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Veröffentlicht am 27.05.2023

Simple Form für intellektuell gewichtigen Inhalt

Stella Maris
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Der vorliegende zweite Teil des Doppelromans „Der Passagier“ und „Stella Maris“ von Cormac McCarthy besteht ausschließlich aus einem Dialog zwischen der Protagonistin Alicia Western, Schwester von Robert ...

Der vorliegende zweite Teil des Doppelromans „Der Passagier“ und „Stella Maris“ von Cormac McCarthy besteht ausschließlich aus einem Dialog zwischen der Protagonistin Alicia Western, Schwester von Robert „Bobby“ Western, welcher in „Der Passagier“ im Mittelpunkt steht, und ihrem Psychiater in der Nervenheilanstalt Stella Maris. Der Aufenthalt spielt sich in 1972 und damit acht Jahre vor der Handlung von „Der Passagier“ ab. Dies ist wichtig zu beachten, denn so gehören die beiden Romane inhaltlich eng zusammen. Warum der Autor mit seinem Verlag die Entscheidung getroffen hat, nun aber die Therapiegespräche von Alicia in ein gesondertes Buch zu packen, ist mir unverständlich. Denn ganz für sich alleinstehend hat dieser Roman mir persönlich leider nicht viel zu bieten.

Alicia springt im Schriftbild mitunter unübersichtlichen Dialog mal von allein mal von ihrem Psychiater angeregt von einem Thema zum nächsten. Sie hat sich selbst eingewiesen, äußert immer wieder latente bis akute Suizidgedanken, wird aber weder medikamentös noch anderweitig behandelt. „Noch anderweitig“ steht hier für mich auch dafür, dass die Therapiegespräche in wirklich keinster Weise Therapiegespräche sind. Es wird im wahrsten Sinne des Wortes über Gott und die Welt, inzestuöse Liebe, Mathematik, Philosophie, Physik und den Sinn des Lebens - ach ja und Alicias Halluzinationen in Form eines missgestalteten Zwergs und anderen Begleiter:innen - gesprochen. Alicia ist ein Genie auf dem Gebiet der Mathematik und lässt sich zu verschiedenen Mathematikern und ihren Theorien aus. Dem zu folgen war mir zwar durchaus möglich, trotzdem hat sich mir leider nicht erschlossen, was mir der Autor mit seinem Roman eigentlich grundsätzlich sagen möchte. Hat der Roman überhaupt eine Aussage? Ich weiß es wirklich nicht.

Mögen die Passagen zu Mathematik, Physik usw. eventuell fachlich korrekt sein, so ist es das gesamte psychiatrische Setting überhaupt nicht. Es wird mitunter Vokabular falsch verwendet, so nutzt McCarthy als Adjektiv für die Erkrankung „Schizophrenie“ das Wort „schizoid“, was fachlich vollkommen falsch ist, weil „schizoid“ erst einmal „nur“ eine Persönlichkeitsausprägung auf einem Kontinuum von Persönlichkeitseigenschaften beschreibt, die in der höchsten Ausprägung einer Persönlichkeitsstörung auftreten kann und somit einem grundsätzlich anderen Konstrukt zugrunde liegt als die psychische Erkrankung der schizophrenen Psychose. Ob dies unwahrscheinlicherweise in der Übersetzung schiefgelaufen ist, kann ich nicht beurteilen, da mir bis zu dieser Stelle im Roman nicht der englischsprachige Originaltext vorliegt. Was aber darüber hinaus zu bemängeln ist, die Umsetzung des gesamten therapeutischen Kontakts zwischen diesen beiden Personen. Der Therapeut folgt keinerlei authentischen Vorgehensweise oder zumindest den Grundregeln der Gesprächsführung. Einen Behandlungsplan scheint es nicht zu geben. Die Patientin scheint sich Hände tätschelnd in eine Sterbebegleitung begeben zu haben. Hanebüchen ist die Übersetzung des vom Psychiater (ermüdend) oft genutzten „All right.“ ins deutsche „Na gut.“ Damit sorgt der Übersetzer Dirk van Gunsteren zu noch mehr passiver Schicksalsergebenheit des Psychiaters als ohnehin schon im Gespräch in jedem zweiten Ausspruch von ihm steckt. Ich könnte mich an dieser Stelle noch ausführlicher über diese alles andere als authentische Behandlungssituation auslassen, belasse es aber dabei und nehme an, der Autor hat zwar sehr viele Freunde aus diversen naturwissenschaftlichen Fachgebieten, deren Wissen er in diesem Buch einfließen hat lassen, ein:e Psychiater:in oder Psycholog:in scheint jedoch nicht darunter zu sein.

