Profilbild von GAIA_SE

GAIA_SE

Lesejury Star
offline

GAIA_SE ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit GAIA_SE über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 29.01.2024

Danach braucht man frische Luft

Totalbeton
0

Dieser Roman zeichnet in seiner Prämisse eine zutiefst dystopische Zukunft, in welcher außer einem unvorstellbar großem Hochhaus aus Beton (Wände, Möbel, alles) und dem undefinierbaren "Draußen" nichts ...

Dieser Roman zeichnet in seiner Prämisse eine zutiefst dystopische Zukunft, in welcher außer einem unvorstellbar großem Hochhaus aus Beton (Wände, Möbel, alles) und dem undefinierbaren "Draußen" nichts mehr existiert. Das in der Ich-Form erzählende Kind eines undefinierbaren Alters, aber im Verlauf bei aufmerksamen Lesen definierbaren Geschlechts, lebt mit den Eltern eingeschlossen in einer Wohnparzelle in der 5969. Etage. Wie viele Etagen mehr es in diesem Gebäude gibt, weiß niemand. "Vor den Toren" des Gebäudes ohne Tore stapeln sich die Ausgestoßenen. Ein Gewimmel wie einem Hieronymus Bosch Bild entsprungen.

Der Umgang der Familie untereinander ist genauso erschreckend und klaustrophobisch wie der Betonbau an sich. Der Vater betäubt sich mit dem "Abstumpfungsmittel", gleich nachdem sich die Familie das "Nährmittel" zugeführt hat. Die Wohnung wird nie verlassen. Man starrt auf einen Bildschirm, der die Ausgestoßenen vor dem Gebäude zeigt, als Abschreckung ja nicht aufzufallen, nicht aus der Reihe zu tanzen, nicht ausgestoßen zu werden. Wenn der Vater austickt, verprügelt er das Kind. Die Mutter ist depressiv und weinerlich. Der Platz in der Parzelle ist begrenzt, wird das Kind zu groß, passt es nicht mehr auf seinen Betonschlafplatz auf dem Boden, muss sich kleinmachen, sollte am besten verschwinden. Und das tut es dann auch. Es verschwindet nachdem es sich seiner selbst bewusst geworden ist und sich die Frage stellt, die man sich als Leser*in schon die ganze Zeit stellt: Weshalb? Weshalb das alles?

Und ab diesem Punkt des Romans verflüchtigt sich nicht nur das Kind sondern auch die greifbare Handlung. Das Buch wandelt sich zu einem einzigen philosophischen Gedankenexperiment, wird metaphysisch, transzendental , zuletzt nicht mehr greifbar. Es tut mir leid, da hat mich persönlich der Roman verloren. Diese unglaublich beunruhigende, verstörende Dystopie verpufft meines Erachtens im Finale. Nach ca. 40 Seiten wollte/musste ich an die frische Luft, da sich die Atmosphäre des Settings gespenstisch über mich stülpte und ich dachte ein neues Meisterwerk zu lesen. Nach weiteren - und den damit letzten - 100 Seiten wollte ich an die frische Luft, um wieder etwas Konkretes vor Augen zu haben.

"Konkret" - Beton (engl.) = "concrete". (Das ist jetzt ein Gedankenspiel meinerseits. Die Autorin ist frankophone Kanadierin). Der Roman scheint den Aggregatzustand zu wechseln, was mir persönlich nicht entgegen kommt. Was ich toll finde: Die Entscheidung des kleinen Verlags secession zum scheinbar passenden Papier. Dies ist meines Wissens der einzige Verlag, der in auf der Seite mit den Copyright-Angaben neben der verwendeten Schriftart etc. auch explizit die Papiersorte angibt. Warum ist das bei "Totalbeton" relevant? Das Kleine Büchlein scheint tonnenschwer in der Hand. Das Papier wirkt beim Darüberstreichen wie glatt polierter Beton, nur dass das Papier eine gefühlte Wärme abgibt, wohingegen Beton jegliche Wärme abziehen würde von einer aufgelegten menschlichen Hand. Sollte das alles so geplant sein, wäre ich fast geneigt, dem Buch doch 4 statt nur 3 Sterne zu geben.

