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Veröffentlicht am 27.05.2023

Eindrückliches Werk über die Unterdrückung der Indigenen Bevölkerung Australiens

Wie rote Erde
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Bis zur Lektüre von „Wie rote Erde“ war das Narrativ, welches ich zu den sog. „Aborigines“ und Australien allgemein folgendes: Irgendwann im 18.Jh. wurde Australien nach der „Entdeckung“ durch James Cook ...

Bis zur Lektüre von „Wie rote Erde“ war das Narrativ, welches ich zu den sog. „Aborigines“ und Australien allgemein folgendes: Irgendwann im 18.Jh. wurde Australien nach der „Entdeckung“ durch James Cook zur Strafinsel gemacht, darauf bildeten sich erste Siedlungen und die australischen Ureinwohner wurden „lediglich“ regional ins Landesinnere verdrängt. Irgendwie bekam Australien immer ein edles Bild in meinem Kopf, mir kam nicht der Gedanke, dass mit den First Nations of Australia genauso umgegangen wurde, wie mit anderen Bevölkerungen kolonisierter Kontinente. Natürlich ein fataler Irrglaube!

Der vorliegende Roman von Tara June Finch, einer Wiradjuri-Autorin, deren Vorfahren - und somit auch sie selbst - zur Indigenen Bevölkerung im zentralen New South Wales gehören, ist diesbezüglich mehr als augenöffnend. Mithilfe von drei Erzählebenen berichtet die Autorin von den Folgen, die eine Kolonialherrschaft auf die 50.000 Jahre alte Zivilisation eines Kontinents und deren wenige verbleibenden Mitglieder hat. So geht es auf der Handlungsebene um August Gondiwindi, welche nach einer zehnjährigen Abwesenheit in Großbritannien aufgrund des Todes ihres Großvaters Albert und dessen anstehender Beerdigung wieder an den Ort ihres Aufwachsens, die Farm „Prosperous House“ in einer fiktiven Region Australiens, zurückkehrt. Das heruntergekommene Anwesen, in dem noch immer ihre Großmutter lebt, wird durch ein Zinnabbauunternehmen gefährdet, denn Aboriginals (der etwas weniger kolonial belastete Begriff für früher sog. „Aborigines“) haben keinen rechtsgültigen Anspruch auf Grund und Boden, wenn sie nicht nachweisen können, dass seit Beginn der europäischen Kolonisierung eine ständige Verbindung zum beanspruchten Gebiet aufrechterhalten wurde, z.B. durch kulturelle Praktiken. Aber es haben in der Vergangenheit die europäischen Siedler „natürlich“ (muss man leider sagen) durch grausame Vorgehensweisen dafür gesorgt, dass die Kultur der Aboriginals fast vollkommen vernichtet wurde. Davon erfahren wir durch die beiden anderen Erzählebenen des Romans, denn Augusts Großvater hat kurz vor seinem Tod an einem Wörterbuch mit Begriffen aus der Sprache seines Volkes gearbeitet. Auszüge dieses Wörterbuchs werden immer wieder abwechselnd zu Kapiteln, in denen es um August geht, in den Text eingestreut. Dabei handelt es sich nicht um reine Übersetzungen, sondern um eine Geschichts- und Anekdotensammlung. Albert hat also nicht nur historische Geschehnisse anhand der zu übersetzenden Wörter festgehalten, sondern auch eigene Erlebnisse aus seinem Leben. So zeigt sich ein zunehmend grausames Bild der Herrschaft über die seit tausenden von Jahren auf dem Kontinent und dazugehörigen Inseln lebenden Menschen. Bis in die 1970er Jahre hinein wurden systematisch Kinder in Umerziehungslager gesteckt und zu z.B. Haushaltshilfen erzogen, die dann faktisch als Sklaven gehalten werden konnten. Man wähnt einen Lichtblick auf der dritten Erzählebene zu erkennen, auf welcher ein Brief in mehreren Fortsetzungen zitiert wird, der von einem deutschen, protestantischen Missionar 1915 verfasst wurde. Dieser Pastor gründete die Mission, aus der später Prosperous House entstanden ist. Er beschreibt sich selbst als den Indigenen Menschen offen und mildtätig gegenüber; er habe immer nur das Beste für sie gewollt, indem er sie in die Mission aufnahm, vor den Weißen beschützte und ihnen Schulbildung zukommen ließ. Im Verlauf des Buches kommt man allerdings immer mehr ins Zweifeln, ob sein Handeln in letzter Konsequenz nicht auch zur fast vollständigen Auslöschung der Indigenen Sprache und Kulturtechniken geführt hat.