Nach der ersten Hälfte des Buches hätte ich es am liebsten frustriert abgebrochen, habe dann aber doch unter der Prämisse weitergelesen, dass sich hier einfach nur zwei Menschen unterhalten, von der eine ein fachsimpelndes Genie ist und der andere irgendeine Person, aber kein Psychiater. Dann war es erträglich und wurde zum Ende des Buches hin sogar noch interessanter. Dies lag meines Erachtens auch daran, dass Alicia endlich noch längere und zusammenhängendere Redebeiträge zugestanden wurden. Allein aufflackernde Deutungen im Zusammenhang mit dem Inhalt aus „Der Passagier“ sind an diesem Roman wirklich interessant. Für mich erschließen sich jedoch kaum die tatsächlich dahintersteckenden Theorien, die uns Cormac McCarthy (hoffentlich) mitteilen möchte. Vielleicht gibt es diese aber auch gar nicht und es handelt sich bei „Stella Maris“ allein um ein prätentiöses Spätwerk eines gut belesenen Autors. Die Figurenkonstellation, die Figurenzeichnung sowie - und vor allem! - das Setting ist mir also zu unauthentisch. Die Figuren und ihr Dialog scheinen mir nur Marionetten und Mittel für McCarthys Anliegen, all sein gesammeltes Wissen in kondensierter Form in dieses (letzte?) Buch zu packen.

Wenn ich nun meine komplette Lektüre betrachte und die mildernden Umstände gelten lasse, wie ab der Hälfte des Romans getan, komme ich auf solide 3 Sterne. Ein gutes Buch, welches ich empfehlen würde nicht alleinstehend sondern als Folgelektüre zu „Der Passagier“ zu lesen; welches vielleicht besser als Ergänzung zum Inhalt innerhalb des ersten Romans (also alles in einem) funktioniert hätte.

3/5 Sterne

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Veröffentlicht am 27.05.2023

„Grauenvoll! Grauenvoll!“ Naja, nicht ganz. Aber fast!

Herz der Finsternis
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Nein, ganz so schlimm, wie der Titel dieser Rezension andeutet, ist die Erzählung „Herz der Finsternis“ von Joseph Conrad nicht. Es bot sich nur an, diesen doppelten Ausruf aus dem Buch direkt zu übernehmen. ...

Nein, ganz so schlimm, wie der Titel dieser Rezension andeutet, ist die Erzählung „Herz der Finsternis“ von Joseph Conrad nicht. Es bot sich nur an, diesen doppelten Ausruf aus dem Buch direkt zu übernehmen. Tja, aber so richtig überzeugen konnte mich Conrad mit seinem Buch und vor allem Penguin mit seiner 2022 erschienen Ausgabe des selbigen leider nicht.

Zunächst einmal zur Erzählung an sich. Ein Seemann, Marlow, erzählt mit einem Boot auf der Themse schippernd seinen teilweise eingeschlafenen Mitreisenden eine Geschichte aus seinen jungen Jahren. Damals (Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts) sei er abenteuerlustig mit einer Handelsflotte als Kapitän eines Flussdampfers den Kongo hinaufgefahren, mit dem Ziel den Elfenbeinhändler Kurtz aus dem Inland abzuholen.