Abschließend entscheide ich mich jedoch auf der inhaltlichen Ebene für die 3 Sterne. Da meines Erachtens das Buch großartig startet und sich dann zu sehr verliert, zu intellektualisiert in seinem philosophischen Geschwurbel. Wirklich schade.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 29.01.2024

Opium fürs Literaturvolk

Hundepark
0

Der Opiumanbau wie auch die Einzellspende ist in Deutschland verboten. Das Erste sollte vielen bekannt sein, das Zweite eher weniger. Beides wird hingegen in der Ukraine, wenn man Sofi Oksanens neuen Roman ...

Der Opiumanbau wie auch die Einzellspende ist in Deutschland verboten. Das Erste sollte vielen bekannt sein, das Zweite eher weniger. Beides wird hingegen in der Ukraine, wenn man Sofi Oksanens neuen Roman und ihren Recherchen im Rahmen dessen Glauben schenken kann, vielfältig genutzt, um weit verbreiteten, finanziellen Sorgen zu begegnen, eine gewisse Unabhängigkeit zu erlangen und vielleicht den sozialen Aufstieg zu schaffen.

Geschickt verwebt Oksanen in ihrem Roman die Geschichte der Ich-Erzählerin Olenka, welche als im Westen gescheitertes Model in ihre Heimat Ukraine zurückkehrt, um dort zunächst selbst als Eizellspenderin und später aufgestiegen in der Hackordnung als Koordinatorin ebendieser zu agieren, mit den postsowjetischen Zuständen und politischen Ereignissen ab 2009 in der Ukraine. Das geschäftstüchtige Unternehmen "Eizellspende" wird kaltblütig mit bedürftigen Mädchen gefüttert, die nicht nur eine Hormontherapie über sich ergehen lassen müssen, sondern auch ihre Gesundheit durch dieses Verfahren riskieren. "So gern die Elite ins Ausland fuhr, um dort etwas für ihre Gesundheit zu tun, war unsere Gesetzgebung doch einzigartig, wenn es um die Unterstützung bei der assistierten Anschaffung von Kindern ging: Nur die künftigen Eltern genossen juristischen Schutz, während Spenderinnen und Leihmütter keinerlei Rechte besaßen." Die ukrainische Landbevölkerung hingegen hält sich mit illegalen Gruben und dem Schlafmohn- und damit Rohopiumanbau im Garten über Wasser. Beides zwielichtig, beides kreuzgefährlich.

Olenka schildert zunehmend um Verständnis bittend mit Rückschauen auf vergangene Jahre und Erlebnisse einem ominösen "Du" ihr Leben, was sie als einfache Putzfrau bis nach Helsinki geführt hat. Nur portionsweise, so wie es Olenka dem angesprochenen "Du" preisgeben möchte, erfahren wir mehr über die weitreichenden Zusammenhänge ihrer Handlungen und Taten. Wir müssen darauf hoffen, dass sie uns die Wahrheit - oder zumindest ihre Wahrheit - darlegt, denn Olenka ist eine Meisterin des Manipulierens gewesen. Doch in diesem Roman ist keine der Figuren einfach nur "böse" oder "gut", nur "Täter" oder "Opfer". Besonders Olenka bekommt so viele Facetten zugeschrieben, dass ihre Erzählung, ihr Geständnis umso lebhafter und authentischer wirkt. Zugegeben, der verknoteten Handlung muss man sehr aufmerksam folgen, um sie annähernd verstehen zu können. Verwirrend wird mitunter erzählt. Aber all dies ist grandios von Sofi Oksanen konzipiert. Der Roman fesselt bis zum Schluss und liest sich durch seine mitunter harte, dem Charakter und Denken der Protagonistin angepassten Sprache wie ein düsteres Spiegelbild einer zunehmend moralisch zerrütteten Gesellschaft.

