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Veröffentlicht am 09.01.2024

Turnen auf dem Mond

Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah
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Die 36jährige Go Mani hat ihr gesamtes Leben in einem „Mondviertel“ Seouls verbracht. Nun könnte man denken, dass „Mondviertel“ für ein besonders exklusives Wohnerlebnis steht, leider ist dem nicht so. ...

Die 36jährige Go Mani hat ihr gesamtes Leben in einem „Mondviertel“ Seouls verbracht. Nun könnte man denken, dass „Mondviertel“ für ein besonders exklusives Wohnerlebnis steht, leider ist dem nicht so. Es handelt sich hierbei um Viertel mit kleinen, ärmlichen Häuschen auf steilen Hügeln am Rande von Seoul, die durch die Höhenmeter „dem Mond nahe“ sind. Diese „Nähe zum Mond“ bedeutet aber im Umkehrschluss eine Distanz zum Seouler Stadtkern mit seinem Fortschritt und Wohlstand. So wächst Mani in Armut bei ihren Eltern auf, mit denen sie mit Ende Dreißig immer noch zusammen im verfallenen Elternhaus lebt. Sie gilt (vielleicht nicht nur) für südkoreanische Verhältnisse als gescheiterte Existenz. Aus dem Wunsch einer Karriere als Turnerin ist nicht geworden, nach zehn Jahren Anstellung in einer Firma als „Tippse für alles“ wird sie gefeuert, sie ist weiterhin unverheiratet und das Elternhaus soll abgerissen werden, um der fortschreitenden seouler Stadtentwicklung Platz zu machen.

An diesem Punkt setzt der Roman von Cho Nam-Joo (Autorin von „Kim Jiyoung, geboren 1982“) ein und erzählt aus der Ich-Perspektive von Mani mithilfe ihren Erinnerungen in Form von Rückblenden deren bisherigen Lebensweg und weiteres Fortkommen. Durch konventionelles Erzählen versucht uns der Roman mit solidem Erzählstil die Geschichte dieser Frau näher zu bringen. Nun ist es aber so, dass ich eher unbeteiligt diesen Roman gelesen habe, die Charaktere blieben mir immer ein bisschen fern und kamen mir eben nicht nahe, jedenfalls nicht im Sinne von Sympathien. Denn der Umgang untereinander ist über weite Strecken sehr herzlos. So wird die Mutter von Mani von ihr als eine Frau beschrieben, die in früher Kindheitsjahren eine Entwicklungsverzögerung hatte und bis zum heutigen Tage geistig eingeschränkt ist. Das wird nicht so vorsichtig formuliert, wie ich dies gerade getan habe, sondern leider eher abfällig und wenig liebevoll. So erscheint mir auch die Personenzeichnung der Mutter inkonsistent. Wird zunächst beschrieben, dass es eine merkliche Entwicklungsverzögerung mit kognitiven wie auch emotionalen Einschränkungen gibt, heißt es nach einem Zusammenbruch der Mutter bei einem für sie überfordernden Elterntreffen in der Schule „Auch die Lehrerin musste gewusst haben, meine Mutter war vollkommen gesund, aber ich schämte mich für sie.“ Die Mutter wird aber eindeutig als nicht gesund im Buch beschrieben. An anderer Stelle geht es um die schlechte finanzielle Situation der Familie, die im Winter nur selten heizt und mitunter wenig Essen auf dem Tisch hat. Mani soll auf eine Schule mit Turnabteilung gehen, die Eltern verzweifeln über die finanzielle Belastung einer Privatschule, der Vater bekommt einen Herzinfarkt, aber im gleichen Absatz heißt es, ohne zu erläutern, wo denn nun das Geld für die Privatschule hergekommen ist: „Das (der Herzinfarkt) hätte wirklich böse enden können. In die neue Schule ging ich aber trotzdem wie geplant.“ So relativ plump werden Fakten häufig einfach proklamiert in diesem Roman. Cho Nam-Joo geht größtenteils nach dem Prinzip „Tell, don‘t show“, statt andersherum, vor. Keine Frage, dabei bekommt man einige Einblicke in die südkoreanische Gesellschaft, vor allem eben in die unterste Schicht dieser, lernt einiges zur Stadtentwicklung Seouls in den 1980er, 90er, 00er Jahren, aber packen konnte mich die Geschichte dadurch nicht so richtig.