Nachdem ich mich auf der Themse so überhaupt nicht mit zu Marlow ins Boot hieven konnte und nur schwer auf den ersten 10-15 Seiten Zugang zum Text fand, gelang mir dies auf den ersten Seiten seiner Erzählung über die Reise zum Kongo und vom Aufenthalt auf dem afrikanischen Kontinent dann schon besser. Die zu Beginn häufiger auftauchende subtile, zynische Kritik am Kolonialismus empfand ich hier aussagekräftig in den Gedankengängen des jungen Marlow widergespiegelt. Diese durchaus vorhandene Kritik zeigt sich in Äußerungen wie diesen:

"Die Eroberung der Welt ist - genau betrachtet - nichts Erbauliches; meist läuft es darauf hinaus, dass man denen, die eine andere Hautfarbe oder platte Nase haben, ihr Land wegnimmt." (S.12-13)

"Sie sprach von der Notwendigkeit, 'diese unwissenden Menschen ihrer grässlichen Lebensweise zu entwöhnen', bis mir nachgerade nicht mehr wohl war in meiner Haut." (S.24-25)

"Also nannte man sie [die Schwarzen] Verbrecher, und das verletzte Recht war, wie die krepierenden Granaten, geheimnisvoll über sie hereingebrochen, ein unlösbares Rätsel von jenseits des Meeres." (S.31)

Diese ersten 50 Seiten empfand ich als gekonnte Beobachtung des Kolonialismus und den daraus entstandenen „Handel“ mit Kolonialwaren, wie Elfenbein, aber auch Darstellung eines jungen, abenteuerlustigen Menschen, der zunehmend desillusioniert wird durch seinen Eintritt in die Handelsflotte und deren Verstrickungen mit der Politik und dem Menschenbild der damaligen Zeit. Man beachte, das Buch wurde 1899 erstmals veröffentlicht, in einer Zeit, in der der Kolonialismus noch en vogue in Europa war. Von der Schifffahrt vor allem nach Afrika versteht der Autor auch etwas, war er doch selbst ab 1888 bis 1893 Kapitän der Otago und verarbeitete seine Erlebnisse u.a. im Kongo in seinen Werken.

Nur ist es so, dass mich das Buch mich für die darauffolgenden 110 Seiten nicht mehr einfangen konnte. Das lag zum einen am ausufernden Schreibstil des Autors. Seine schwülstigen Formulierungen sind sicherlich der Zeit geschuldet, konnten mir aber leider nicht die Atmosphäre dieser Reise auf dem Kongo vermitteln. Die in Worten beschriebene Stimmung auf dem Flussdampfer übertrug sich nicht auf mich als Leserin. Auch konnten die Beschreibungen in mir nur selten ein inneres Bild der Szenerie entstehen lassen. Nie wollte ich in einer kurzen Lesepause zurück ins Buch und damit zurück in diese Geschichte. Im Gegenteil, mit zunehmender Seitenzahl wurde die Lektüre zunehmend zäh, unverständlich und entzog sich mir in seiner Aussagekraft, dass ich mich regelrecht quälte die Lektüre abzuschließen. Zurück ließ sie mich mit riesigen Fragezeichnen bezüglich einer Aussage des Buches bzw. des Autors. Man findet in Analysen des Textes die Beschreibung, dass Kurtz hier als das „charismatische, moderne Böse“ dargestellt sein soll. Leider übertrug sich diese Interpretation überhaupt nicht auf mich während der Lektüre. Zuletzt fehlte mir die Nachvollziehbarkeit sowohl der Handlung als auch der handelnden Personen. Zu lang für eine Novelle, zu kurz für einen Roman, bekommen für mich die wichtigen Handlungsstränge nicht genug Raum und Zeit, um das Anliegen Conrads zu vermitteln. (Andererseits hätte es mich davor gegraut, noch länger Conrads Sprache folgen zu müssen.) Die Kolonialismuskritik ging zum Ende hin, nach meinem Verständnis zunehmend verloren, die afrikanischen Ureinwohner bleiben in ihrer Beschreibung eindimensional „die Wilden“, obwohl es Anknüpfungspunkte gegeben hätte, diese menschlicher, mit – zumindest ein wenig – mehr Tiefe darzustellen. Denn natürlich ist das Buch noch während der Kolonialzeit geschrieben, dennoch sollte man im Blick behalten, dass es innerhalb der Intelligentsia zu dieser Zeit der Jahrhundertwende durchaus schon realistischere Darstellungen von Schwarzen Menschen existierten und sich gegen die triebgesteuerte, tierische Darstellung von indigenen Völkern aussprach. Den verschiedenen Figuren bin ich leider über die Erzählung hinweg nicht näher gekommen, ihre Beweggründe wurden für mich kaum ersichtlich, was vor allem für die zentrale Figur Kurtz gilt.