So lässt sich dieses vom brillant durchdachten Cover bis zum letzten Satz durchweg stimmig konstruierte Buch uneingeschränkt für eine nicht nur spannende, sondern auch unglaublich wissenswerte - wie auch, aufgrund der Hintergrundinformationen zur modernen Ukraine, hochaktuelle - Lektüre dringend empfehlen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 29.01.2024

Wir sind die Bewunderung.

Wir sind das Licht
0

Wir sind die Überraschung. Selten stellen wir uns noch beim Lesen ein, da alles schon einmal dagewesen scheint. Aber nein, schon beim ersten Satz des gelesenen Romans war unsere Leserin überrascht. Er ...

Wir sind die Überraschung. Selten stellen wir uns noch beim Lesen ein, da alles schon einmal dagewesen scheint. Aber nein, schon beim ersten Satz des gelesenen Romans war unsere Leserin überrascht. Er beginnt nämlich mit dem Satz "Wir sind die Nacht." und lässt gleich im ersten Kapitel die Nacht davon erzählen, was sich in dieser merkwürdigen Wohngemeinschaft zugetragen hat, dass hier jemand gestorben ist und danach alles ganz schnell ging, bis zum nächsten Tag. Als Überraschung erscheinen wir meist nur einmal kurz, denn wir sind per definitionem eigentlich ein kurzfristiges, einmaliges Gefühl. Aber während unsere Leserin dieses Buch las, traten wir gleich mehrfach auf. Mindestens 24 Mal, denn so viele Kapitel hat das Buch und - "Überraschung!" - jedes Kapitel wird von unterschiedlichen Entitäten (konkrete oder abstrakte Gegenstände, wer es nicht weiß und von diesem Wort "überrascht" ist) erzählt.

Wir sind der Plot. Unsere Leserin hat einen Roman über ein anorektisches Mädchen vielleicht Anfang 20 erwartet, die in ihrer WG an Unterernährung verstirbt. Dann wird geforscht, wie es dazu kommen konnte, usw. usf. Aber nein, wir sind kein aufgrund des Klappentextes vorhersehbarer Plot. Denn es geht um eine ältere Frau, mit grauen Haar, emotional sensibel, wortkarg, die einfach verhungert und es sitzen drei erwachsene Menschen währenddessen um sie herum, schauen zu und tun: nichts. Danach erfahren unsere Leser, wenn sie sich nicht durch die Überraschung über die Erzählperspektiven zu stark ablenken lassen, wie es zu der eingestellten Nahrungsaufnahme kam, wer die alternative Wohngruppe anleitet und vielleicht auch diese eine Person, Elisabeth ist ihr Name, in den Tod geführt hat.

Wir sind das Gehirn. Wir haben gern etwas zu tun. Und bei der Lektüre dieses Romans hatten wir ganz schön viel zu tun. Gar nichts so sehr auf der inhaltlichen Ebene (verratet es nicht "dem Plot") sondern vielmehr dadurch, dass wir uns immer wieder auf neue Erzählperspektiven einstellen mussten. Da tun nämlich nicht nur "die Nachbarn" ihre Meinung kund, sondern auch "das Brot", "der Orangenduft" oder (ganz grandios) "die Demenz".

Wir sind das Bücherregal. Häufig bekommen wir die Last von unglaublich dicken, schweren Büchern aufgebürdet. Dann wieder von viel zu dünnen, leichten Heftchen, die wir fast gar nicht auf unserem Rücken spüren. Mit dem vorliegenden - oder für uns eher "aufliegenden" - Werk haben wir aber genau das richtige Gewicht zum Aufbewahren bekommen. Es hat, wie es die Menschen sagen würden, genau die richtige Länge. Es endet an der perfekten Stelle, ist anspruchsvoll zwischendurch, aber nicht zu "schwer" trotz des Themas einer verhungerten Person im Inneren. Mit solchen Büchern sind wir immer sehr zufrieden, die bewahren wir noch sehr gern lange auf unseren Holzbrettern auf und vielleicht nimmt unsere Leserin ja genau dieses Buch in ein paar Jahren noch einmal aus uns heraus, um es noch einmal zu lesen. Denn wir haben gehört, auch das würde sich bestimmt lohnen. Wir wissen aber schon jetzt: Nie wieder werden wir dieses tolle Exemplar seiner Art wieder gänzlich abgegeben.

