Schnell schließt man diesen Menschen ins Herz, wie eigentlich jede andere Figur auch in Yeoh Jo-Anns Roman. Die Handlung der Geschichte kommt ins Rollen, als Sukhin vollbeladen mit Schnickschnack für das Chinesische Neujahrsfest quasi in die Wohnung seiner ehemaligen Schulfreundin und großen Liebe Jinn hineintrampelt. Diese besteht nämlich aus einem Haufen Kartons, da Jinn auf der Straße lebt.

Aus dieser schicksalhaften Begegnung entspinnt sich nun eine über einen längeren Zeitraum hinweg erzählte Geschichte, die sich keineswegs nur um Sukhin und die zaghafte Wiederannäherung an Jinn dreht, sondern ebenso um Themen wie Homosexualität in Singapur, die Ressourcenverschwendung in einer heutigen, modernen Gesellschaft, der Zusammenhalt von Familie oder der selbstgewählten Familie. Mit sehr viel Feingefühl nähert sich die Autorin ihren Figuren durch Rückblicke an und kann dadurch diese facettenreich und wandlungsfähig darstellen. Tiefsinnig beschäftigt sie sich dabei mit ihren Figuren und deren Beziehungen untereinander wie auch den ausgesuchten gesellschaftlichen Themen. Nie wirkt der Roman dabei überfrachtet, immer leicht zu lesen und ausgeglichen. Allein die Darstellung der (offiziell in Singapur nicht vorhandenen) Obdachlosigkeit sowohl selbstgewählt bei Jinn als auch bei anderen auftauchenden Menschen, die auf der Straße leben, erschien mir bisweilen ein klein wenig zu unproblematisch.

Sprachlich besticht der Text durch seinen auflockernden, trockenen und immer ins Schwarze treffenden Humor. So häufig musste ich während der Lektüre schmunzeln, um seiner wahren aber nie zynischen Einschübe. Den Roman außergewöhnlich machen sporadisch eingefügte, kursiv gesetzte Texteinschübe, in welche eine gewisse Melancholie, die man in der Haupthandlung sonst nicht findet, beinhalten und sich sukzessive in das Wissen, welches man während der Lektüre erwirbt, einweben. Diese Passagen muten im Rahmen des ansonsten eher süffig geschriebenen Romans besonders poetisch an und entwickeln ihren ganz eigenen Sog, der einen großen Anteil am Spannungsbogen des Buches hat.

Dieser amüsante, einfühlsame, literarische Unterhaltungsroman verströmt meines Erachtens mit jeder Pore die Atmosphäre, die vergleichbar in der deutschsprachigen Literaturwelt Mariana Leky in ihren Romanen um interessante, liebenswerte Charakterköpfe, die vor ihren ganz eigenen Problemen und den Problemen der Welt stehen und gemeinsam irgendwie einen Weg durch die schweren Zeiten finden, heraufbeschwört. Für mich wäre „Zweckfreie Kuchenanwendungen“ ein guter Anwärter auf den Preis „Lieblingsbuch der Unabhängigen“. Eins meiner Lieblingsbücher des Jahres 2022 ist es schon jetzt geworden. Also lest dieses wunderbare Buch und lernt den multikulturellen Stadtstaat Singapur, seine Einwohner und gleich mit den Verlag Kröner kennen! Denn dieser hat nicht nur ein schön anzusehendes Buch entworfen, sondern auch noch für eine großartige Übersetzung durch Gabriele Heafs und deren Anmerkungen zum Text gesorgt.

4,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 27.05.2023

Auf zu vielen Gleisen unterwegs

Was dir bleibt
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Der Roman der von mir sehr geschätzten Autorin Jocelyn Saucier verpackt vier Erzählschichten in einem Buch. Laut Klappentext geht es um Gladys, eine 76Jährige, die ihre psychisch kranke Tochter zuhause ...

Der Roman der von mir sehr geschätzten Autorin Jocelyn Saucier verpackt vier Erzählschichten in einem Buch. Laut Klappentext geht es um Gladys, eine 76Jährige, die ihre psychisch kranke Tochter zuhause allein zurücklässt und sich auf eine wirre Zugfahrt durch den Nord-Osten Kanadas aufmacht. Nach und nach soll aufgeklärt werden, was es mit der Zugirrfahrt der älteren Dame auf sich hat. Das ist aber nur ein Teil dieses Buches. Die größere Klammer entsteht dadurch, dass ein Ich-Erzähler berichtet, er sei mit dem Verschwinden der älteren Dame in Kontakt gekommen (wie, wird zunächst nicht erklärt) und gehe nun schon seit mehr als zwei Jahren dem Bedürfnis nach, die Geschichte von Gladys aufzuschreiben bzw. zu recherchieren. Er sei Lehrer und Eisenbahnnarr, daher kein richtiger Autor. Zu diesem Erzähler später mehr. Um diese Klammer des "Wer erzählt hier eigentlich wie und warum" schließt sich noch die Klammer, dass unser Ich-Erzähler gegen Ende des Romans mit seiner eigenen Geschichte ins Zentrum rückt und Gladys verdrängt. Und ganz tief im inneren der gesamten Romangeschichte steckt als zentrales Thema das Reisen mit der Eisenbahn im nur dünn besiedelten Nord-Osten Kanadas.