Vielleicht hätte sich das Buch, die verwendete Symbolik und die Aussage dessen mir mehr geöffnet, wenn die Ausgabe vom Penguin Verlag in der „Penguin Edition“ besser gelungen wäre. Dem Text allein hätte ich 3 Sterne für sich stehend zugesprochen, aber in Form der leider wenig zugänglichen Aufmachung, habe ich mich für ein Abrunden auf 2 Sterne entschieden. Denn aus der Ausgabe erfährt man die grundsätzlichsten aber gleichzeitig unglaublich wichtigen Informationen zum Text, um diesen einordnen zu können, nicht. Man muss sich ergoogeln, dass der Originaltext 1899 erschien, dass der Übersetzer Fritz Güttinger in 1992 verstarb, somit die Übersetzung aus einem früheren Jahr stammt, welches bleibt offen, dass das Nachwort, welches mit „Ernst Weiss“ unterschrieben ist, scheinbar vom österreichischen Schriftsteller und Übersetzer Ernst Weiß stammt, der 1940 verstarb, demnach also auch schon etwas älter ist. Ob es dieser Ernst Weiß ist, keine Ahnung, es gibt keinerlei Angaben im Buch diesbezüglich, auch kein Jahr des Verfassens des Nachworts. Und einmal von diesem eklatanten Fehlen der Rahmeninformationen abgesehen, konnte mir das ähnlich nebulös verfasste Nachwort – hier wähnt man sich sprachlich fast noch im Text von Conrad – keine Erkenntnisse zum vorliegenden Text vermitteln. Es ist ein allgemein gehaltenes Nachwort zum Autor und dessen Werk, wobei „Her der Finsternis“ hier kaum auftaucht. Es konnte mir nicht einmal ansatzweise Tipps geben, wie ich die Geschichte verstehen könnte. Hinweise zu mythologischen Bausteinen, biografischen und historischen Zusammenhängen sind bei Wikipedia dann nachzulesen. Da erwarte ich mehr von einer neuen Veröffentlichung im Jahre 2022. Hätte die Erzählung doch eine perfekte Steilvorlage gegeben ein aktuelles, modernes Nachwort anzuhängen, welches die Geschichte in einen entsprechenden Kontext setzt oder verschiedene Interpretationen und Bewertungen ermöglicht. Denn unumstritten scheint dieser historische Text nicht zu sein, wie Äußerungen Chinua Achebes aus der (durchaus gelungenen) editorischen Notiz zu entnehmen ist. Warum hat der Verlag dieses Potential zur Diskussion verschenkt?

Also noch einmal: „Grauenvoll!“ ist die Erzählung nicht gleich, keine Angst. Aber in dieser Präsentation leider auch nicht besonders gut. Lesende, die Prosatexte aus dieser Zeit mit pathetischer Sprache lieben, werden hier sicherlich auch auf ihre Kosten kommen. Für mich war das leider unterm Strich nichts.

