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Veröffentlicht am 29.01.2024

Eine literarische Zombie-(Post-)Apokalypse - geht das?

Zone One
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Ja, das geht durchaus. Und das bei Colson Whitehead auch gar nicht mal schlecht. Aber leider eben auch nicht so richtig gut, wie von ihm gewohnt.

Dieser 2011 erstveröffentlichte Roman begleitet den Zivilisten ...

Ja, das geht durchaus. Und das bei Colson Whitehead auch gar nicht mal schlecht. Aber leider eben auch nicht so richtig gut, wie von ihm gewohnt.

Dieser 2011 erstveröffentlichte Roman begleitet den Zivilisten "Mark Spitz" über drei Tage hinweg auf seinem vom Militär organisierten Feldzug einer sogenannten Sweeper-Gruppe, die versucht die restlichen Zombies, welche nach einer klassischen Infektionswelle noch übrig sind, aus New York zu tilgen. Die drei Tage machen die drei Teile des Romans aus und erschöpfen sich jedoch nicht in einer platten Splatter-Geschichte, sondern nähren sich von vielen ausführlichen Rückblicken in die Welt vor, während und kurz nach dem Ausbruch.

Es wäre fatal bei Colson Whitehead von einen wenig tiefgründigen Zombie-Roman auszugehen. Er verwebt (natürlich!) das Thema race auch in diesen Roman, wenn auch nicht so präsent wie in seinen aktuelleren Werken. Wichtig sind hierbei die Selbstbeschreibungen und Zuschreibungen, die den Hauptcharakter betreffen. "Mark Spitz" ist nämlich nur der Spitzname des Protagonisten. Seinen wahren Namen erfahren wir nie. Wie er zu dem Spitznamen gekommen ist, verrät jedoch viel über eingebrannte Vorurteile, die in den USA immer noch gegenüber Schwarzen Menschen existieren. Auch beschreibt sich der Protagonist selbst als durchweg mittelmäßig, in allem was er je getan und erreicht hat in der Gesellschaft. Dies lässt Schlüsse auf das Zurechtfinden eines Schwarzen in der Welt der Weißen durchscheinen.

Leider hat das Buch durch die vielen - mitunter essayistisch wirkenden - Rückblicke seine Längen. Sprachlich brilliert Whitehead nicht so stark, wie man dies aus seinen späteren Werken gewöhnt ist. Merkwürdig erscheint, dass die Übersetzung an manchen Stellen wirklich schwach ist. Merkwürdig deswegen, da Nikolaus Stingl auch für spätere Übersetzungen verantwortlich zeichnet. Meine Vermutung: Spätere Werke spielen größtenteils in der Vergangenheit und hantieren daher eher mit älterem Vokabular. Dieses Werk spielt in der nahen Zukunft und verwendet moderne Formulierungen, die sehr holprig übersetzt wurden.

Somit kann ich dem "mittelmäßigen" Protagonisten in und mit diesem Roman leider auch nur eine mittelmäßige Bewertung geben. Es handelt sich um einen grundsätzlich sehr guten - vor allem unter der Prämisse einer Zombie-Apokalypse - Roman, der jedoch durch die Übersetzung an Schwung verliert und holprig wird. Solide, mehr aber leider nicht.

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Veröffentlicht am 29.01.2024

Gefangen im eigenen Körper

Der Riss
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In diesem beklemmenden Werk zieht uns die südkoreanische Autorin Hye-Young Pyun ins Innere ihres Protagonisten Ogi. Durch einen schweren Verkehrsunfall, bei welchem seine Ehefrau stirbt, wird der Geografie-Professor ...

In diesem beklemmenden Werk zieht uns die südkoreanische Autorin Hye-Young Pyun ins Innere ihres Protagonisten Ogi. Durch einen schweren Verkehrsunfall, bei welchem seine Ehefrau stirbt, wird der Geografie-Professor Ogi zum Gefangenen seines eigenen Körpers. Er kann sich nicht mehr bewegen und aufgrund schwerer Verletzungen des Kieferbereichs in keiner Weise mehr artikulieren. Allein durch den Lidschlag kann er Fragen mit Ja oder Nein beantworten. Nach Monaten des Krankenhausaufenthaltes holt ihn seine Schwiegermutter und einzige Verwandte nach Hause, welche selbst noch mit der Trauer um ihre verstorbene Tochter zu kämpfen hat. Auf sich selbst zurückgeworfen beginnt Ogi sein Leben und vor allem seine Ehe Revue passieren zu lassen und eigene Schuldgefühle zu durchleben. Gleichzeitig registriert er das immer merkwürdiger werdende Verhalten seiner Schwiegermutter und ist ihr letztlich vollständig ohnmächtig ausgeliefert.