Sprachlich mutet außerdem etwas merkwürdig die zwischenzeitlich kurz auftretende lapidare Umgangssprache. An Stellen der direkten Rede, an denen gezeigt werden soll, dass die sprechende Person eben Umgangssprache spricht, ist das verständlich. Aber im Rahmen der Rückblicke, die und Mani aus ihrer nun Ende Dreißigjährigen Sicht erzählt, wirkt dies vollkommen unpassend, zumal wir wissen, dass sie mittlerweile das College besucht hat, also einen höheren Bildungsweg und Bürotätigkeiten nachgegangen ist. So kommt es wie Sätzen, die wie dieser hier endet: „Der eigenen Not durch Gesetzesvorstöße, Gesetzesumgehung und Tugendlosigkeit entgehen zu wollen, ist normal, den Dornenweg brav und ehrbar beschreiten zu wollen, ist bescheuert.“ oder „Ich sprang auf und zog meine Hose und Unterhose herunter. Ein dunkelbrauner Fleck. Scheiße. Da hatte ich dem beschissenen Gezanke nun also einen Schlusspunkt gesetzt, indem ich mir selbst in die Hose geschissen hatte.“ oder es ist von „beschissenen Schließfächern“ die Rede, etc. Die Übersetzung des vorliegenden Romans stammt von Jan Henrik Dirks, der nach Ki-Hyang Lee (die kongenial „Kim Jiyoung, geboren 1982“ übersetzte) und Inwon Park (Übers. von „Miss Kim weiß Bescheid“) nun schon der dritte Übersetzer ins Deutsche von Cho Nam-Joo Texten ist. Bei drei deutschsprachigen Übersetzungen insgesamt. Ob es nun an der Übersetzung liegt, oder am Originaltext kann ich nicht beurteilen, nur sind mir solche Formulierungen aus den beiden anderen genannten Veröffentlichungen nicht bekannt. Positiv anzumerken ist erstmalig das Nutzen von Fußnoten, die gewisse südkoreanische Begriffe im Anhang erklären. Leider sind diese ab und an obsolet. Steht zum Beispiel im Text (frei zitiert) „wie eine Braut trug ich folgende Kleidungsstücke…“ wird dazu im Anhang erklärt „Traditionelles Erscheinungsbild der koreanischen Braut bei einer Hochzeit“. Das ergibt sich dann durchaus schon aus dem Originaltext heraus. An anderer Stelle fehlt eine genaue Erläuterung, die man sich zum tieferen Verständnis gewünscht hätte.

Inhaltlich bietet der vorliegende Roman als neue Facette sicherlich das Thema der Stadtentwicklung Seouls und der damit einhergehenden Verdrängung der ärmeren, einheimischen Bevölkerung im Rahmen des rasanten Fortschritts Seoul in den letzten Jahrzehnten. Bezüglich der vielen Beispiele an konservativen, mitunter misogynen, südkoreanischen Konventionen hat meines Erachtens „Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah“ nicht viel Neues zu bieten. Dies kann auch am Veröffentlichungszeitpunkt des Originaltextes liegen und an dem, was wir mittlerweile an Texten aus Südkorea hier in Deutschland lesen konnten. Denn wichtig ist anzumerken: Der Originaltext stammt, wie auch „Kim Jiyoung, geboren 1982“ aus dem Jahre 2016! Nachdem mit „Miss Kim weiß Bescheid“, im Original 2021 erschienen (Dtl. 2022), eine aktuelle Kurzgeschichtensammlung veröffentlicht wurde, greift bei „Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah“ der Verlag auf einen alten Text zurück. Und im direkten Vergleich, kann dieser Roman einfach nicht mit der Innovation und erzählerischen Raffinesse (wir erinnern uns an die Erzählperspektive!) mithalten. Sicherlich hat diese deutschsprachige Erstveröffentlichung auch ein Existenzrecht, keine Frage, ich wüsste aber im Zweifel, welches Buch der Autorin ich Interessierten empfehlen würde...