2,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 27.05.2023

Tod und Teufel in Gibbeah

Der Kult
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Wer vorhat das Buch (mit dem deutschen, aber nicht gut passenden Titel) „Der Kult“ von Marlon James zu lesen, sollte, um es gänzlich erfassen zu können, ziemlich bibelfest sein. Dieser alttestamentarisch ...

Wer vorhat das Buch (mit dem deutschen, aber nicht gut passenden Titel) „Der Kult“ von Marlon James zu lesen, sollte, um es gänzlich erfassen zu können, ziemlich bibelfest sein. Dieser alttestamentarisch anmutende Text strotzt nur so vor biblischen Bedeutungen. Ach ja, und einen stabilen Magen sollte man auch mitbringen.

Lokalisiert ist die Geschichte um das kleine, fiktive Städtchen Gibbaeh örtlich auf Jamaika und zeitlich in 1957. Der Ort, so erfährt man, sei gegründet worden von freigelassenen Sklaven der Zuckerfarmen Jamaikas. Die Bewohner des Örtchens sind eher mittelmäßig religiös und erfreuen sich viel mehr am Klatsch und Tratsch über ihren Pastor. Dieser ist dem Alkohol sehr zugetan und wird, obwohl er Whiskey bevorzugt, „der Rumpastor“ genannt. Eines Tages kommt der sich selbst so ernannte Apostel York in die Gemeinde, verjagt effektvoll den Rumpastor von der Kanzel und nimmt dessen Platz ein. Mit diesem christlichen Personalwechsel beginnt die brutal-magische Geschichte über die Verführung zur gewaltsamen Selbstjustiz eines ganzen Ortes.

Dieser Roman, der nach 78 (!) Verlagsabsagen 2005 unter dem Titel „John Crow‘s Devil“ erstmals veröffentlicht wurde und auch in Deutschland einen zweiten Anlauf und eine Neuübersetzung innerhalb von nur 10 Jahren nach Erstübersetzung brauchte, nachdem er 2008 bereits unter dem Titel „Tod und Teufel in Gibbeah“ erschienen ist, hatte einen langen Weg hinter sich, um dann 2018 in der vorliegenden Fassung bei Heyne Hardcore zu erscheinen. Die neuerliche Veröffentlichung kam nur wenige Jahre nach dem Gewinn des Booker Prize von James mit dem Roman „Eine kurze Geschichte von sieben Morden“; ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Nun ist die große Frage, ob sich das ganze Hin und Her gelohnt hat und man ein lesenswertes Buch in dieser Ausgabe in Händen hält.

Vor allem der zweite Teil des Namens des deutschen Verlags scheint jedenfalls für dieses Buch Programm zu sein, Hardcore. Denn diese in bedeutungsschwangere, alttestamentarische Sprache gekleidete Geschichte ist vor allem eins: brutal. Was zumindest für die Nähe zur Bibel spricht. So wirfst schon der gewählte Name für den Handlungsort einen Schatten über die Geschehnisse im Buch. Durch Internetrecherchen (nicht eigene Bibelfestigkeit!) erfährt man, dass das „Gibea Sauls“ schon im „Originaltext“ eine archaische Geschichte hat. So soll ein Levit mit seiner Frau auf der Durchreise mit seiner Frau in Gibea übernachten wollen, sei aber bei einem alten Mann aus Ephraim untergekommen. Und hier zitiere ich von der Seite bibelwissenschaft.de, weil ich es selbst nicht besser ausdrücken kann und will: „Die Bewohner der Stadt fordern von ihm, den Leviten auszuliefern, um ihn zu erkennen, d.h. zu vergewaltigen; sie geben sich aber mit dessen Frau zufrieden. Diese vergewaltigen sie die ganze Nacht, bis sie tot zusammenbricht. Der Levit zerteilt die Leiche seiner Frau in zwölf Stücke und verschickt diese im ganzen Land, um Israel gegen Gibea zu mobilisieren.“ Und damit haben wir die Ausprägungen der Brutalität im vorliegenden Roman schon einmal durch die Namenswahl des Handlungsortes wunderbar skizziert.