Für mich machte dieses letzte, zentrale Thema letztlich und eigentlich auch unerwartet den einzigen Reiz der Lektüre aus. Es ist wirklich interessant, was man aus diesem Buch über die Nutzung der Zugstrecken in dieser Region mit (fast) unendlichen Weiten alles erfährt. Man erfährt, dass Züge regelmäßig Verspätungen von einem Tag haben können, da der Personenverkehr dem Güterverkehr nachgestellt wird. Man erfährt, dass es früher "school trains" gab, in denen ein Lehrer mit seiner Familie durch Kanada gefahren wurde, um immer für zwei Wochen am Stück auf einem Abstellgleis zu parken und die Kinder der abgelegensten Regionen zu unterrichten. Wir erfahren, dass ein fast freundschaftlich-familiäres Verhältnis zwischen Zugchefs und regelmäßigen Fahrgästen besteht, dass auch mal auf freier Strecke angehalten wird, um Kanu-Fahrer mitzunehmen. Hm, jetzt habe ich bereits die interessantesten Informationen ausgeplaudert. Lohnt sich also darüber hinaus noch eine Lektüre?

Meines Erachtens nicht zwingend. Denn der Ich-Erzähler geht einfach nur unglaublich auf die Nerven mit seinen ständigen Erklärungen, warum er denn nun wieder einmal etwas nicht gut erzählen kann, warum er nicht zum Punkt kommt und sich immerzu entschuldigen muss. "Sollte meine Erzählung eines Tages Leserinnen und Leser finden, so bitte ich um Vergebung für die Unordnung. Obwohl ich erst ganz am Anfang stehe, merke ich jetzt schon, wie mir die Fäden entgleiten." Soll das eine Warnung an uns Leser:innen sein, dass auch Jocelyn Saucier so ihre Probleme mit ihrem Stoff hatte? Nach Abschluss der Lektüre glaube ich das tatsächlich. Denn sie bekommt ihren Stoff nicht unter eine Decke. Die Geschichte um Gladys wird zur Nebensache, diese Figur ist die, die am wenigsten Form bekommt in diesem Roman. Spätestens auf Seite 196 endet deren Geschichte, verpufft ins Nirwana und wirkt auch nicht nachhaltig nach. Natürlich war es ihre letzte Zugreise, das wird schon nach den ersten Seiten klar. Dann folgen noch 60 Seiten Palaver des Ich-Erzählers und er berichtet uns ausführlichst, wie es mit ihm nach dem Ende der Zugreise von Gladys weitergegangen ist. Dazu hatte ich dann gar keinen Bezug mehr und fühlte mich neuerlich von ihm genervt. So schreibt er zum Ende hin: "Bernie fragt mich häufig, wie weit ich bin. Ich antworte, es würden immer mehr Seiten, aber ein Ende sei nicht in Sicht." AMEN.

Meines Erachtens wurde die Autorin hier von ihren eigenen Ideen überrollt, hat vier Geschichten in eine gepackt und ist dann nicht mehr damit zurecht gekommen. Rund wirkt das Endergebnis für mich leider dadurch gar nicht. Allein die Informationen zum Eisenbahngewerbe in Kanada war nachhaltig. Allerdings habe ich die Vermutung, dass man diese Infos durchaus auch z.B. aus einer ARTE-Dokumentation hätte ziehen können. Dabei hätte der Mehrwert in zusätzlichen schönen Filmimpressionen gelegen.

Leider kann ich eine Lektüre von "Was dir bleibt" nicht ohne weiteres empfehlen. Wenn man einen selbstunsicheren Erzähler, der ständig seinen Fortschritt kommentieren muss, ertragen kann, dann könnte es vielleicht eine kurzweilige Lektüre werden. Ansonsten gilt eher: Finger weg.

2,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 27.05.2023

„Woher ich lese“

Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen
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Schon die Übertragung des Originaltitels dieses Buches ins Deutsche ist ein Problem, was thematisch super ins Buch gepasst hätte. So lautet dieser „Where I‘m Reading From“, wenn man es direkt übersetzen ...

