Verrat und wie man seine Wunden heilt – vielleicht.
Zu was für einem Menschen wächst man heran, wenn man sich auf nichts, was einem der eigene Vater erzählt, verlassen kann? Wenn dieser ein notorischer Lügner und Trickser ist, cholerisch, unvorhersehbar, ...
Zu was für einem Menschen wächst man heran, wenn man sich auf nichts, was einem der eigene Vater erzählt, verlassen kann? Wenn dieser ein notorischer Lügner und Trickser ist, cholerisch, unvorhersehbar, manipulativ? Wird man ein Mensch, der sich als Lebensinhalt die Suche nach der Wahrheit auf die Fahnen schreibt?
Man könnte vermuten bei Sorj Chalandon sei dies der Fall gewesen, denn er ist ein hoch angesehener Journalist, Kriegsreporter und Schriftsteller geworden, nachdem er ein Leben lang seinem Vater kein Wort hat sicher glauben können. Der Vater des Autors, so entnehmen wir dem autofiktionalen Roman „Verräterkind“, soll während der deutschen Besatzung in Frankreich auf Seiten der Feinde, der Deutschen, gekämpft haben. So deutet es zumindest der Großvater des Erzählers an, als er dem Jungen an den Kopf wirft, er sei ein „Verräterkind“. Der Vater jedoch erzählt dem jungen Sorj immer wieder, wie er für die Résistance gekämpft und heldenhaft das Vaterland verteidigt habe. Was Wahrheit und was Lüge ist, versucht nun der Ich-Erzähler, gerade während in seiner Heimatstadt Lyon in 1987 der große Prozess gegen Klaus Barbie, der Gestapo-Mann, der in Lyon und Umgebung für schlimmste Gräueltaten verantwortlich war, stattfindet und der Erzähler selbst als Gerichtsreporter von vor Ort berichten soll, herauszufinden.
Von der ersten Seite an nimmt einen die Erzählweise Chalandons gefangen. „Gefangen“ erscheint hier das richtige Wort, denn man ist gefangen in scheußlichen Taten gegen Kinder, Frauen, Männer – Menschen. Entsetzt liest man von einer Massenverschleppung aus einem französischen Kinderheim, welches jüdischen Kindern ein sicherer Ort hätte sein sollen. Ab diesem Punkt des Buches wechselt die Erzählung stets zwischen der Gerichtsverhandlung um Barbie und der ganz persönlichen Wahrheitssuche des Ich-Erzählers bezüglich der Taten seines Vaters hin und her. Ganz meisterhaft verknüpft hier Chalandon zeitlich zwei Prozesse. Einen Gerichtsprozess und einen Prozess der steten Annäherung und wieder Entfernung eines Sohnes von seinem Vater. Anhand von historischen Dokumenten aber auch immer wieder der direkten Konfrontation mit dem eigenen Vater versucht der Erzähler zu verstehen, was der Vater wirklich getan und warum er so gehandelt hat. Auf welcher Seite der Vater wirklich stand und ob er irgendetwas von dem, was der Erzähler von seinem Vater als Kind und noch als Dreißigjähriger gehört hat, glauben kann. Was das mit dem Erzähler macht, wird sprachlich stets auf den Punkt genau in kurzen Vignetten zwischen und auch während der Prozesstage um Klaus Barbie immer wieder eindrücklich verdeutlicht. So wandelt sich innerhalb des Romans der Begriff „Verrat“ und „Verräter“ immer wieder aufs Neue. Ist doch der Vater ein vermeintlicher Verräter, so fühlt es sich für den Sohn so an, als würde er mit seinem „Prozess“ am Vater diesen verraten, aber auch der Sohn fühlt selbst vom Vater verraten.
Dass es sich bei Sorj Chalandon um einen großartigen Schriftsteller handelt, weiß man spätestens seit „Am Tag davor“. Präzise Formulierungen wie „Ich war dabei, die Kriege meines Vaters zu entdecken. Ob falsch oder wahr, das wusste ich nicht mehr, aber ich wollte nicht zum Ende seiner Geschichte gelangen, wie man ein Buch querliest.“ oder „Alles, was du behauptet hattest, war falsch, und alles, was du erzählt hattest, war wahr.“ brennen sich ins Gedächtnis der Leser:innen ebenso ein wie die schrecklichen Zeugenaussagen der Opfer während des Barbie-Prozesses. Vor allem mit der Konstruktion dieses Romans – und daran sieht man, warum ein Roman manchmal die bessere Form für eine Auseinandersetzung mit der eigenen und Familienbiografie sein kann – liefert der Autor ein Meisterstück ab. Diese kluge Dichtung und Verdichtung überzeugt auf allen Ebenen und unterstreicht, dass es sich bei Chalandon nicht nur um einen reinen Reporter sondern auch Romanautor handelt. Und wie schon bei „Am Tag davor“ hält der Autor eine überraschende Wendung am Ende des Romans für uns bereit.
Ich bin durch und durch begeistert von Sorj Chalandon sowohl als Autor als auch von seinem vorliegenden autofiktionalen Roman „Verräterkind“, welches erneut ein absolutes Highlight für mich darstellt. Also lest diesen eindrücklichen Roman um Wahrheit und Lüge, um Annäherung und Abstoßung sowie vielleicht auch um ein wenig Heilung durch den Prozess der Wahrheitssuche.
5/5 Sterne