Diese drei Erzählebenen verknüpft die Autorin wirklich unglaublich gekonnt ineinander, sodass der Spannungsbogen um die Geschichte der Gondiwindis immer straffer zum Ende hin zusammengezogen wird. Winch tappt bei ihrem Plot jedoch nie in die Falle des Kitsches. Steilvorlagen, die andere Autor:innen genutzt hätten, um billig die Emotionen der Leserschaft zu locken, umgeht die Autorin gekonnt, weiß durch Wendungen zu überraschen und dabei hoch informativ zu schreiben. Das wirkt niemals belehrend sondern stets eindrücklich wachrüttelnd. Atemlos verfolgt man die Geschichte um die Anerkennung der Indigenen Bevölkerung und deren Zivilisation noch bis in die aktuelle Gegenwart hinein. Dabei hinkt das Land Australien als Teil des Commonwealth der Zeit hinterher, ist es doch das einzige, das bis zum heutigen Tage kein Abkommen mit seinen Indigenen Bevölkerungsgruppen abgeschlossen hat! Stand doch bis vor wenigen Jahrzehnten noch über den Kinderheimen „Denk Weiß. Handle Weiß. Sei Weiß.“ und wurde dafür gesorgt, dass keine Sprache, kein Jagen, keine Zeremonien erhalten wurde, dass Aboriginals mit Didgeridoo in der Hand zum sauberen Werbebildchen für ein Touristenmagnet geworden sind, ohne eine tatsächliche Anerkennung ihrer Kultur zu erleben.

Der Haymon Verlag hat wirklich eine herausragende Arbeit dadurch geleistet, diesen Roman durch eine sehr gute Übersetzung von Juliane Lochner sowie ein erhellendes Glossar im Anhang verständlich zu machen. Eine vollkommene Abrundung erhält das Buch durch das Nachwort der Autorin, die viele historischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge nochmals verdeutlicht. Allein eine winzige Kritik muss ich an diesem ansonsten großartigen Buch üben: Es wäre hilfreich gewesen, wenn die Begriffe, die ganz hinten im Glossar stehen, im Romantext durch kleine hochgestellte Zahlen kenntlich gemacht worden wären. So wusste man nie, welcher Begriff nun im Anhang zu finden sein wird und welcher nicht. Ein Lesen der Erläuterungen direkt während der Romanlektüre finde ich immer als sinnvoller für das Verständnis als ein nachträgliches Lesen. Besonders loben möchte ich jedoch den Verlag für den feinfühligen Umgang mit der Triggerwarnung. Bereits unter dem Klappentext findet man den Hinweis auf Seite 375 (als auf der letzten Seite) befinde sich eine entsprechende Warnung. So hat man als potentielle:r Leser:in die Möglichkeit schon vor der Lektüre sich dessen bewusst zu sein und sich für oder gegen diese zu entscheiden. Schon häufiger habe ich diese Warnungen einfach so auf der letzten Seite vorgefunden, wenn das Kind schon potentiell in den Brunnen gefallen ist und man den Roman bereits zu Ende gelesen hat.

Abschließend kann ich nur kurz und knapp zusammenfassen: Hierbei handelt es sich um ein erhellendes Lesehighlight zum Thema Kolonialismus und dessen Folgen in einer Region der Erde, die bisher diesbezüglich wenig bis gar nicht in Prosaform beleuchtet wurde. Ich kann dieses Buch nur allen Interessierten ans Herz legen. Man wird danach nie mehr dasselbe Bild von Australien haben, aber wer will schon mit einer beschönigten Geschichtsdarstellung leben?

5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 27.05.2023

Verrat und wie man seine Wunden heilt – vielleicht.

Verräterkind
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Zu was für einem Menschen wächst man heran, wenn man sich auf nichts, was einem der eigene Vater erzählt, verlassen kann? Wenn dieser ein notorischer Lügner und Trickser ist, cholerisch, unvorhersehbar, ...