Somit stellt „Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah“ einen guten Roman dar, den man lesen kann, aber nicht muss, wenn man schon zwei, drei südkoreanische Romane mit ähnlichen Themenfeldern gelesen hat. Gestalterisch passt er auf jeden Fall sehr schön in die eigene Sammlung der Cho Nam-Joo Romane.

3/5 Sterne

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Veröffentlicht am 19.12.2023

Ein mit sehr viel Raffinesse konstruierter Roman

Das Meer der endlosen Ruhe
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Beginnt man Emily St. John Mandels aktuellen Roman zu lesen, denkt man zunächst, dass es sich um eine relativ leicht durchschaubare Zeitreise-Geschichte mit Pandemie-Touch handelt. Wir bewegen uns, wie ...

Beginnt man Emily St. John Mandels aktuellen Roman zu lesen, denkt man zunächst, dass es sich um eine relativ leicht durchschaubare Zeitreise-Geschichte mit Pandemie-Touch handelt. Wir bewegen uns, wie schon das Inhaltsverzeichnis vermuten lässt durch die Zeit. Von einem britischen, ausgestoßenem Adelsspross, Edwin St. John St. Andrew, 1912 im kanadischem Exil, nach 2020 zu einer merkwürdigen, musikalischen Kunstperformance des Bruders der bereits verstorbenen Vincent (weibl.), zur Autorin Olive Llewellyn, die in 2203 für eine Lesereise ihre Heimat, die Mondkolonie, verlässt und auf der Erde herumreist, bis in die ferne Zukunft 2401 ebenso auf dem Mond, auf dem es ein Zeitreiseinstitut gibt und Gaspery-Jacques Roberts als Recherchemitarbeiter rekrutiert wird und beginnt durch die Zeit zu reisen. Wie man vermuten kann, hängen alle Erzählstränge miteinander zusammen.

Allein die Grundgeschichte hat St. John Mandel solide konstruiert. In Zeitreisegeschichten geübte Lesende werden relativ schnell hinter die Zusammenhänge steigen und sich trotzdem an den kleinen Geschichten, die in den einzelnen Erzählsträngen entstehen, erfreuen können, und am Ende vielleicht doch von dem letzten Dreh der Geschichte doch noch überrascht werden. Viel interessanter finde ich aber die anderen Aspekte, die die Autorin auf der Metaebene in den Roman eingebaut hat. Denn funktioniert vor allem der Strang um die Schriftstellerin Olive größtenteils durch die Einbindung zum einen eigener, persönlicher Erfahrungen der Ehefrau und Mutter Emily St. John Mandel während der Corona-Pandemie, denn auch in 2203 steht eine neue Pandemie, mit einem neuen Virus an. Aber die Autorin steigt noch eine Metaebene höher, denn ist Olives vorletzter Roman gerade einer über eine Pandemie. So wird sie nun bei ihrer Lesereise, die zum vorletzten Roman stattfindet, da dieser verfilmt werden soll, hauptsächlich zum Thema Pandemie befragt. Dann bricht tatsächlich diese neue Pandemie aus. Und genau das ist, was St. John Mandel mit ihrem 2014 im englischen Original und 2015 auf Deutsch veröffentlichten Roman „Das Licht der letzten Tage“ passiert ist. Dieser wurde auch für eine Verfilmung gekauft, die geht damit auf Lesereise und dann kam Corona. Der fiktive Roman „Marienbad“ von Olive enthält wiederum Passagen, die Stellen aus „Das Licht der letzten Tage“ stark ähneln. So findet man sich als damalige Leserin von „Das Licht…“ während des Lesens von „Das Meer der endlosen Ruhe“ immer wieder erinnert an diesen real existierenden Roman von St. John Mandel. Aber damit nicht genug, denn auch das Personal aus dem Roman „Das Glashotel“ von St. John Mandel taucht als Personal in „Das Meer…“ wieder auf. Nun aber eben nicht als innerhalb des vorliegenden Romans fiktive Schöpfung von Olive, sondern als real existierende Figuren in der Handlung von „Das Meer…“.