Nach einer anfänglichen Anlaufphase entwickelt sich dieses dünne Büchlein von 224 Seiten schnell in einen echten Psychothriller. Gekonnt schafft es Hye-Young Pyun die unglaubliche Hilflosigkeit des Protagonisten zu schildern, von welcher die Lesenden angesteckt werden, und eine fast erdrückende Beklemmung beim Lesen aufkommen zu lassen. Einen meines Erachtens nennenswerten Anteil hat hieran sicherlich auch die hervorragende Übersetzung von Ki-Hyang Lee, welche schon Han Kang oder auch das in 2021 erschienene "Kim Jiyoung, geboren 1982" von Nam-Joo Cho übersetzte.

Dass sich aus einem so dezent aber wunderschön gestaltetem Buch eine solche Alptraumgeschichte herausbilden könnte, habe ich nicht erwartet. Allein das Ende des Buches ist dann wenig nachvollziehbar geraten. Obwohl mich Hye-Young Pyun mit in diesen "Riss" hinunter ziehen konnte, hat sie mich ganz zum Schluss noch auf dem Weg nach unten etwas verloren. So verpuffte der mit tatsächlichem Herzrasen begleitete psychologische Effekt des Romans bei mir mit den letzten Sätzen.

Trotzdem handelt es sich hierbei um ein definitiv lesenswertes Buch und damit einen Grund, die Autorin weiterhin bezüglich zukünftiger Veröffentlichungen im Blick zu behalten.

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Veröffentlicht am 29.01.2024

"Das bestverkaufte Sachbuch nach 1945"...

Bestseller
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"Das bestverkaufte Sachbuch nach 1945" ist ein Prädikat, welches diesem Sachbuch von Jörg Magenau zwar nicht verliehen werden wird, was aber wohl bei Wikipedia gefühlt jedem etwas häufiger verkauftem Buch ...

"Das bestverkaufte Sachbuch nach 1945" ist ein Prädikat, welches diesem Sachbuch von Jörg Magenau zwar nicht verliehen werden wird, was aber wohl bei Wikipedia gefühlt jedem etwas häufiger verkauftem Buch aufgestempelt wird. Dass dergleichen schon einmal gar nicht möglich ist, dass es eigentlich nur ein einziges "bestverkaufte" (Sach-)Buch nach 1945 geben kann, scheint den Verfassern bei Wikipedia nichts zu stören. Auf solche Kuriositäten wird man in Jörg Magenaus Buch über die Bestseller in der BRD nach 1945 aufmerksam gemacht.

Man erfährt aber noch jede Menge mehr. Nämlich, zu welchen Themengebieten es richtiggehend Wellen des Leseinteresses in den verschiedenen Phasen im Westdeutschland der Nachkriegszeit gegeben hat. Zunächst das Verdrängen durch Lektüre von Büchern, die sich mit der ferneren Vergangenheit archäologisch beschäftigen, später die fast manische Auseinandersetzung mit Hitler und "seinen Helfern" oder 15 Jahre nach der Wende die buchpreisgekürten DDR-Familienromane. Magenau beschäftigt sich sowohl mit den Belletristik- als auch Sachbuch-Bestsellern, erläutert wie diese Bestsellerlisten überhaupt entstehen und warum man (logischerweise) keine solche Betrachtung für die Buchverkäufe in der DDR möglich sind. So rattert er aber auch eben nicht einfach nur stur die jeweiligen Bestseller der einzelnen Jahre nach 1945 runter, sondern gruppiert sie zu Themengebieten, erörtert, warum gerade diese Bücher so beliebt waren (und teilweise noch sind). Auf einzelne Bücher geht der Autor dann noch detailliert ein, fasst Inhalt zusammen und kann seinen Wurzeln als Feuilletonist nicht entkommen, wenn er diese durchaus nicht nur objektiv analysiert. So scheint beim Lesen vielfach durch, was der Autor von den jeweiligen Büchern hält und dass er einzelne Bestseller als anspruchsvolle (Unterhaltungs-)Literatur und wissenswerte Sachbücher bewertet, andere hingegen eher belustigt betrachtet und tatsächlich, wie es bei einem Bestseller nun einmal fast unumgänglich ist, für die breite Masse herausgegeben empfindet, worunter das Niveau leidet.