Zu was für einem Menschen wächst man heran, wenn man sich auf nichts, was einem der eigene Vater erzählt, verlassen kann? Wenn dieser ein notorischer Lügner und Trickser ist, cholerisch, unvorhersehbar, manipulativ? Wird man ein Mensch, der sich als Lebensinhalt die Suche nach der Wahrheit auf die Fahnen schreibt?

Man könnte vermuten bei Sorj Chalandon sei dies der Fall gewesen, denn er ist ein hoch angesehener Journalist, Kriegsreporter und Schriftsteller geworden, nachdem er ein Leben lang seinem Vater kein Wort hat sicher glauben können. Der Vater des Autors, so entnehmen wir dem autofiktionalen Roman „Verräterkind“, soll während der deutschen Besatzung in Frankreich auf Seiten der Feinde, der Deutschen, gekämpft haben. So deutet es zumindest der Großvater des Erzählers an, als er dem Jungen an den Kopf wirft, er sei ein „Verräterkind“. Der Vater jedoch erzählt dem jungen Sorj immer wieder, wie er für die Résistance gekämpft und heldenhaft das Vaterland verteidigt habe. Was Wahrheit und was Lüge ist, versucht nun der Ich-Erzähler, gerade während in seiner Heimatstadt Lyon in 1987 der große Prozess gegen Klaus Barbie, der Gestapo-Mann, der in Lyon und Umgebung für schlimmste Gräueltaten verantwortlich war, stattfindet und der Erzähler selbst als Gerichtsreporter von vor Ort berichten soll, herauszufinden.

Von der ersten Seite an nimmt einen die Erzählweise Chalandons gefangen. „Gefangen“ erscheint hier das richtige Wort, denn man ist gefangen in scheußlichen Taten gegen Kinder, Frauen, Männer – Menschen. Entsetzt liest man von einer Massenverschleppung aus einem französischen Kinderheim, welches jüdischen Kindern ein sicherer Ort hätte sein sollen. Ab diesem Punkt des Buches wechselt die Erzählung stets zwischen der Gerichtsverhandlung um Barbie und der ganz persönlichen Wahrheitssuche des Ich-Erzählers bezüglich der Taten seines Vaters hin und her. Ganz meisterhaft verknüpft hier Chalandon zeitlich zwei Prozesse. Einen Gerichtsprozess und einen Prozess der steten Annäherung und wieder Entfernung eines Sohnes von seinem Vater. Anhand von historischen Dokumenten aber auch immer wieder der direkten Konfrontation mit dem eigenen Vater versucht der Erzähler zu verstehen, was der Vater wirklich getan und warum er so gehandelt hat. Auf welcher Seite der Vater wirklich stand und ob er irgendetwas von dem, was der Erzähler von seinem Vater als Kind und noch als Dreißigjähriger gehört hat, glauben kann. Was das mit dem Erzähler macht, wird sprachlich stets auf den Punkt genau in kurzen Vignetten zwischen und auch während der Prozesstage um Klaus Barbie immer wieder eindrücklich verdeutlicht. So wandelt sich innerhalb des Romans der Begriff „Verrat“ und „Verräter“ immer wieder aufs Neue. Ist doch der Vater ein vermeintlicher Verräter, so fühlt es sich für den Sohn so an, als würde er mit seinem „Prozess“ am Vater diesen verraten, aber auch der Sohn fühlt selbst vom Vater verraten.

Dass es sich bei Sorj Chalandon um einen großartigen Schriftsteller handelt, weiß man spätestens seit „Am Tag davor“. Präzise Formulierungen wie „Ich war dabei, die Kriege meines Vaters zu entdecken. Ob falsch oder wahr, das wusste ich nicht mehr, aber ich wollte nicht zum Ende seiner Geschichte gelangen, wie man ein Buch querliest.“ oder „Alles, was du behauptet hattest, war falsch, und alles, was du erzählt hattest, war wahr.“ brennen sich ins Gedächtnis der Leser:innen ebenso ein wie die schrecklichen Zeugenaussagen der Opfer während des Barbie-Prozesses. Vor allem mit der Konstruktion dieses Romans – und daran sieht man, warum ein Roman manchmal die bessere Form für eine Auseinandersetzung mit der eigenen und Familienbiografie sein kann – liefert der Autor ein Meisterstück ab. Diese kluge Dichtung und Verdichtung überzeugt auf allen Ebenen und unterstreicht, dass es sich bei Chalandon nicht nur um einen reinen Reporter sondern auch Romanautor handelt. Und wie schon bei „Am Tag davor“ hält der Autor eine überraschende Wendung am Ende des Romans für uns bereit.