Diese Konstruktion über mehrere Ebenen hinweg finde ich so großartig gelungen, dass für mich dieser trotzdem nie kompliziert geschriebene, sondern immer süffig zu lesende Roman komplett für sich einnehmen konnte und ein Highlight geworden ist. Es empfiehlt sich daher sehr stark, sollte man die anderen beiden Bücher von St. John Mandel sowieso vorhaben zu lesen, diese vor „Das Meer…“ zu lesen. Somit bekommt man nicht nur eine flotte, gut funktionierende Zeitreise-Pandemie-Geschichte, sondern auch noch das Extrapaket der raffiniert eingebundenen Querverweise mit dazu. Der Roman funktioniert definitiv auch ohne, aber mit dem Vorwissen wurde er eindeutig zu einem Highlight.

Viel Spaß also beim Entdecken dieses vielschichtigen Romans und gegebenenfalls beim „Nachlesen“ der vorherigen Bücher der Autorin. ;)

5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 13.12.2023

Eine würdige Fortsetzung der Trilogie

Rosewater – der Aufstand
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Auch im zweiten Teil der Wormwood-Trilogie überzeugt Tade Thompson mit kreativen Ideen zu einer Sci-Fi-, Fisrst-Contact- Geschichte verortet im Nigeria von 2067.

Ein Jahr nach den Geschehnissen des ersten ...

Auch im zweiten Teil der Wormwood-Trilogie überzeugt Tade Thompson mit kreativen Ideen zu einer Sci-Fi-, Fisrst-Contact- Geschichte verortet im Nigeria von 2067.

Ein Jahr nach den Geschehnissen des ersten Buches treffen wir Kaaro aber vor allem auch seine Partnerin Aminat, ehemalige Chefin Femi sowie weitere Protagonisten wieder, um sie bei ihren Abenteuern rund um die außerirdische Entität Wormwood und die darum entstandene Stadt Rosewater zu begleiten. Diesmal ist das große Thema des Romans, dass das auf den ersten Blick friedliche Alien von einer mit eingeschleppten Pflanzenart bedroht wird und gleichzeitig die Stadt in Chaos versinkt, als der Bürgermeister Jack Jacques (in diesem Band mit anderen Charakteren aus dem ersten Band ins Zentrum gerückt) die Unabhängigkeit von Rosewater von Nigeria erklärt und ein blutiger Bürgerkrieg ausbricht. Nebenbei lernen wir noch ein neues außerirdisches Wesen besser kennen.

Wir man erkennen kann, spielt auch in diesem Buch von Thompson die Politik und die Entwicklung von Slums zu anerkannten Städten oder gar unabhängigen Stadtstaaten in Afrika eine Rolle. Ebenso wie er erneut die Zerstörung unserer Erde über das Vehikel der von ihrem Planeten flüchtenden Aliens in die Geschichte einwebt. Dies zwar weniger subtil, sondern schon recht plakativ, aber egal. Man kann es nicht oft genug betonen, dass wir unseren schönen Planet zerstören.

Die Erzählperspektive wird in der vorliegenden Fortsetzung aufgebrochen. Sind wir im ersten Band noch ausschließlich Kaaro gefolgt, bekommen wir nun sehr viele Protagonisten und deren Sichtweisen auf das Geschehen präsentiert. Das funktioniert insofern gut, als man die Personen größtenteils schon aus dem ersten Band kennt. Nur einige wenige tauchen komplett neu auf.

Diese Perspektivwechsel machen das Buch, neben dem gewohnt zackigen Plot, sehr spannend, führen aber gegen Ende des Buches zu einer gefühlt zu schnellen Abfolge von verschiedenen Entscheidungen und Ereignissen, wodurch die Übersichtlichkeit der Geschehnisse und Nachvollziehbarkeit auf menschlicher Ebene eingeschränkt werden. Ein langsameres Erzähltempo hätte dem Roman zum Ende hin sehr gut getan.