Insgesamt ist dieses Buch für mich ein nicht nur rein literaturhistorisches, sondern vielmehr eine Auseinandersetzung mit den Strömungen innerhalb einer Gesellschaft und dem Zeitgeist in verschiedenen Jahrzehnten. Man lernt nicht nur etwas über die besprochenen Bücher, sondern auch über das Nachkriegs(west-)deutschland, ein winziges Bisschen auch über die DDR. Das Buch ist keineswegs trocken, sondern liest sich flott herunter. Eine perfekte Kombination aus Informationen und Lesespaß.

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Veröffentlicht am 29.01.2024

Unfassbarer Schmerz

Erschütterung
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Wenn das eigene Kind eine schwerwiegende Erkrankung diagnostiziert bekommt, ist die menschliche Seele kaum oder gar nicht in der Lage diese Situation einigermaßen zu bewältigen. Es ist eine massive Erschütterung ...

Wenn das eigene Kind eine schwerwiegende Erkrankung diagnostiziert bekommt, ist die menschliche Seele kaum oder gar nicht in der Lage diese Situation einigermaßen zu bewältigen. Es ist eine massive Erschütterung der Vorstellung von Leben, wie es sein sollte. Am liebsten würde man einfach nicht mehr daran denken müssen, sich ablenken, wegrennen, wenn es schon nicht geht aus eigener Kraft das eigene Kind zu beschützen, zu retten. Denn nur diese eine Funktion hat ein Elternteil ab der Geburt des Kindes. So Zach Wells, der erzählende Protagonist des Romans "Erschütterung" von Percival Everett.

Wie eine Familie mit dem steten, krankheitsbedingten Verfall des Kindes umgeht, erzählt Everett psychologisch feinsinnig aber nie sentimental-kitschig in diesem berührenden Roman. Die Konstruktion des Romans ist dabei eigenwillig, hängt aber nie seine Leserinnen ab. Selten habe ich von einer solch innigen Beziehung zwischen Vater und frühreifen, intelligenten Tochter gelesen, wie hier. Dieses Gespann erzeugt so viel Herzenswärme, dass es einem eiskalt den Rücken herunter läuft, wenn man später von der immer größer werdenden Distanzierung liest. Meisterhaft beschreibt Everett die seltene Erkrankung und den Verfall der Tochter Sarah, tiefgründig der Kampf der Eltern um sie als auch im ihre Beziehung zueinander. Und Everett nimmt immer wieder in den Fokus, auf welche Weise der Mensch Ablenkung, Erleichterung, vielleicht auch Erlösung in dieser unerträglich erschütternden Lebenssituation sucht. So driftet der Plot immer mehr zu Zachs Versuchen ab, wenn schon nicht seine Tochter, dann doch andere Personen zu retten. Der Roman bekommt zum Ende hin einen durchaus spannenden Thriller-Plottwist, der thematisch in eine ganz andere Richtung geht. Auch diesen Teil des Buches habe ich mit angehaltenem Atem gelesen, finde jedoch, dass der Autor damit zu viele Themen eröffnet und damit vom zentralen Thema der Vater-Tochter-Beziehung zu weit abdriftet. Was er damit bezwecken wollte, ist mir durchaus bewusst, es gibt diesem großartigen Roman dadurch aber eine Unwucht, die er nicht gebraucht hätte.

"Telephone" ist der Originaltitel dieses Romans des Pulitzer Prize Finalisten. Das ist dahingehend wichtig, da er sich auf das (im Deutschen) Spiel "Stille Post" bezieht. Eine Nachricht verändert sich, umso häufiger sie weitergesagt wird. Eine Geschichte verändert sich, umso häufiger sie erzählt wird. Und: In der amerikanischen Originalausgabe erscheinen drei Versionen des Romans. Drei verschiedene Cover mit drei leicht verschiedenen Enden. Die Entscheidung, sich bei "Nichtgefallen" des Ausgangs des Romans, einfach eine andere Version zu besorgen, jedoch nie zu wissen, ob man ein besseres oder schlechteres Ende dadurch für sich selbst schafft, hat noch einmal eine ganz andere Durchschlagskraft in Bezug auf die Geschichte von Zach und seiner Tochter. Uns Leser
innen in Deutschland wird (meines Wissens) diese Möglichkeit der Entscheidungsfindung nicht ermöglicht. Wir müssen damit klarkommen, was der Verlag für uns ausgesucht hat und uns unserem und Zachs Schicksal fügen.