Schon die Übertragung des Originaltitels dieses Buches ins Deutsche ist ein Problem, was thematisch super ins Buch gepasst hätte. So lautet dieser „Where I‘m Reading From“, wenn man es direkt übersetzen wollte etwa: „Woher ich lese“. Viel kraftvoller und verständlicher wirkt da der unübersetzte Titel. Die Übersetzerinnen Ulrike Becker und Ruth Keen haben sich mit dem Verlag für „Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen“ entschieden. Inhaltlich bekommt das Ganze damit einen ganz neuen Kontext.

Warum ist die eben geführte Diskussion so relevant? Weil unter anderem auch genau dieses Thema der literarischen Übersetzung in Tim Parks Essays behandelt wird. Tim Parks ist selbst Übersetzer, Autor, Essayist und Kritiker. So beleuchtet er in seiner Essaysammlung verschiedene Themen des globalisierten Literaturwelt. In den vier Teilen des Buches verfolgt er folgende Bereiche: „Die Welt des Buches“ (1) mit Fragen um Copyright, den langweiligen neuen globalen Roman, das Beenden von Lektüren oder der unterschiedlichen Einschätzung ein und desselben Buches durch unterschiedliche Leser:innen. „Das Buch in der Welt“ (2) behandelt sehr aufschlussreich die Vergabe des Literaturnobelpreises und seine Sinnhaftigkeit, die bevorzugten Nationen auf dem Buchmarkt, oder die Glorifizierung von Schriftstellern. „Die Welt des Schriftstellers“ (3) taucht in die Tätigkeit des Bücherverfassens und -veröffentlichens ein. Und zuletzt „Schreiben rund um die Welt“ (4) über die Übermacht des amerikanischen Buchmarktes, die Vereinheitlichung von Übersetzungen und das nachträgliche Ausbügeln von Texten nach den Wünschen des Buchmarktes.

Viel lernte ich in diesem Buch über die Zusammenhänge des globalen Literaturmarktes. Es geht grundsätzlich sowohl um das Lesen als Kritiker, Wissenschaftler, Übersetzer oder auch „einfacher“ Leser als auch um das Schreiben als Romanautor, Essayist und Wissenschaftler. Über weite Strecken verpackt Parks seine Thesen, denen ich nicht immer pauschal folgen würde, äußerst unterhaltsam und kurzweilig. Weniger aufregend erschien mir der Mittelteil des Buches, welcher sich stark um die sog. „Klassiker“ dreht. Hier überwiegend männliche und britisch-englische oder amerikanisch-englische Autoren, die man dem „Kanon“ zuordnen würde (Dickens, Beckett, Hardy). Es wird ausschweifend über deren Autorenpersönlichkeit und die fließenden Übergänge zu ihren Werken gesprochen. Da mein persönliches Interesse an deren Literatur und Persönlichkeiten eher gering ist, war dies ein etwas zäher Abschnitt. Viel besser gefielen mir die übergreifenden Betrachtungen zur Welt der Literatur. Vor allem die dargestellten Ungenauigkeiten, die bei literarischen Übersetzungen entstehen können, waren für mich augenöffnend und verstärkten den Wunsch, viel mehr Originalliteratur zu lesen. Auch werde ich nach dieser Lektüre die Vergabe des Literaturnobelpreises viel kritischer hinterfragen, wenn nicht gar nur noch nebenher wahrnehmen. Manche Einsichten aus der Lektüre können die Wahrnehmung schärfen und die Wachsamkeit als Leser:in positiv beeinflussen.

Insgesamt handelt es sich also meines Erachtens um eine äußerst lesenswerte Essaysammlung. Ich hatte viel Freude damit, sie war aufschlussreich und erhellend. Wer also die „alten weißen Männer“-Klassiker besser tolerieren kann als ich oder sogar besonderes Interesse an den englischsprachigen Klassikern hat, wird hier sicherlich ein Lesehighlight für sich entdecken können. Es wird auf jeden Fall allen gefallen, die selbst gern hinter die Kulissen der Literaturwelt blicken und sich nicht nur von den Endergebnissen in Form von Romanen berieseln lassen wollen.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 27.05.2023

Verrat und wie man seine Wunden heilt – vielleicht.

Verräterkind
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Zu was für einem Menschen wächst man heran, wenn man sich auf nichts, was einem der eigene Vater erzählt, verlassen kann? Wenn dieser ein notorischer Lügner und Trickser ist, cholerisch, unvorhersehbar, ...

Zu was für einem Menschen wächst man heran, wenn man sich auf nichts, was einem der eigene Vater erzählt, verlassen kann? Wenn dieser ein notorischer Lügner und Trickser ist, cholerisch, unvorhersehbar, manipulativ? Wird man ein Mensch, der sich als Lebensinhalt die Suche nach der Wahrheit auf die Fahnen schreibt?

Man könnte vermuten bei Sorj Chalandon sei dies der Fall gewesen, denn er ist ein hoch angesehener Journalist, Kriegsreporter und Schriftsteller geworden, nachdem er ein Leben lang seinem Vater kein Wort hat sicher glauben können. Der Vater des Autors, so entnehmen wir dem autofiktionalen Roman „Verräterkind“, soll während der deutschen Besatzung in Frankreich auf Seiten der Feinde, der Deutschen, gekämpft haben. So deutet es zumindest der Großvater des Erzählers an, als er dem Jungen an den Kopf wirft, er sei ein „Verräterkind“. Der Vater jedoch erzählt dem jungen Sorj immer wieder, wie er für die Résistance gekämpft und heldenhaft das Vaterland verteidigt habe. Was Wahrheit und was Lüge ist, versucht nun der Ich-Erzähler, gerade während in seiner Heimatstadt Lyon in 1987 der große Prozess gegen Klaus Barbie, der Gestapo-Mann, der in Lyon und Umgebung für schlimmste Gräueltaten verantwortlich war, stattfindet und der Erzähler selbst als Gerichtsreporter von vor Ort berichten soll, herauszufinden.

Von der ersten Seite an nimmt einen die Erzählweise Chalandons gefangen. „Gefangen“ erscheint hier das richtige Wort, denn man ist gefangen in scheußlichen Taten gegen Kinder, Frauen, Männer – Menschen. Entsetzt liest man von einer Massenverschleppung aus einem französischen Kinderheim, welches jüdischen Kindern ein sicherer Ort hätte sein sollen. Ab diesem Punkt des Buches wechselt die Erzählung stets zwischen der Gerichtsverhandlung um Barbie und der ganz persönlichen Wahrheitssuche des Ich-Erzählers bezüglich der Taten seines Vaters hin und her. Ganz meisterhaft verknüpft hier Chalandon zeitlich zwei Prozesse. Einen Gerichtsprozess und einen Prozess der steten Annäherung und wieder Entfernung eines Sohnes von seinem Vater. Anhand von historischen Dokumenten aber auch immer wieder der direkten Konfrontation mit dem eigenen Vater versucht der Erzähler zu verstehen, was der Vater wirklich getan und warum er so gehandelt hat. Auf welcher Seite der Vater wirklich stand und ob er irgendetwas von dem, was der Erzähler von seinem Vater als Kind und noch als Dreißigjähriger gehört hat, glauben kann. Was das mit dem Erzähler macht, wird sprachlich stets auf den Punkt genau in kurzen Vignetten zwischen und auch während der Prozesstage um Klaus Barbie immer wieder eindrücklich verdeutlicht. So wandelt sich innerhalb des Romans der Begriff „Verrat“ und „Verräter“ immer wieder aufs Neue. Ist doch der Vater ein vermeintlicher Verräter, so fühlt es sich für den Sohn so an, als würde er mit seinem „Prozess“ am Vater diesen verraten, aber auch der Sohn fühlt selbst vom Vater verraten.

Dass es sich bei Sorj Chalandon um einen großartigen Schriftsteller handelt, weiß man spätestens seit „Am Tag davor“. Präzise Formulierungen wie „Ich war dabei, die Kriege meines Vaters zu entdecken. Ob falsch oder wahr, das wusste ich nicht mehr, aber ich wollte nicht zum Ende seiner Geschichte gelangen, wie man ein Buch querliest.“ oder „Alles, was du behauptet hattest, war falsch, und alles, was du erzählt hattest, war wahr.“ brennen sich ins Gedächtnis der Leser:innen ebenso ein wie die schrecklichen Zeugenaussagen der Opfer während des Barbie-Prozesses. Vor allem mit der Konstruktion dieses Romans – und daran sieht man, warum ein Roman manchmal die bessere Form für eine Auseinandersetzung mit der eigenen und Familienbiografie sein kann – liefert der Autor ein Meisterstück ab. Diese kluge Dichtung und Verdichtung überzeugt auf allen Ebenen und unterstreicht, dass es sich bei Chalandon nicht nur um einen reinen Reporter sondern auch Romanautor handelt. Und wie schon bei „Am Tag davor“ hält der Autor eine überraschende Wendung am Ende des Romans für uns bereit.

Ich bin durch und durch begeistert von Sorj Chalandon sowohl als Autor als auch von seinem vorliegenden autofiktionalen Roman „Verräterkind“, welches erneut ein absolutes Highlight für mich darstellt. Also lest diesen eindrücklichen Roman um Wahrheit und Lüge, um Annäherung und Abstoßung sowie vielleicht auch um ein wenig Heilung durch den Prozess der Wahrheitssuche.

5/5 Sterne

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