Wir sind die Leselampe. Wir sind eigentlich immer sehr pflichtbewusst. Bescheinen mit angenehmen Leselicht die Bücher, die unsere Besitzerin gerade lesen möchte. Normalweise bekommen wir dadurch nie den Schutzumschlag eines Buches zu sehen, weil dieser zuvor sicherheitshalber zur Seite gelegt wird. Den Sinn dahinter verstehen wir nicht, denn er soll ja das Buch "schützen". Aber gut, wir sind ja "nur" eine Leselampe. Bei "Wir sind das Licht" hat uns aber ganz besonders das Cover interessiert. Also haben wir, ganz schnell, wenn unsere Leserin mal gezwinkert hat, unser Licht auf den Umschlag geworfen. Das Umschlagbild erschien uns dabei sofort ganz passend. Das können wir beurteilen, denn wir lesen immer heimlich den Inhalt mit, während wir Licht spenden. Das Cover ist unheimlich und anlockend zugleich. Es ist stilsicher und gefällt auf den ersten Blick.

Wir sind die Bewunderung. Uns verspürt unsere Leserin nicht bei jedem Buch, nein, wir entstehen nur, wenn ihr etwas ganz Besonderes vorgelegt wird. Und der Roman "Wir sind das Licht" ist so etwas Besonders. Er ist innovativ und mutig für eine Debütantin im Feld der literarischen Veröffentlichungen. Hier hat sich jemand etwas gewagt - und gewonnen. So klingen wir noch lange in unserer Leserin nach, die gar nicht aufhören kann von diesem Roman zu schwärmen. Wir als Bewunderung versuchen so häufig wie möglich gefühlt zu werden, deshalb würde unsere Leserin diesen Roman von Gerda Blees auch so ziemlich allen Leser*innen weiterempfehlen. Also sagen wir: Lest dieses umwerfende Debüt!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 29.01.2024

Ein Standardwerk

Heimkehren
0

Mit diesem Debüt ist Yaa Gyasi ein Zaubertrick gelungen. Sie hat es geschafft mithilfe von zwei Familienzweigen eines Stammbaums über sieben Generationen hinweg die Geschichte der Versklavung afrikanischer ...

Mit diesem Debüt ist Yaa Gyasi ein Zaubertrick gelungen. Sie hat es geschafft mithilfe von zwei Familienzweigen eines Stammbaums über sieben Generationen hinweg die Geschichte der Versklavung afrikanischer Menschen im Rahmen der Kolonialherrschaft Großbritanniens in Westafrika und deren Folgen für alle Nachkommen auf nur 415 Seiten literarisch mitreißend zu erzählen.

Der Roman geht von zwei Halbschwestern aus, die nichts voneinander wissen und deren Lebensgeschichten sowie die ihrer Nachkommen ganz unterschiedlich verlaufen. Die eine, Effia, wird mit dem britischen Kommandant eines Forts an der sogenannten "Goldküste", welches als Umschlagplatz des Sklavenhandels in Richtung der USA dient, verheiratet. Sie erahnt nur die Gräuel, die im Kellergeschoss dieser Festung mit der menschlichen Ware passieren, bekommt aber auch mit, wie ihr ehemaliges Fante-Dorf zu einem wichtigen Handelspartner der Briten in diesen Belangen wird. Zunächst bereits als Sklaven abgestempelte Asante und später zunehmend Kriegsgefangene aus den von den Briten geschürten Konflikten zwischen den beiden Völkern werden unter schrecklichsten Bedingungen in Schiffen über den Atlantik nach Nordamerika und die Karibik verbracht, um dort als Sklaven über Generationen hinweg gequält und ausgebeutet zu werden. Diese Geschichte wird von Gyasi über die zweite Schwester, Esi erzählt, welche auf einem Schiff genau diese scheußliche Reise durchmachen muss und deren Nachkommen in den Südstaaten auf den Baumwollplantagen eingesetzt werden.