Insgesamt handelt es sich meines Erachtens bei diesem Buch um einen absolut berührenden, schmerzhaften, großartigen Roman, der eine einmalige Vater-Tochter-Geschichte erzählt. Diese Geschichte wird mich noch lange begleiten. Deshalb runde ich - trotz vorhandener Kritikpunkte - guten Gewissens auf 5 Sterne auf.

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Veröffentlicht am 29.01.2024

Was wäre wenn...?

Das Siebte
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Was wäre, wenn du dein Leben noch einmal leben könntest. Mit allen Erinnerungen an den ersten Durchgang? Eine Frage, die sich sicherlich schon jeder einmal gestellt hat. Meist verbindet man damit, Fehler ...

Was wäre, wenn du dein Leben noch einmal leben könntest. Mit allen Erinnerungen an den ersten Durchgang? Eine Frage, die sich sicherlich schon jeder einmal gestellt hat. Meist verbindet man damit, Fehler ausbügeln zu können, einen anderen Abzweig im Leben zu nehmen. Aber was ist, wenn man in einem Loop gefangen ist und immer und immer wieder bei der Geburt auf Start zurückgesetzt wird? Wenn man Gedächtnis und Erfahrungen von mehreren hundert Jahren Lebenszeit ansammelt und trotzdem wieder bei Start beginnen muss? Diesem Schicksal sieht sich plötzlich der Ich-Erzähler dieses Romans ausgesetzt. Er versucht in den verschiedenen aufeinanderfolgenden immer selben - nämlich seinen eigenen - Leben mal die Politik zu beeinflussen, mal die Naturwissenschaften, mal als religiöser Guru zu agieren. Doch schon bei dieser Schilderung sollte klar werden, wie zermürbend allein schon die Vorstellung an dieses sinnlose Unterfangen ist, geschweige denn die Umsetzung.

So schildert Tristan Garcia in einer hochklassigen sprachlichen Umsetzung verschiedene philosophische Problemstellungen, die mit der Prämisse des Romans und damit mit der Prämisse des Protagonisten einhergehen. Mitreißend webt er eine schicksalhafte Liebesgeschichte ein, die nicht zwingend zu Happy Ends (ja Plural, da ja mehrere Leben) führt. Auch die Frage nach dem Sinn und Zweck von Freundschaft wird thematisiert. Es geht aber viel mehr um das große Gedankenexperiment dieses Romans. Dieses besticht in seiner Durchdachtheit und Konsequenz. Allein gegen Ende geht mir die Geschichte nicht weit genug und verpasst es, den Kreis zu schließen.

Da der Roman in Frankreich eigentlich in einem Romanzyklus, welcher sieben Bände umfasst, veröffentlicht wurde, hier aber nur die Übersetzung des siebten und letzten Romans erscheint, fehlt der Blick auf das Gesamtwerk. In Frankreich ist das Buch "7 romans" erschienen, von welchem "La septième" (Das Siebte) nur den letzten Teil des Zyklus darstellt. Die sieben Romane, so erfährt man aus den Anmerkungen der Übersetzerin, weisen Querverweise untereinander auf. Auch wenn der Autor ausdrücklich unterstreicht, dass die Romane durchaus getrennt voneinander rezipiert werden können, glaube ich, dass sich erst durch das Gesamtwerk das Große Ganze für die Leser*innen eröffnet. Ich hätte sehr gern "Das Siebte" im Kontext der anderen Romanteile gelesen. Schade, dass es nur zu einer Übersetzung dieses Teils gekommen ist.

So bleibt der Roman für mich zuletzt zu offen gestaltet. Durchaus etwas, was einem philosophischen Prosawerk guttun kann, mir hier aber eher ein unbefriedigendes Gefühl und einen ganz zum Schluss zu lahmen Abgang aus dem gut durchdachten Gedankenkonstrukt des Autors beschert hat.

Insgesamt halte ich diesen Roman - auch als Einzelwerk - wirklich äußerst lesenswert, über weite Strecken sogar großartig. Wer sich also schon einmal gewünscht hat, sein eigenes Leben noch einmal leben zu können, sollte zuvor dieses Buch lesen, um sich zweimal zu überlegen, was man sich da wünscht.

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