Ich bin durch und durch begeistert von Sorj Chalandon sowohl als Autor als auch von seinem vorliegenden autofiktionalen Roman „Verräterkind“, welches erneut ein absolutes Highlight für mich darstellt. Also lest diesen eindrücklichen Roman um Wahrheit und Lüge, um Annäherung und Abstoßung sowie vielleicht auch um ein wenig Heilung durch den Prozess der Wahrheitssuche.

5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 27.05.2023

Spaß beiseite: Die Sache ist ernst!

Es kann nur eine geben
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Die deutschlandweit bekannte Comedienne Carolin Kebekus hat ein Buch geschrieben – zusammen mit Mariella Tripke. Ist das also ein weiteres Buch, welches einfach nur die Comedy von der Bühne zwischen zwei ...

Die deutschlandweit bekannte Comedienne Carolin Kebekus hat ein Buch geschrieben – zusammen mit Mariella Tripke. Ist das also ein weiteres Buch, welches einfach nur die Comedy von der Bühne zwischen zwei Buchdeckel holt, aber eigentlich nichts Neues zu bieten hat? Nein, überhaupt nicht. Denkt man auf den ersten Seiten noch bei der ein oder anderen flapsigen Bemerkung, oh oh, da kommt jetzt viel Klamauk, steht dies in keinster Weise für den Inhalt des gesamten Buches.

Carolin Kebekus beschäftigt sich äußerst breit gefächert und tiefgründig mit dem Thema der Benachteiligung von Frauen in unserer Gesellschaft sowie den Weg zur Chancengleichheit in ebendieser. Dazu beschreibt sie zunächst das Bild von Frauen in der alten sowie der neueren Geschichte. So kann in ersterem Kapitel es um die Darstellung von Frauenfiguren in der Bibel gehen und in zweiterem um Frauen in Film und Fernsehen. Sie erörtert die historisch evozierten Rivalitäten zwischen Frauen und warum u.a. dies sie daran hindert, zusammen doch viel stärker zu sein. Nach einer durchweg quellenbasierten Herleitung inwiefern wir immer noch in einem handfesten Patriarchat leben und Frauenhass an der Tagesordnung ist (siehe Gewalt in Partnerschaften und Femizide), ruft sie zur Frauensolidarität und Lösungen, ganz ohne den im Zusammenhang mit dem Feminismus oft fälschlicherweise vermuteten „Hass auf alle Männer“, auf.

Dabei bewegt sich Kebekus ausdrücklich in Themenbereichen, über die sie auch etwas zu sagen hat. Es geht ihr nicht darum einen globalen Vergleich von Frauenrechten, Chancengleichheit, Gewalt gegen Frauen usw. zu ziehen. Wir bleiben mit diesem Sachbuch in Deutschland, hier gibt es noch genügend Bereiche, die einer oder mehreren Verbesserungen bedürfen.

Natürlich lässt Carolin Kebekus den Spaß in ihrem Buch nicht gänzlich beiseite. Häufig unterfüttert sie ihre Thesen mit lässig, witzigen Kommentaren und Beispielen. Das macht einfach Spaß zu lesen, keine Frage. Aber es ist wichtig dieses Buch nicht als ein Comedy-Buch zu unterschätzen. Hinter den Inhalten stecken knallharte Recherchen sowie 135 im Anhang befindliche Quellenangaben. Auch wenn durchaus das ein oder andere Mal ein persönliches Beispiel zur Verdeutlichung genutzt wird, bleibt dies ein wissenschaftlich korrektes Sachbuch. Gerade diese Verquickung gelingt der Autorin wirklich meisterhaft. Während ich viel gelernt habe, konnte ich auch häufiger schmunzeln, ohne dass der Ernst der Sache jemals in den Hintergrund getreten ist. Erfrischend lebhaft und gleichzeitig knallhart präsentiert die Autorin ihre feministische Bestandsaufnahme und macht dieses Buch damit zu einem wahren Lesegenuss.

Von mir gibt es dafür eine klare Leseempfehlung. Meines Erachtens macht sich das Buch auch super als Geschenk für Interessierte, die einen leichten Einstieg in den Themenbereich suchen.

5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 27.05.2023

Das Labyrinth des Mohamed Mbougar Sarr

Die geheimste Erinnerung der Menschen
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Würde man sich eine Konzeptzeichnung zum Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ von oben anschauen, sähe sie wahrscheinlich aus wie ein Labyrinth. Ein Labyrinth der Literatur, der Leser:innen, der ...

Würde man sich eine Konzeptzeichnung zum Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ von oben anschauen, sähe sie wahrscheinlich aus wie ein Labyrinth. Ein Labyrinth der Literatur, der Leser:innen, der Kritiker:innen und der Autor:innen. Mit unendlich vielen Verschachtelungen, denen man auf den ersten, schnellen Blick nicht folgen könnte. Nur eine behutsame Herangehensweise und aufmerksames Betrachten würde das Unübersichtliche sichtbar und durchschaubar machen. Für die Lektüre dieses Romans begibt man sich zu Beginn in dieses Labyrinth, ohne dass man weiß, dass es eines ist. Am Ende kommt man auch wieder nach draußen. Man tritt aus dem Labyrinth und hätte niemals erwartet, dass man an dieser Stelle rauskommt und man kaum glauben, was man in der Zwischenzeit alles gesehen hat.

Man begibt sich zunächst mit Diégane, einem jungen mittelmäßig erfolgreichen Autor aus dem Senegal, der in Paris lebt, auf die Suche nach dessen Idol, T. C. Elimane. Einen sagenumwobenen, aber auch mittlerweile vergessenen Autor aus dem Senegal, der in 1938 in Paris das einzige Buch seiner Karriere veröffentlichte, dann von der Bildfläche verschwand und sein Buch gleich mit. Allerdings bleiben wir nicht bei Diégane, denn in diesem Roman von Mohames Mbougar Sarr kommen viele Menschen zu Wort und tragen einen kleinen Teil zum Labyrinth dieser Geschichte bei.

Dabei ist dies keinesfalls ein einfacher, plotgetriebener Roman. Die Bezeichnung des Verlags, es handle sich unter anderem um eine „soghafte Kriminalgeschichte“, ist meines Erachtens irreführend. Soghaft: auf jeden Fall. Kriminalgeschichte: nein. Es ist vielmehr eine Geschichte über die Rezeption von Literatur und im Speziellen die Rezeption von Literatur aus Afrika. Die Wahrnehmung von Schriftsteller:innen aus afrikanischen Ländern, die im sogenannten „Mutterland“, dem Land, welches sie ehemals kolonialisierte, Gehör und Anerkennung finden wollen. Dabei geht Sarr durchaus stark (selbst-)ironisch mit sich und dem Literaturbetrieb um. Er legt mitunter satirisch aber auch knallhart und ehrlich den Finger in vergangene und immer noch vorhandene Wunden durch den Kolonialismus. „Die Kolonisation sät bei den Kolonisierten Verzweiflung, Tod, Chaos. Doch sie sät in ihnen auch – und das ist ihr teuflischer Erfolg – den Wunsch zu werden, was sie zerstört.“ (S.406)

Stilistisch schafft dies Sarr auf grandiose Weise. Denn Prämissen, die inhaltlich benannt werden, werden stilistisch in die sehr unterschiedlich geschriebenen Textpassagen überführt. Nach dem recht bildungssprachlich überladen, hochtrabenden Einstieg ins Buch (wovon man sich nicht abschrecken lassen sollte), wird uns dieses Stilmittel an anderer Stelle versteckt angekündigt bzw. erklärt. So wird in einer im Buch eingebauten Kritik geschrieben: „Schade, dass ein offenkundig begabter Autor es vorgezogen hat, sich in sinnlosen Stilübungen zu ergehen und hinter Bildungsbeflissenheit abzuschotten, anstatt uns etwas wiederzugeben, was uns viel mehr interessiert hätte: den Pulsschlag eines Kontinents“ (S.93). Sarr spielt hier gekonnt mit den Erwartungen seiner (europäischen) Leser:innen und hebelt damit das aus, was noch heute häufig in der Wahrnehmung und Bewertung von Literatur vom afrikanischen Kontinent falsch läuft. Diese vielen Hinweise und mitunter gut versteckte Auseinandersetzungen mit diesem Thema waren für mich das zentrale Themengebiet des Romans und haben mich vollends vom meisterhaften Können des Autors überzeugt.

Eine andere Stelle verdeutlicht die Vielstimmigkeit und Komplexität des vorliegenden Romans. So wird gesagt auf S. 130: „In einer Erzählung befinden wir uns immer – aber vielleicht, allgemeiner, auch zu jedem Zeitpunkt unserer Existenz – zwischen den Stimmen und den Orten, zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft.“ Man kann bei der Lektüre durchaus mal kurzzeitig den Überblick verlieren, wer hier eigentlich wann wem was erzählt. Aber man findet sich wieder hinein in den Text und wird belohnt mit augenöffnenden Erkenntnissen, die ich nicht mehr missen möchte. Wie der Autor die inhaltlichen und sprachlichen Ebenen miteinander verwebt ist wirklich großartig. Sarr gibt nie "die eine Antwort", sondern bietet durch seine verschiedenen Protagonist:innen verschiedene Lebenswege und Möglichkeiten der Deutung an. Dabei „war der sagenumwobene Autor T. C. Elimane in dieser ganzen Geschichte immer abwesend, ungreifbar gewesen.“(S.417) Auch dies ein Zitat aus dem Text, auch hier weißt uns Sarr daraufhin, dass sein gesamter Roman durchkonzipiert ist und nichts zufällig passiert.

Abschließend ist noch diese Idee aus dem Roman für mich herauszustellen: "Es könnte sein, dass jeder Schriftsteller nur ein grundlegendes Buch in sich trägt, ein grundlegendes Werk, das er zwischen zwei Leerstellen schreiben muss." Also ich persönlich hoffe sehr, dass es nicht so ist, und dass Mohamed Mbougar Sarr mit seinen jungen 32 Jahren noch nicht "das eine grundlegende Buch" abgeliefert hat, sondern noch viele weitere, interessante Romane veröffentlichen wird. Ich bin ab jetzt eine begeisterte Leserin seiner (hoffentlich) noch kommenden, ebenso spannenden und intellektuell anregenden Werke.

5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 27.05.2023

„Von den falschen Taten die allerfalschesten.“

Baby Jane
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Mit „Baby Jane“ erscheint dieser Tage der zweite Roman der finnisch-estnischen Autorin Sofi Oksanen, ins Deutsche übersetzt von Angela Plöger. Dieser 2005 erstmals auf Finnisch erschienene Roman enthält ...

Mit „Baby Jane“ erscheint dieser Tage der zweite Roman der finnisch-estnischen Autorin Sofi Oksanen, ins Deutsche übersetzt von Angela Plöger. Dieser 2005 erstmals auf Finnisch erschienene Roman enthält bereits alle Bestandteile späterer Werke der Autorin. Es geht um die toxische Beziehung eines lesbischen Paares, verwebt darin das Leben mit und den sozialen Abstieg aufgrund von psychischen Erkrankungen, wirft einen Blick auf den Broterwerb im Zwielicht der Gesellschaft und verortet das Ganze in der Homosexuellenszene Helsinkis.

Wie auch schon in ihrem aktuellstem Werk „Hundepark“ erfahren wir gleich zu Beginn, in welchem Zeitraum sich die Romanhandlung abspielen wird. So legt die Autorin die Handlung von 1995 bis 2005 an. Die Ich-Erzählerin berichtet uns von ihrem Ankommen in der Gay Szene Helsinkis Mitte der 1990er Jahre. Dort initiiert wird sie durch die burschikose Piki. Eine Beschützerin, die die sehr feminine Erzählerin aufnimmt und mit Haut und Haaren in eine leidenschaftliche, lesbische Beziehung umschließt. Doch das Glück beginnt nach und nach zu bröckeln. Durch einen Zeitsprung nach nur wenigen Seiten des Buches ans Ende des genannten Zeitraums erfahren wir, dass diese Liebesbeziehung nicht gut ausgehen wird.

Oksanen nimmt uns ganz selbstverständlich mit in die lesbische Beziehung der beiden Protagonistinnen, führt uns ein in die Szene Helsinkis, die noch halb in verborgenen Nachtclubs stattfindet und mit den Ausläufern der AIDS-Epidemie zu kämpfen hat. Sie hebt das Tabu um die Beschreibung lesbischer Sexualität auf und beschreibt intensiv die erste, leidenschaftlich-sexuelle Phase der Liebesbeziehung. Und genauso ungeschönt bewegen sich die Frauen auf eine Katastrophe zu und wir erkennen nach und nach die toxischen Anteile der Beziehung. Denn die Ich-Erzählerin, selbst an Depressionen erkrankt, erfährt nicht nur immer mehr über die stark einschränkenden psychischen Erkrankungen ihrer Geliebten und verstrickt sich in (CAbhängigkeiten zu ihr, sondern findet sie auch heraus, dass eine längst verflossene Ex-Freundin Pikis, Bossa, ebenso in einer Abhängigkeit zu Piki steht und sie durch Aufrechterhaltung wiederum einer Abhängigkeit von Piki zu ihr ein gefährliches Beziehungsgeflecht heraufbeschwört. Immer stärker gewinnt die Phrase „Leidenschaft, die Leiden schafft“ hier an Bedeutung und lässt bei den Leser:innen schlimme Vorahnungen aufkommen. Es ist dabei hervorzuheben, dass die Autorin nicht einem Narrativ folgt, indem nur eine Person in der Beziehung zu deren Untergang beiträgt, sondern alle Beteiligten Fehler machen. So sagt die Erzählerin über sich selbst an einer Stelle, die habe „von den falschen Taten die allerfalschesten“ begangen. Das Aufschlüsseln dieser Beziehungsdynamiken und der entsprechenden Mechanismen gelingt der Autorin einfach ganz hervorragend.

Besonders eindrücklich schafft es Oksanen - mal wieder - sehr gut recherchierte, gesellschaftliche Themen in den Romanplot einfließen zu lassen, ohne dass es belehrend wirkt. So erfahren die Lesenden sehr viel über psychische Erkrankungen, deren Behandlung und der, wenn nicht genügend finanzielle Ressourcen vorhanden sind, soziale Abstieg, der damit in Verbindung stehen kann. Somit verbindet sie nicht nur den Themenbereich „class“ mit psychischer Gesundheit sondern auch sexueller Orientierung. So müssen sich die Protagonistinnen einen Broterwerb (rund um sexuelle Fetische) im Zwielicht der Gesellschaft suchen, ein Themenkomplex, der immer wieder in den Werken Oksanens eine Rolle spielt. So packt sie nicht einfach nur aktuelle Problemthemen in einen Roman und erwähnt diese Probleme nur am Rande, um sie in den Ring zu werfen und en vogue zu sein. Nein, sie verhandelt ausgesuchte Bereiche, die wie oben bereits erwähnt, sehr ausführlich und gut recherchiert sind. So ist dieser Roman nicht nur erzählerisch interessant sondern auf jeden Fall ebenso intellektuell anregend.

Sprachlich geht die Autorin gewohnt schonungslos und rasant vor. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund und das muss man mögen. Ich mag ihre Sprache, in der tollen Übersetzung von Angela Plöger, ebenso sehr, wie den Aufbau des Romans mit seinem zu Beginn angedeutetem Unheil, welches aber en detail erst ganz zum Schluss zutage gefördert wird und überrascht. So avanciert der Roman zu einem echten Pageturner mit Niveau. Ich wurde in die Geschichte dieser Frauen, die nicht mit aber auch nicht ohne einander sein können, hineingezogen und habe entsprechend das Buch kaum weglegen können. Wegen mir hätte der Roman gern den Umfang von „Hundepark“ haben können. So bleibt es aber ein kleiner, rasant erzählter Roman, der mich trotzdem vollkommen überzeugt hat vom schriftstellerischen Können der Autorin.

Wer also den Sprung in eine ungemütliche, schonungslose und gleichzeitig literarisch ansprechende Geschichte wagen möchte, dem empfehle ich diesen Roman aus dem Frühwerk von Sofi Oksanen sehr. Ein kleines Highlight in diesem noch jungen Jahr 2023.

5/5 Sterne

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