Trotzdem kann ich nicht klagen. Es handelt sich um ein sehr spannendes Science Ficiton-Abenteuer mit Niveau, ebenso wie der erste Band, welcher mich jedoch vollumfänglicher überzeugen konnte. Nun heißt es warten auf den dritten Band, welcher erst in einem Jahr erscheinen wird… Ich bleibe auf jeden Fall dem Autor und seiner ungewöhnlichen Geschichte treu.

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Veröffentlicht am 13.12.2023

Das große Desaster im Kleinen erzählt

Was es braucht in der Nacht
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Laurent Petitmangin, selbst in Lothringen in eine Bahnarbeiterfamilie hineingeboren, schafft in seinem gesellschaftskritischen Roman „Was es braucht in der Nacht“ den Spagat zwischen einer ganz persönlichen ...

Laurent Petitmangin, selbst in Lothringen in eine Bahnarbeiterfamilie hineingeboren, schafft in seinem gesellschaftskritischen Roman „Was es braucht in der Nacht“ den Spagat zwischen einer ganz persönlichen Familiengeschichte und den großen gesellschaftspolitischen Fragen unserer Zeit.

Mit dem Vater von Fus und Gillou, setzt er einen abgearbeiteten Ich-Erzähler auf die Spitze dieses massiven, problembelasteten Eisbergs von Familie, die nur noch aus den genannten drei Männern und einigen Wahlverwandten besteht. Denn „die Mutti“ ist an Krebs verstorben, als die Jungs noch Kinder waren, und dies hat einen Riss in der Familie hinterlassen, den der Vater nicht mehr fähig ist, aus eigener Kraft zu kitten. Fus rutscht in die rechte Szene im Dunstkreis des Front National ab, welcher gerade in ländlichen, früheren Arbeiterregionen, immer mehr Aufschwung bekommt. Es entsteht eine Abwärtsspirale, die die Familie in den Abgrund zu reißen droht.

Bereits auf den ersten Seiten dieses großartig entworfenen und feinfühlig erzählten Romans wird klar, dass Petitmangin nicht nur eine rein schicksalhafte Familiengeschichte mit den groben Worten eines Bahnarbeiters erzählen möchte, sondern in seinen Sätze auch tonnenschwere Aussagen über den Zustand des immer hoffnungsloser werdenden Arbeitermilieus einbringt. Er benötigt für tiefgründige Überlegungen nur wenige Pinselstriche, um diese glaubwürdig und nachvollziehbar zu zeichnen. Mit seinen 160 Seiten ist dieser Roman auf das Allernötigste aber eben auch das Allerwichtigste reduziert. Fast jeder Satz kann herausgenommen und auf seine Deutungsmöglichkeiten hin überprüft werden. Die Erzählung, welche noch relativ ruhig beginnt, nimmt gerade im letzten Drittel des Buches stark an Fahrt auf und spannend mündet alles in gleich mehreren Katastrophen, mich erst einmal auf der letzten Seite sprachlos zurückgelassen haben.

Was braucht es, um einen Menschen und die Menschen, die ihn lieben, in den Abgrund zu reißen? Welche Verwicklungen des Schicksals, aber auch welche politischen Fehlentscheidungen und wirtschaftliche Folgen bringen die Menschen ganzer Landstriche ins Wanken und führen sie in die Arme von extremistischen Gruppierungen? Was hätte es gebraucht, um einen Menschen von seinen unumkehrbaren Taten abzuhalten, ihn in eine andere Richtung zu lenken? Wie geht eine Familie und im Speziellen ein Vater damit um, wenn ein geliebter Mensch abdriftet und was wäre eigentlich die „richtige“ Art damit umzugehen? All diese und noch viele weitere Fragen wirft der vorliegende Roman von Laurent Petitmangin auf. Beantwortet bekommen wird sie kaum oder gar nicht, doch allein für die Beschäftigung mit ihnen, das Durchdeklinieren der Möglichkeiten, lohnt sich die Lektüre dieses Romans doppelt und dreifach.

