Eine verstörende Anklageschrift
GRMEs sei vorweg gesagt: Dieses Buch von Sibylle Berg ist nichts für schwache Nerven! Selten (noch nie!) habe ich ein dermaßen düsteres, hoffnungsloses und deprimierendes Weltbild in einem Roman erlebt.
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Es sei vorweg gesagt: Dieses Buch von Sibylle Berg ist nichts für schwache Nerven! Selten (noch nie!) habe ich ein dermaßen düsteres, hoffnungsloses und deprimierendes Weltbild in einem Roman erlebt.
Der Roman bietet einen analytischen und damit auch „zersetzenden“ Einblick in ein verrohtes Großbritannien kurz nach dem Brexit. Wobei Berg hier ihren Blick ausschließlich auf das Elend der Welt richtet. Mit pointierten Sätzen nähert sie sich unzähligen Personen an, am meisten jedoch vier (zunächst) Kindern, (später) Jugendlichen, die in Rochdale, einem Vorort Manchesters, aufwachsen. In Rochdale lebt ausschließlich der vergessendste Teil der Gesellschaft; Menschen mit dem untersten sozioökonomischen Status, den man sich vorstellen kann; zwischen schreiender Armut in Sozialbauten und der Obdachlosigkeit. In dieser Welt gibt es keine Zärtlichkeit und erst recht keine Liebe. Das Leben der Kinder ist von Brutalität, sexualisierter Gewalt und emotionaler Kälte geprägt. Und man sollte wissen: Dies ändert sich auch nicht signifikant im Verlaufe der kommenden 630 Seiten des Romans! Hier handelt es sich nicht um ein Sozialmärchen in einer heruntergewirtschafteten Hochhaussiedlung mit Happy End. Hier gibt es keinen Silberstreif am Horizont. Dadurch ist der Roman wirklich nur etwas für hartgesottene Leser:innen.
Mich persönlich hat die Lektüre dieses Romans definitiv in eine depressive Stimmung gestürzt, und wer anfällig für so etwas ist, sollte vielleicht lieber die Finger von dem Roman lassen. Ebenso Menschen, die sexualisierte Gewalt nicht ertragen, seien hiermit gewarnt. Die Hoffnungslosigkeit, die in diesem düsteren Teil unserer Welt, nach Hinwegfegen des Neoliberalismus über selbige und das Zurücklassen von reiner Unbarmherzigkeit und aufkommendem Neofaschismus, gezeigt wird, erscheint wie eine Anklageschrift genau gegen das genannte System. Es scheint, als ob sich Sibylle Berg ein Manifest der Wut von der Seele schreiben musste. Und dieses ist inhaltlich einfach nur schrecklich, furchtbar und furchteinflößend. Alle Männer in diesem Roman sind sadistische Arschlöcher, die ohne die mit der Muttermilch eingesogene Wut auf das weibliche Geschlecht/Minderheiten, ihre pädophilen Deviationen und körperliche Gewalttätigkeit scheinbar nicht existieren können. Die einzige männliche Figur im Roman ohne diese Auswüchse ist eines der vier Kinder, Peter. Dessen angeborener Autismus scheint die einzige Erklärung für die Abwesenheit von Hass auf Frauen und Minderheiten sowie gewaltverherrlichenden Tendenzen.
Warum sollte man sich also dieser Zumutung von Roman stellen? Weil er einfach unglaublich klug konzipiert ist. Literarisch gesehen ist dies eines der besten und prägnantesten Bücher, die ich jemals gelesen habe. Wie es Berg schafft, die Lesenden in diese Düsternis hineinzuziehen, ist meisterhaft. Die Erzählstimme ist dabei ein wichtiger Faktor. Diese ist schwer greifbar, sie scheint allwissend dadurch, dass sie beliebig aus dem Kopf einer Person in den Kopf einer anderen Person springen kann. So scheint die Stimme mit jedem Perspektivwechsel von den Gedanken der entsprechenden Person infiziert zu werden, bleibt aber auch unabhängig und spricht mitunter die direkt Lesenden an. Und gleichzeitig bleibt sie auf fast zynischem Abstand zum Personal. Meist gibt es ein verbindendes Wort oder einen verbindenden Gedankengang, der die Überleitung zur nächsten Person (oder Entität anderer Art) bildet. So wird der Roman literarisch ergreifend und mitreißend. Vermutlich steht auch die Intention von Sibylle Berg des emotionalen Aufrüttelns und die Ermutigung zum Aktivismus hinter diesem literarischen Werk. Das Ziel, was eben ein Manifest verfolgt.
Nur ist mir persönlich das Buch dafür nicht zielgerichtet genug. Es versperrt sich gegen das Aufkommen einer - irgendwie gearteten - Hoffnung auf Veränderung. Eigentlich bleibt für die Menschen im Buch doch letztendlich alles gleich und somit ist die Schlussfolgerung: Wir sind sowieso alle verloren. Mit einer Depression geht stets eine Hoffnungs- und Hilfslosigkeit einher. Leider löst dieses - meines Erachtens 200 bis 300 Seiten zu lange - Buch genau das bei den Lesenden aus, oder kann es zumindest auslösen. Wäre das Buch halb so umfangreich und würde es nicht jegliche Brutalität immer wieder im zweiten Teil noch einmal wiederholen, könnte sich die anfängliche Bestürzung in Aktivismus umwandeln. So wie der Roman jedoch letztendlich geworden ist (ein roter Ziegelstein, inhaltlich wie auch optisch), wurde ich eher von diesem Ziegelstein erschlagen, als dass ich mit ihm die „gläsernen Decken“ zwischen den gesellschaftlichen Schichten einschlagen wollte oder könnte.
Letztendlich hätte der Roman aus meiner Sicht nach ungefähr der Hälfte sein Ziel erreichen können. Und obwohl er literarisch zu den Sternstunden der deutschsprachigen Gegenwartsanalysen zählt, kann er mich nicht dazu motivieren, die in wenigen Tagen erscheinende Fortsetzung („RCE #RemoteCodeExecution“) lesen zu wollen. Ich persönlich kann mich (derzeit) nicht noch einmal – dann 700 Seiten lang – dieser Düsternis öffnen. Die Gefahr bestünde, dass sie dann langfristig eindringt, um nicht mehr zu gehen.
Dazu ein abschließendes Zitat:
„...die Feigheit der Menschen, die leeren Läden, die staubigen Straßen und vor allem die Abwesenheit jeder Hoffnung.“ Darin „All diese Kinder und Jugendlichen, die von ihren Eltern mit in den Abgrund gerissen werden. Vom Leben oder – sagen wir – vom Vegetieren auf den Boden geschleudert, die Eltern. Und da liegen sie dann. Besoffen, depressiv, krank, verbraucht, lallend, unglücklich, jammernd, und die Kinder legen den Alten ein Kissen unter den Kopf und gehen raus und haben das Gefühl, die Welt schulde ihnen etwas, weil sie so traurige Eltern haben, die doch für sie alles sind. Die Welt. Sind. Die zusammenbricht. Es gibt nichts Gefährlicheres auf der Welt als Kinder, die keinen Halt haben.“