In „Der Kult“ wird vergewaltigt, gefoltert, gemordet was das Zeug hält. Das Ganze passiert in einer vom Aufbau her zwar magisch-biblischen Sprache, allerdings mit Wörtern, die an Derbheit nichts vermissen lassen. Noch nie habe ich ein Buch gelesen, in welchem so häufig von Pisse, Scheiße, Penissen, Schwänzen, Muschis, Mösen, Pussys, Vaginas (ich wahr schon fast erleichtert auch mal dieses Wort zu lesen), zerschlagenen Schädeln (aus denen Gehirnmasse quillt), abgeschlagenen Körperteilen, Vergewaltigungen, gefickten Ziegen und Kühen und was weiß ich, die Rede ist. Das muss man aushalten können. Aber ganz ehrlich, selbst wenn man es aushält, gibt leider die Geschichte an sich nicht so viel an Erkenntnissen her, dass es sich wirklich lohnt, durchzuhalten. Denn dafür, was ich hier sprachlich und inhaltlich durchlebt habe, ist mir die Moral von der Geschicht über Verführung der Massen hin zu unmenschlichen Taten als Mittel der Bestrafung von Sünden zu schwach.

Vielleicht liegt der Reiz an diesem Buch ja in der Deutung aller alttestamentarischer und gleichermaßen magischer Voodoo-Spiritualität sowie Bibelzitaten im Text; und das ist einfach nicht meins. Vielleicht ist es aber auch ein Zeichen, wenn dieser Roman zunächst von so vielen Verlagen abgelehnt wurde, zwei Anläufe in kurzer Zeit auf dem deutschen Buchmarkt und zur Unterstützung einen Booker Prize brauchte, um den Weg in die Hände von potentiellen Lesenden zu finden.

Letztlich kann ich persönlich leider nicht zu einer Lektüre raten, außer man ist der Typ von Person, die es sich gern abends mit einem Band des Alten Testaments und einem schönen Glas Wein gemütlich macht, um bei Kerzenschein in diese unwiderstehlich faszinierende Welt einzutauchen.

2,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 27.05.2023

Da bekommt Marx Schnappatmung

Das Palais muss brennen
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Wie Marx bekommt Schnappatmung? Die historische Persönlichkeit? Ja, die auch. Aber auch der aus Trotz angeschaffte Mops der Protagonistin Luise. Diesen nennt sie nämlich ganz rebellisch Marx, ist ihre ...

Wie Marx bekommt Schnappatmung? Die historische Persönlichkeit? Ja, die auch. Aber auch der aus Trotz angeschaffte Mops der Protagonistin Luise. Diesen nennt sie nämlich ganz rebellisch Marx, ist ihre Mutter doch die aktuelle rechtskonservative Bundespräsidentin Österreichs, die man mit linkem Gehabe zu schocken versucht. Luise und ihre Schwester Yara leben als junge Studentinnen bei ihrer Mutter im Palais Wiens und bringen im Laufe des Buches eher zufällig die Regierung ihrer Mutter zu Fall.

Das passiert aber alles viel weniger spektakulär, als man sich nach dieser kurzen Beschreibung vorstellt. Das gesamte Buch besteht nämlich eigentlich aus „Rich Kid“ Alltagsbeschreibungen, die aus Sicht von Luise geschildert werden. Zur Elite scheinen Luise und Yara allerdings nicht zu gehören, es wird mal kurz erwähnt, dass sie im Plattenbau aufgewachsen seien, mehr zu ihrem Weg ins Palais erfährt man allerdings nicht. So bewegt man sich nun gemeinsam mit Luise durch ihr Leben zwischen Wiener Cafés, Partys, Sex und Koks, welches einem durch einfache Hauptsätze vonseiten Luises nahegebracht wird à la „Ich tauchte mit Marx im Café auf. Ich hielt ihn auf dem Arm...Ich setzte mich… Ich schaute…Ich sagte“ Oh, wie viel Luise in diesem Roman sagt. Ich sagte, Jo sagte, Yara sagte usw. aber hauptsächlich Ich, Ich, Ich. Das ist mir alles zu simpel und wenig anspruchsvoll. Zwischendrin kann man durchaus das ein oder andere Mal schmunzeln, wenn Luise keck kontert. Meist gehen die lässigen antikapitalistischen/kommunistischen Sprüche aus dem Munde, in dem der Goldlöffel steckt (ach nein, der steckt ja im Mund von Marx, also dem Hund), in ihrem dichten Auftreten aber eher auf die Nerven. Es wirkt dann so, als ob die Autorin zwingend all ihr Wissen aus der alternativen, studentischen Szene ins Buch packen wollte und damit aber häufig neunmalklug klingt. Luise spricht wie eine schlagfertige, linksliberale Poetry Slammerin, die eigentlich gern Marc-Uwe Kling wär‘ und statt eines Mopses vielleicht lieber ein Känguru an ihrer Seite hätte. Wer weiß.

Sehr viel passiert im Roman nicht. Wir blicken mit Wiener Humor auf Sex, Drugs und Möpse. Selbst der Mops konnte nicht meine Lektüreerfahrung verbessern, tat er mir doch mehr leid als alles andere. Somit kann ich nicht unbedingt eine Lektüre empfehlen. Bei den 180 kleinformatigen, nur locker bedruckten Seiten kommt man auch nicht gleich um, wenn man das Büchlein liest, aber mehr als kurze Unterhaltung mit dem (scheinbar eigenen) Wunsch und Anspruch Satire zu sein, bekommt man eben auch nicht. So würde wahrscheinlich nicht nur der Mops Marx mit seiner Qualzucht-Schnauze sondern auch die historische Persönlichkeit Marx bei der Lektüre Schnappatmung entwickeln.

2,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 27.05.2023

Der fröhliche Wahnsinn des Hungers

Hunger
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Der Manesse Verlag hat dieser Tage eine Neuauflage des Klassikers „Hunger“ des norwegischen Literaturnobelpreisträgers Knut Hamsun herausgebracht, auf welche es sich lohnt, einen genaueren Blick darauf ...

Der Manesse Verlag hat dieser Tage eine Neuauflage des Klassikers „Hunger“ des norwegischen Literaturnobelpreisträgers Knut Hamsun herausgebracht, auf welche es sich lohnt, einen genaueren Blick darauf zu werfen. Es handelt sich dabei um die 1890 erschienene Urfassung des Romans, welcher bis 1934 insgesamt viermal in immer wieder geänderten Ausgaben neu vom Autor veröffentlicht wurde. Denn Hamsun wurde, wie aus der ausführlichen editorischen Notiz zu erfahren ist, im Alter immer reaktionärer, nationalchauvinistischer und duldete sein progressives Frühwerk zunehmend nicht mehr. Die aktuelle Ausgabe wurde außerdem von Ulrich Sonnenberg neu übersetzt und mit einem Nachwort der Autorin Felicitas Hoppe versehen.

Im Roman selbst geht es um einen mittlerweile mittellosen Ich-Erzähler und Schriftsteller, der sich im Oslo des ausgehenden 19. Jahrhundert, damals noch Kristiania genannt, die Tage und Nächte auf der Straße um die Ohren schlug, unter ständigem Geld und vor allem Nahrungsmangel. Dieser titelgebende Hunger wirkt sich nun auf den Bewusstseinsstrom und die geschilderten Handlungen des Erzählers signifikant aus. Er schwankt zwischen Hochmut, Stolz und Ehrgefühl und Selbstzweifeln, Selbstmitleid sowie im wahrsten Sinne des Wortes verrückten Ideen. Immer wieder bringt er sich selbst um Möglichkeiten an eine Mahlzeit zu kommen, kann nicht mit Geld umgehen und irritiert die Menschen in seiner Umwelt.

So wandert man „in vier Stücken“, den vier Teilen des Romans, mit dem Erzähler durch Kristiania, bangt mit ihm um seine nächste Mahlzeit und verflucht ihn genervt ob seiner Unfähigkeit rational zu denken und zu handeln. Die Ungeduld mit dem Protagonisten wird durch die ständigen Wiederholungen seiner Gedanken, Handlungen und Situationen, in welche er sich selbst katapultiert, im Verlaufe des Romans zunehmend gesteigert. Erwartet man immer das Schlimmste, kommt es wieder zu einer kurzfristigen glücklichen Fügung. Nur wenig Veränderungspotential gesteht der Autor seinem psychisch auffälligen Protagonisten zu. Denn der Erzähler scheint bereits vor seiner Hungerphase eine prämorbide Persönlichkeitsakzentuierung gehabt zu haben, welche ihn zum einen in seine missliche Lage gebracht zu haben scheint und sich nun - durch den Nährstoffmangel und den daraus resultierenden physischen aber eben auch psychischen Symptomen, die Hamsun sehr gut beschreibt – in besonders starken Ausprägungen äußert. Schwankt er doch stets zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt.

Sprachlich, in der aktuellen Übersetzung von Ulrich Sonnenberg, kann Hamsun definitv überzeugen. Man sieht den Erzähler vor sich, wie er durch die Straßen Kristianias flaniert, rennt, schwankt, oder fast kriecht; wie er vor Erschöpfung kaum mehr die Augen offen halten kann und dann schon wieder einem Passanten hoch erregt eine Lügengeschichte auftischt. Oft fragt man sich, was davon der Erzähler tatsächlich erlebt und bei was es sich um Halluzinationen handeln könnte. Da weiß der Autor zu fesseln.

Letztlich hätte mir der Roman allerdings ohne die vielen Wiederholungen bzw. Variationen ähnlicher Situationen etwas mehr gefallen. Das Format einer Novelle hätte dem Inhalt des Textes durchaus auch gut zu Gesicht gestanden. Quasi etwas abgespeckt. Eine Formulierung, die einem nach der Lektüre von „Hunger“ allerdings doch ein wenig im Halse stecken bleibt.

Im noch einmal zur aktuellen Ausgabe zurückzukommen: Das Gesamtpaket der vorliegenden Veröffentlichung vom Manesse Verlag finde ich wirklich sehr gut gelungen. Endlich gab es, die von mir immer so schmerzlich vermissten, durchnummerierten und im Text gekennzeichneten Anmerkungen. Diese haben geholfen nicht nur das Romangeschehen aber auch die nachträglichen Abänderungen durch den Autor besser zu verfolgen bzw. zu verstehen. Die editorische Notiz ist ausführlich und erhellend, ebenso wie das Nachwort von Felicitas Hoppe. Es hat mir sehr gefallen, dass sich das Nachwort auch wirklich ausführlich mit dem vorliegenden Werk beschäftigt und gut verständlich ist. So war ich erleichtert zu lesen, "die Geschichte von Hunger hat keinen Kern, genauso wenig, wie man von einem bündigen Plot sprechen könnte". Tatsächlich ist dies nämlich schwer greifbar beim vorliegenden Roman. Toll finde ich, dass das Nachwort mit einer Quellenangabe unterfüttert ist, die eine vertiefende Beschäftigung mit dem Werk anregt und leicht nachvollziehbar macht. Meines Erachtens hat hier der Verlag in der Zusammenstellung dieser Ausgabe wirklich alles richtig gemacht.

Den Roman an sich würde ich insgesamt mit 3,5 Sternen bezüglich meiner Lektüre bewerten. Da mir die Ausgabe des Manesse Verlags in ihrer Ausstattung sehr gut gefällt, runde ich auf 4 Sterne auf.

3,5/5 Sterne

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