Meines Erachtens äußerst authentisch beschreibt der Autor den Kampf oder auch eben nicht vorhandenen Kampf des Vaters um seine Söhne; mit Worten und Gedankengängen des Ich-Erzählers, die einem Mann aus dem Arbeitermilieu angepasst sind. Allein ein Kritikpunkt meinerseits steckt in genau diesen Worten: die Wahl der beiden Übersetzer den Begriff „la moman“ (siehe Original) mit „die Mutti“ zu übersetzen. Meinetwegen hätten sie die französische Formulierung gänzlich im Text belassen können, aber diese sehr spezielle Verniedlichung des Begriffs, den der Vater durchgängig für seine verstorbene Ehefrau verwendet, schmerzt bei jedem Lesen und reißt aus dem ansonsten intensiven Lesefluss dieser düster-gedrückten Atmosphäre heraus.

Da dies jedoch mein einziger, kleiner Kritikpunkt an dieser ansonsten wirklich mitreißenden wie auch vieldeutigen Geschichte ist, kann ich eine Lektüre nur aus ganzem Herzen empfehlen, denn diese Geschichte einer Radikalisierung und die Auswirkungen auf die Familienmitglieder ist etwas Universelles, was nicht nur in Lothringen in Frankreich, sondern genauso auch in Deutschland, den USA, Italien oder Brasilien so stattfinden kann und derzeit weltweit auch stattfindet.

Somit komme ich auf 4,5 Sterne, die ich gern auf 5 Sterne zugunsten dieses grandios entworfenen Romans aufrunde.

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Veröffentlicht am 13.12.2023

Genialer Irrsinn

Aibohphobia
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Etwas über diesen Geniestreich von Kurt Fleisch zu schreiben, stellt sich gar nicht so einfach dar wie gedacht. Denn inhaltlich ist fast jedes Wort zu viel gesagt, wenn man versuchen würde, den „Plot“ ...

Etwas über diesen Geniestreich von Kurt Fleisch zu schreiben, stellt sich gar nicht so einfach dar wie gedacht. Denn inhaltlich ist fast jedes Wort zu viel gesagt, wenn man versuchen würde, den „Plot“ des Romans „Aibohphobia“ zusammenzufassen. Eine Handlung gibt es im eigentlichen Sinne nämlich nicht. Vielmehr handelt es sich um den groteskesten Briefroman, den man sich vorstellen kann – oder vielleicht auch gar nicht vorstellen kann, bevor man ihn nicht selbst gelesen hat.

Ein gewisser Herr H. schreibt in seiner Funktion als Psychiater Briefe an seinen Patienten Herrn S. Aber ist Herr S. hier wirklich der geistesgestörte Patient oder ist vielleicht doch alles ganz anders?

Die Briefe von Herrn H. sind wirklich zum Schreien komisch. Bitterböse werden Behandlungsmethoden der Psychiatrie aufs Korn genommen und genauso unglaublich klug eingesetzt, um Verwirrung zu stiften. Das gesamte Buch ist geprägt von wildem, assoziativem Schreiben, welches nur ansatzweise mit Begriffen wie abgedreht, kafkaesk und bizarr beschrieben werden kann. Darauf müssen sich potentielle Leser:innen einlassen können. Wer das kann und möchte, wird mit wirklich genialem Irrsinn, einem geschickt eingefädelten Konzept und vielen versteckten Querverweisen, die es zu entdecken gilt, belohnt.

Was es mit dem Titel des Buches „Aibohphobia“ auf sich hat, welche eine Angst vor Palindromen meint, also Wörtern, die man vorwärts und rückwärts gleich lesen kann, wird im Laufe der Lektüre immer klarer und regt definitiv dazu an, das Buch nach Beenden gleich noch einmal zu lesen.

Das Buch bekommt eine klare Empfehlung für alle Mutigen, die sich an diese Groteske herantrauen. Wer es nicht selbst zu lesen wagt, kann es aber zumindest getrost an Personen im Bekanntenkreis verschenken, die am Anfang ihrer Berufsbezeichnung ein „Psych…“ stehen haben, denn diese werden sich sicherlich göttlich während der Lektüre amüsieren.

Darüber hinaus ist das Buch wirklich mal wieder - wie von Kremayr & Scheriau gewohnt - ein richtiger Hingucker geworden. Selten sieht man im Gesamtkonzept so liebevoll gestaltete Bücher, wie die dieses Verlags!

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