Nun fragt man sich schon zu Beginn, mit Blick auf den im Anhang des Buches befindlichen Familienstammbaums, ob es bei diesen vielen Erzählebenen möglich sein wird, den Geschehnissen, welche so unglaublich flott erzählt werden, auch folgen zu können. Und ich kann beruhigen: Ja, das ist problemlos möglich. Yaa Gyasi schreibt so gekonnt, entwirft ihren Roman so nachvollziehbar, dass jeder Generationensprung, jeder Protagonistenwechsel für die Leserinnen vollkommen stimmig geschieht. So wird der Roman mit jedem Kapitelwechsel folgendermaßen nach vorn bewegt: Wir beginnen mit einem Kapitel Effia, danach ein Kapitel Esi, und mit dem darauffolgenden Kapitel wechseln wir zu erst zu dem Sohn von Effia und dann zu der Tochter von Esi. Somit behält man a) leicht den Überblick, auf welcher Familienseite man sich gerade befindet und weiß b) dass man alle zwei Kapitel wieder eine Generation vorangeschritten ist. Dabei gewährt uns Gyasi einen Blitzlicht-Einblick in die Lebensumstände und Herausforderungen der jeweiligen Person und schafft durch gekonnte Rückblicke eine Verbindung zu der vorherigen Generation. Das ist wirkliches Können und funktioniert bis zum Schluss hervorragend.

In jede Lebensgeschichte tauchen die Lesenden ein und können aufgrund der erzählerischen Raffinesse von Gyasi sofort eintauchen und emotional angegriffen werden. Und natürlich liegt es im Thema des Romans, dass es hier emotional anstrengend wird. So fasst ein später Nachkomme, der seine Familiengeschichte soziologisch, wissenschaftlich bearbeiten möchte sehr gut zusammen, was uns - zumindest auf der Seite von Esis Familie - im Roman erwartet:

"Ursprünglich hatte er sich auf das System der Sträflingsarbeit konzentrieren wollen, das seinen Urgroßvater H Jahre seines Lebens geraubt hatte, das Projekt wurde jedoch umso umfangreicher, je weiter er sich darin vertiefte. Wie konnte er die Geschichte seines Urgroßvaters erzählen, ohne über seine Großmutter Willie und die Millionen Schwarzen zu sprechen, die vor den Jim-Crow-Gesetzen geflohen und nach Norden migriert waren? Und wenn er die Great Migration erwähnte, müsste er auch über die Städte sprechen, die die Flüchtlinge aufgenommen hatten. Er müsste über Harlem sprechen. Und wie konnte er über Harlem sprechen, ohne die Heroinsucht seines Vaters, seine Gefängnisaufenthalte, sein Vorstrafenregister zu sprechen?"

Es scheint, als ob das, was diesem Protagonisten von einem Punkt zum nächsten hat denken lassen in der wissenschaftlichen Aufarbeitung seiner Familiengeschichte, auch Gyasi bei ihrem Romanprojekt ereilt hat. Sie musste auch auf der Seite von Esi, deren Familie in Afrika auf dem Gebiet des heutigen Ghana verblieben ist, zwangsweise jeden Schritt bis hin zum modernen Ghana durchdeklinieren, um die Menschen von heute mit ihren transgenerationalen Erfahrungen gut darstellen zu können. Und so verstand ich persönlich durch Yaa Gyasis Buch nun erstmals, was in Afrika zur Zeit der Kolonialherrschaft passiert ist. Nicht in der Tiefe, aber im Überblick. Für die Tiefe ist jetzt der Anreiz gesetzt, sich weiter in afrikanische Literatur zu vertiefen. Denn es muss die Geschichte von den Menschen und verschiedenen Völkern in Afrika erzählt werden, um ein vollständiges Bild abgeben zu können. Die Sicht der Kolonialmächte ist hier eindeutig verfälscht. So sagt ein Nachkomme Esis, welcher Lehrer geworden ist, zu seinen Schülern:

"Geschichte ist Geschichtenerzählen.[...] Wir können nicht wissen, welche Geschichte stimmt, weil wir nicht dabei waren.[...] Wir glauben dem, der die Macht hat. Er darf seine Geschichte schreiben. Wenn ihr Geschichte studiert, müsst ihr euch deshalb immer fragen: Wessen Geschichte bekomme ich nicht zu hören? Wessen Stimme wurde unterdrückt, damit die andere Stimme zu hören ist? Sobald ihr das herausgefunden habt, müsst ihr auch diese Geschichte suchen. Dann bekommt ihr ein klareres, wenn auch noch immer unvollständiges Bild."

Yaa Gyasi hat genau das gemacht, sie hat auf die Stimmen gehört, die Jahrhunderte lang unterdrückt wurden. Nun können ihre Leser
innen diese Geschichten lesen und damit ein (etwas) klareres Bild bekommen. Mir persönlich erging es jedenfalls so und ich kann dieses Buch nur ausdrücklich für eine Lektüre empfehlen, damit hoffentlich immer mehr Menschen auch die Stimme der Unterdrückten hören und Zusammenhänge besser verstehen lernen. Eine lehrreiche, überwältigende und emotional aufrüttelnde Lektüre!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 29.01.2024

Interessante Essays aus der Tenniswelt

Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht
0

Zugegeben mir fiel zwar die Tennisspielerin Andrea Petković durchaus im Literarischen Quartett auf, auch war mir die Veröffentlichung der vorliegenden Essay-Sammlung bekannt, nur wurde ich auf ihr Können ...

Zugegeben mir fiel zwar die Tennisspielerin Andrea Petković durchaus im Literarischen Quartett auf, auch war mir die Veröffentlichung der vorliegenden Essay-Sammlung bekannt, nur wurde ich auf ihr Können als Autorin erst durch einen Feuilleton-Beitrag in einer DIE ZEIT-Ausgabe im Januar 2022 aufmerksam. Dort kommentierte sie mit spitzer Feder den "Covid-Tennisskandal" um Novak Đoković bei den Australian Open. Und mit diesem Artikel war für mich entscheiden: Das Buch "Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht" musst du lesen!

Beginnend mit Eindrücken aus ihrer Kindheit, ihrem späteren Leben, Erfolgen und Misserfolgen, dem Tennissport als solchen und zuletzt auch aus dem Privaten legt die Autorin 18 Erzählungen vor, die literarisch niveauvoll einen abwechslungsreichen Einblick in diese Themen bieten. Dabei wirft sie meines Erachtens gerade zu Beginn des Buches etwas zu häufig mit Lebensweisheiten und Kalendersprüchen um sich. Einmal merkt sie dies sogar selbst an: "Der Körper ist ein Wunderwerk an Potenzial, das nur darauf wartet, ausgeschöpft zu werden. (Achtung! Kalenderspruch-Alarm!)". Aber auch weitere Sprüche sind manchmal etwas over-the-top: "Alles, was ich über das Leben weiß, ist, dass es wie der Ozean ist. [...] Alles, was ich über Tennis weiß, ist, dass Tennisliebhaber auch Lebensliebhaber sind. [...] Das Schöne am Tennis: Alles geht, nichts muss. [...] Im Ozean des Lebens, im Viereck des Tennisplatz, ist alles erlaubt - solange ich verdammt noch mal durchhalte, egal, was kommt." Etwas merkwürdig auch folgender Vergleich: "An Training war nicht zu denken, weil ich zu müde war. An Schlaf war nicht zu denken, weil ich zu wach war. Der klassische Flop eines Planes, seit die USA geglaubt hatten, sie hätten was in Vietnam zu suchen. Oder alle europäischen Länder jemals in Russland." Ein Vergleich, der angesichts einer falschen Entscheidung fix in zwei Tagen zwischen zwei Spielen aus den USA noch einmal in die Heimat nach Deutschland zu fliegen, eher unpassend wirkt. Aber das waren tatsächlich schon die schlimmsten Beispiele. Petković gewinnt im Verlauf des Buches an literarischem Selbstbewusstsein und außerdem stark an Humor und Selbstironie. So musste ich mitunter schallend lachen, wenn sie von YouTube-Algorithmen spricht, welche sie von Tennis-Match-Sequenzen innerhalb von vier Stunden "bei einem Make-up-Tutorial für Giraffen" ankommen lassen. Oder wenn es um erzwungene Schönheitsideale im Damentennis geht:

"Wenn ich schon in meiner Arbeitszeit mit den Blicken der anderen konfrontiert werde, will ich wenigstens im Privaten meine Ruhe haben. Ich bevorzuge nun mal, ungesehen in Bondgirlmanier aus dem Wasser zu gleiten, die Haare nach hinten zu werfen, die Hüften zu wiegen - um dann auf eine Muschel zu treten, hinzufallen, Salzwasser zu schlucken und prustend wie eine Robbe an den Strand gespült zu werden. Mit beiden Beinen gen Himmel."

Die Selbstironie bringt nicht jedeer Spitzensportlerin zustande. Chapeau Frau Petković, chapeau!

Nun bin ich eine Person, die von Tennis wirklich absolut keine Ahnung hat. Weder weiß ich (immer noch nicht), wie im Tennis mithilfe der Mathematik eine Siegerin ermittelt wird, noch sind mir irgendwelche Top-Weltranglisten-Athlet*innen bekannt. Ich würde gerade noch so Steffi Graf oder Boris Becker erkennen, wenn sie im Tennisdress vor mir stünden. Das machte es an manchen, aber nicht vielen, Stellen des Buches mitunter schwer, den geschilderten Geschehnissen zu folgen. Da wäre es mir Tennis-Banausin durchaus entgegen gekommen, wenn Petković einen kleinen Nebensatz der Erklärung eingefügt hätte.

Für eine anregende Lektüre sind Vorkenntnisse des Sports jedoch nicht zwingend notwendig, sodass ich diese literarischen Ergüsse von Andrea Petković durchaus allen Interessierten empfehlen kann. Petković beweist, dass die, im Buch mehrfach gekonnt erwähnte, Faszination für anspruchsvolle Literatur auf ihr eigenes Schreiben abgefärbt hat. Natürlich ist sie (noch) kein David Foster Wallace, aber wer weiß, vielleicht kommt sie bei weiterem disziplinierten Training der Schreibkunst irgendwann einmal in seine Nähe. Dass sie diese Disziplin auf dem Platz beherrscht, hat sie scheinbar bereits bewiesen. Ich hab mir sagen lassen, dass es ein Qualitätsmerkmal sei, wenn jemand unter den Top 10 der Tennis-Weltrangliste spielt...

Zuletzt noch ein Wort zum Cover des Buches. Meines Erachtens hat der Verlag hier die bestmögliche Entscheidung getroffen. Statt eine Top-Spielerin als Zugpferd mit sexy Bildchen auf den Buchdeckel zu drucken, rückt die Person Andrea Petković durch das dezente Design in den Hintergrund. Wer Interesse am Buch hat, wird aufgrund des Inhalts danach greifen, nicht weil die Autorin berühmt ist.

So entscheide ich mich nach einem Leseeindruck, der 3,5 Sternen entspricht aufgrund des Gesamtpakets jedoch gern für die aufgerundeten 4 Sterne, empfehle das Buch gern weiter und freue mich schon auf weitere Veröffentlichungen der Autorin Andrea Petković. Die Tennisspielerin Andrea Petković würde ich wahrscheinlich weiterhin auf der Straße nicht erkennen, aber dann kann sie wenigstens galant über einen Stein stolpern, sich eben noch fangen, um dann vielleicht den Kaffee-to-go auf das eigene Shirt zu kleckern. Who knows...

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere