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Veröffentlicht am 15.09.2023

Die Weißen können schlafen, die Schwarzen müssen dienen

Der Schlafwagendiener
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Suzette Mayr, eine kanadische Autorin mit deutschen und afro-karibischen Wurzeln, greift im vorliegenden Roman ein in Vergessenheit geratenes Themenfeld auf. Sie setzt den Schwarzen Schlafwagendiener Baxter, ...

Suzette Mayr, eine kanadische Autorin mit deutschen und afro-karibischen Wurzeln, greift im vorliegenden Roman ein in Vergessenheit geratenes Themenfeld auf. Sie setzt den Schwarzen Schlafwagendiener Baxter, der für den Großteil des Romans einen Zug von Montreal nach Vancouver im Jahre 1929 betreut, ins Zentrum ihrer Geschichte. Dieser muss nicht nur mit dem Rassismus der Passagiere und Vorgesetzten klarkommen, sondern auch seine Homosexualität verheimlichen, die ihn damals mindestens ins Gefängnis gebracht hätte. Wir folgen nun diesem Zug auf seiner vier Tage (plus) Tour quer durch Kanada und erleben auf eindrückliche Weise, wie menschenunwürdig Baxter und seine anderen Schlafwagendienerkollegen behandelt werden.

Mit Baxter hat die Autorin eine äußerst interessante Figur geschaffen. Er arbeitet schon seit vielen Jahren als Schlafwagenfahrer, das alles aber nur, um sich die Fortführung seines Zahnmedizinstudiums leisten zu können. Neben seinem Faible für Zahnstellungen und dentalen Erkrankungen ist er außerdem ein großer Science-Fiction-Fan und steckt stets die Nase in ein entsprechendes Buch. Aber diese beiden Eigenarten stellen natürlich keine Gefahr für ihn dar. Im Gegensatz dazu existiert jedoch eine ständige Bedrohung durch den massiven Rassismus und die Homophobie der damaligen Zeit. Mayr rückt nicht nur diese beiden Formen der Unterdrückung ins Zentrum ihrer Geschichte, auch Klassismus und die fehlenden Rechte der Arbeiterklasse werden aufgegriffen. Alles hängt hier ohne Frage miteinander zusammen und scheint Baxter zu zerstören.

Die Autorin entwirft sprachlich gekonnt verschiedenste Passagiercharaktere, die scheinbar alle nur ihre eigenen Befindlichkeiten im Blick haben und auf sehr hohem Niveau über jede Kleinigkeit im Zug und in der Gesellschaft zum Meckern ansetzen. So schreibt sie auf Seite 46-47:

„Die Leute richten sich auf den weichen Matratzen ihrer Kojen ein, mitsamt ihren Koffern und Schachteln, ihren Hüten, Nachthemden und Morgenröcken, ihren überflüssigen Ansichten und den unerschöpflichen Bedürfnissen und Scheinbedürfnissen der Gutsituierten:…“

Während zu Beginn dieses Konglomerat aus Gutsituierten noch wie ein hochnäsiger Einheitsbrei wirkt, zeichnen sich vor allem zum Ende hin feine Differenzierungen zwischen den Fahrgästen ab, die einem nicht sämtliche Hoffnungen auf das Gute im Menschen verlieren lassen. Im absoluten Kontrast zum Leben auf der Seite der Bedienten im Zug und in der Gesellschaft steht das der Diener. Diese leben, stellvertretend dargestellt durch Baxter, am Existenzminimum, können sich kaum das Essen in der Angestelltenkantine leisten und arbeiten sich um ihre physische wie auch psychische Gesundheit, bekommen sie doch kaum Schlaf und Nahrung, sind ständig auf den Beinen. So entwickeln sich bei Baxter zunehmend Ausfallerscheinungen im Sinne von zum Beispiel kaum noch von der Realität zu unterscheidende Halluzinationen.

Wie lang so ein mehrtägiger Arbeitseinsatz, eingeschlossen in einem Zug, mit der ständigen Angst sogenannte Strafpunkte durch angebliches Fehlverhalten zu sammeln und letztlich entlassen zu werden, vermittelt Mayr passend durch ihren Schreibstil. Man hält das unablässige Klingeln nach dem „George“ (alle Schwarzen Diener erhielten den Namen George und wurden nicht bei ihrem richtigen Namen genannt), die nervenden Wünsche, Sonderbarkeiten und Typen der Passagiere kaum aus, hat das Gefühl der Zug und die Geschichte komme kaum voran, bis es dann doch endlich erlösend weitergeht. Zeitweise erscheinen 240 Buchseiten unendlich lang, aber das ist meines Erachtens literarisch so gewollt und erfüllt damit eine Funktion, nämlich die wichtige des „Show, don‘t tell“.

Trotzdem erzählt uns Mayr natürlich sehr viel mit ihrem Roman und weck dadurch nicht nur ein Bewusstsein für die vielen Wege der Unterdrückung von Minderheiten sondern auch für ein historisches Detail, welches sonst fast vergessen wäre, nämlich die „10 000 Black Men Named George“ (nach einem Filmtitel von Regisseur Robert Townsend), die Schwarzen Diener einer weißen Oberschicht. Übrigens ist der Filmtitel nur eine von sehr vielen Literatur- bzw. Quellenhinweisen, die die Autorin ihrem Buch angehängt hat. Neben der großartigen Recherchearbeit der Autorin sollte außerdem noch die ebenso großatige Übersetzungsleistung von Anne Emmert gewürdigt werden, die den Text von Mayr gekonnt ins Deutsche gebracht hat.

Deshalb gibt es von mir eine klare Leseempfehlung für dieses Buch mit einem selten beleuchteten Setting.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 12.09.2023

Volle Punktzahl in der A- und B-Note

Seemann vom Siebener
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Im Freibad darf nicht fotografiert werden. Das weiß doch jeder und jede. Lenny ist dafür vor 25 Jahren aus dem Freibad von Bademeister Kiontke verbannt worden. Nun kehrt Lennard als gefeierter Kunst- und ...

Im Freibad darf nicht fotografiert werden. Das weiß doch jeder und jede. Lenny ist dafür vor 25 Jahren aus dem Freibad von Bademeister Kiontke verbannt worden. Nun kehrt Lennard als gefeierter Kunst- und Kriegsfotograf wieder in seine Heimat zurück, denn Max, ein ehemaliger Jugendfreund ist gestorben und seine Beerdigung steht an. Doch statt zur Beerdigung geht Lenny ebenso wie Joe, Josefine, die Witwe von Max, erst einmal am letzten Wochenende der Saison ins alte Freibad. Aber eigentlich dreht sich die Geschichte von Arno Franks Roman „Seemann vom Siebener“ gar nicht so richtig um diese beiden Figuren. Nein, er dreht sich um viele Personen, die an diesem einen Tag das Freibad besuchen und alle ihren Gedanken und Problemen nachhängen. So auch Isobel, eine hoch betagte Dame, deren Ehemann das Freibad erbaute und die noch heute als ehemalige Lehrerin von vielen Freibadbesucher:innen erkannt wird. Und noch viele andere.

Arno Frank erschafft ein ganz wunderbares Tableau in diesem Freibad an diesem einen Tag im September. Jede Person bekommt ihr zugewiesene Kapitel, in denen wir in ihre Gedankenwelt eintauchen dürfen. Wirklich brillant gibt der Autor jeder Figur ihre eigene, personale Erzählstimme, die neben dem reinen Inhalt der geschriebenen Worte, allein schon durch die Form die jeweilige Figur vor dem inneren Auge entstehen lassen. Ein Mädchen bekommt als einzige die Ich-Erzählstimme zugewiesen. Sie ist es, die vorhat an diesem Tag vom gesperrten Siebeneinhalb-Meter-Turm einen Seemann-Köpper zu springen.

Ich bin absolut begeistert davon, wie es Frank schafft, mit nur wenigen Pinselstrichen seine Figuren lebendig werden zu lassen. Man glaubt es kaum, aber auf den nur knapp 240 Seiten taucht man so tief in die Psychen der Personen ein, dass man das Gefühl hat, gerade selbst vom Siebener gesprungen und fast bis auf den Grund der Dinge getaucht zu sein. Oder, um ein anderes Bild zu verwenden: Bei richtig gut geschossenen Portrait-Fotografien hat man das Gefühl das ganze Leben dieser Menschen, ihre Wünsche und Sorgen herauslesen zu können. So gelingt dies Arno Frank in seinem Roman.

Deshalb gibt es kurzerhand von mir die volle Punktzahl sowohl in der A- als auch in der B-Note für dieses Lesehighlight und eine absolute Leseempfehlung!

5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 11.09.2023

Alles „nur“ ein Traum?

Chich
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Nicht vielen Menschen ist es vergönnt, luzide (klar) zu träumen. Dies bedeutet, dass man sich während des Träumens darüber bewusst wird, dass man gerade eben träumt und man somit aktiv in das Geschehen ...

Nicht vielen Menschen ist es vergönnt, luzide (klar) zu träumen. Dies bedeutet, dass man sich während des Träumens darüber bewusst wird, dass man gerade eben träumt und man somit aktiv in das Geschehen des Traums eingreifen kann. Ein wissenschaftlich hoch spannendes Thema, welches Jonas R. Kairies in einer postapokalyptischen Rahmenhandlung aufgreift.

Der Protagonist des Romans besitzt die Fähigkeit zum Klarträumen und wird immer tiefer in die Handlung seiner Klarträume hineingezogen. Im vermeintlichen Wachzustand lebt er in einer Welt, die in einer nicht näher bezeichneten Zukunft, nach einem nicht näher bezeichneten Zusammenbruch der Gesellschaft angesiedelt ist. Sein älterer Mentor Alfons leitet ihn darin an, seine Klarträume genauer zu betrachten und sich diese zunutze zu machen. Ein bestimmter Klartraum taucht dabei immer wieder auf: Der Protagonist findet sich in einer scheinbar vormittelalterlichen Zeit wieder, in einem fremden Körper, der von Narben gezeichnet ist und auf die Menschen abstoßend wirkt. Die Sprache der Menschen versteht er nicht, auch kann er sich nicht laut ausdrücken. Schnell wird klar, er hat keine Ahnung, wie man in dieser Zeit überlebt, ist er doch einen gewissen technischen Stand aus seiner Wachzeit gewöhnt.

Kairies entwirft geschickt diese beiden Welten aus postapokalyptischer Wiederaufbauphase und antiker Landschaft. Während wir in seiner Wachzeit mehr über die neuen gesellschaftlichen Strukturen erfahren, die mit Ressourcenknappheit versucht eine neue Ordnung zwischen den Menschen aufzubauen, wird sehr realistisch dargestellt, wie verloren ein moderner Mensch zu Vorzeiten sein würde. Dort gibt es zwar noch Wälder, Pflanzen, Tiere aber sich diese zunutze zu machen, muss erlernt sein. Zum Glück steht dem Ich-Erzähler bald ein Junge zur Seite, der ihm hilft, im Wald und in der Dorfgemeinschaft über die Runden zu kommen. Nur verschwimmen damit auch zunehmend für den Protagonisten die zunächst noch deutlichen und später nur noch feinen Linien zwischen Traum und Realität.

Die größte Stärke des Romans zeigt sich meines Erachtens in der Fähigkeit Kairies diese beiden Welten, obwohl in einem phantastischen Setting, unglaublich realistisch und glaubhaft zu erschaffen. Der Protagonist ist menschlich und kann daher nicht einfach alles. So fühlt man sich selbst in die Situation versetzt, wie man als verwöhnter, moderner Mensch überhaupt in diesem Traumszenario überleben würde. Geschrieben ist das alles in einem soliden Stil, der ab und an saloppe, alltagssprachliche Formulierungen einbindet, insgesamt aber sprachlich durchaus auf einem sehr guten Niveau changiert. So taucht man ganz schnell in die angebotenen Atmosphären ein und liest süffig und gern das Buch, möchte nach dem Cliffhanger zum Schluss am liebsten sofort mit dem, bisher noch nicht erhältlichem, Nachfolgeband weitermachen. Nach meinem Geschmack hätte es gerne noch mehr Ausführungen zum postapokalyptischen Erzählstrang, in den wir immer wieder zurückkehren, geben können. Wie aber bereits der Titel zeigt, liegt die Gewichtung des Romans eindeutig auf dem Phänomen des luziden Traums und der Frage nach der Realität. Was ist Wirklichkeit? Können wir dies tatsächlich klar festlegen? Und was sind eigentlich Träume? Wohin führen sie uns? Kairies stellt mit diesem Roman auf philosophischer Ebene das Konzept des Träumens in Frage, beleuchtet es und sortiert es neu.

Kleinere formelle Schwachstellen des gedruckten Buches stelle ich bei meiner Bewertung hinten an und runde auf 4 Sterne auf. Deshalb kann ich Interessierten die Lektüre dieses Buches über das Wesen von Klarträumen wirklich empfehlen. Ich habe es sehr gern gelesen. Personen, die selbst sehr intensiv und luzide träumen, werden sich hier mitunter wiederfinden und Menschen, denen dies nicht gegeben ist, können sich in diese Erfahrungen hineinfallen lassen und etwas Neues erleben.

3,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 05.09.2023

Unentdecktes „Grooming“ in der Kirchengemeinde

Die Stärkste unter ihnen
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In ihrem Debütroman beschäftigt sich die 1993 geborene Autorin Selina Seemann mit dem sogenannten „Grooming“. Laut Wikipedia wird als Grooming „die gezielte Kontaktaufnahme Erwachsener mit Minderjährigen ...

In ihrem Debütroman beschäftigt sich die 1993 geborene Autorin Selina Seemann mit dem sogenannten „Grooming“. Laut Wikipedia wird als Grooming „die gezielte Kontaktaufnahme Erwachsener mit Minderjährigen in Missbrauchsabsicht bezeichnet, indem stufenweise ihr Vertrauen erschlichen wird.“ Ich musste den Begriff selbst erst nachschlagen. Ist zwar das Vorgehen durchaus bekannt, so hat das ganze jetzt auch einen Namen. Und mit dem Roman von Seemann bekommt es auch noch eine Geschichte.

Da ist Milena, die im Alter von 15 Jahren eine „Beziehung“ mit dem 35jährigen, verheirateten Kirchenmitarbeiter Nick gerät. Nick ist bei allen Kindern und Jugendlichen in der Kirchengemeinde beliebt. Er weiß mit jungen Menschen umzugehen, so scheint es von außen. Nur wenige fragen sich, warum er ausschließlich Jugendliche in seinem Freundeskreis hat und sich scheinbar gar nicht mit Gleichaltrigen abgibt. Die „Beziehung“ von Milena und Nick wird sechs Jahre anhalten, bis sie den Absprung schaffen und sich von ihm trennen wird. Das erfahren wir gleich zu Beginn des Romans, wenn Milena kurzerhand nach der Trennung in 2014 zu Josh nach Irland reist und sich direkt in die nächste merkwürdige Verbindung wirft.

Mithilfe von Rückblicken erfahren wir nach und nach, wie diese „Beziehung“ zwischen Milena und Nick zustande gekommen ist und welche Abscheulichkeiten die verliebte Milena alles ertragen musste. Bis zum Schluss bezeichnet sie die Verbindung zum Täter Nick als „feste Beziehung“, nimmt zwar zunehmend wahr, dass da etwas nicht richtig sein kann, bleibt aber für lange Zeit in dem Gefühl des Verliebtseins verhaftet. Nick unterdessen hat nicht nur mit der 15jährigen von Beginn an Sex, sondern überredet sie auch, mit fremden Männern Sex zu haben. Das wird alles im Anfangsteil des Romans ungeschönt beschrieben und hier sei eine Warnung an alle ausgesprochen, die mit solchen Beschreibungen nicht gut klarkommen, denn was Seemann beschreibt ist wirklich heftig.

So stellt sich schnell eine absolute Fassungslosigkeit aufgrund des Missbrauchs an Milena ein, die Seemann durch ihre direkte Sprache eindringlich zu evozieren weiß. Immer wieder möchte man dieses Mädchen aus dieser schrecklichen Verbindung herausreißen und schützen. Allein das Wissen vom Beginn des Romans, dass diese „Beziehung“ ein Ende haben wird, lässt einen die Beschreibungen aushalten. Sehr geschickt zeigt Seemann gleichzeitig durch die Zeitebene in 2014 auf, dass Milena aufgrund dieser vollkommen falschen Beziehungserfahrung zu Nick noch viele Jahre gezeichnet sein wird. Sie schafft es nicht zum gleichaltrigen Josh, der auch eine sehr merkwürdiger Zeitgenosse ist, eine adäquate Beziehung aufzubauen, bläst sie ihm doch direkt zur Begrüßung einfach mal eben einen. Wie vor den Kopf gestoßen liest man diese Szenen und muss sich erst einmal auf diese verqueren Verhaltensweisen einstellen.

Neben dieser authentischen Darstellung von Milena stellt meines Erachtens eine Stärke des Romans dar, dass, wenn auch nur ganz kurz, auch „nette“ Seiten von Nick aufblitzen, die verdeutlichen, warum Milena so viele Jahre trotz allem an Nick festgehalten hat. Die Trennung nach so vielen Jahren, obwohl es zuvor schon mehr als genug heftige Auslöser hätte geben können, wirkt dann doch irgendwie recht unverhofft und plötzlich. Das ging mir dann doch etwas schnell und hätte gern noch näher aus der Innensicht Milenas erklärt werden können. Auch springen wir letztlich noch einmal in die Gegenwart und erfahren, wie es mit Nick weitergegangen ist. Das wird dann nur kurz angerissen, ist aber eigentlich eine ganz schöne Bombe. Auch wundert man sich zuvor, dass die Ehefrau von Nick so gar nichts mitbekommen haben will von seinen Machenschaften. Das wäre für mich alles noch im literarischen Sinne zu tolerieren gewesen, leider hat der Roman aber meines Erachtens einen wirklich großen Schwachpunkt: Die Eltern oder generell die Familie von Milena findet im Roman nicht eine einzige Erwähnung. Die Figur Milena scheint im luftleeren Raum zu existieren. Nun könnte es ja sein, dass die Eltern physisch und/oder psychisch abwesend waren und sie erst dadurch zum Opfer dieses Groomings hat werden können. Aber dafür gibt es keinerlei Anhalt im Buch. Die Eltern existieren einfach nicht in der Erzählung. Und das ist für mich gerade bei diesem Thema einfach inakzeptabel. Bei einer 15Jährigen, die übrigens schon zuvor mit 14 Jahren eine sexuelle Beziehung hatte, spielen die Eltern doch noch in irgendeiner Weise eine Rolle. Diese auszusparen lässt eine klaffende Lücke zurück. Es gibt innerhalb des Romans keine Erklärung für diese literarische Entscheidung. Ich habe eine ganz wilde Vermutung, die aber in keinster Weise gesichert ist: Die Protagonistin hat dasselbe Geburtsjahr wie die Autorin; sie heißt Milena, die Autorin Selina; und die Autorin schreibt in der Danksagung an ihre Eltern folgendes: „Bitte blättert bei einigen Kapiteln einfach weiter.“… Vielleicht hat die Geschichte der Protagonistin ihre Inspiration in der realen Welt und eventuell sollten hier die Angehörigen geschützt bzw. nicht involviert werden. Keine Ahnung. Aber fachlich und literarisch kann ich diese Entscheidung nicht gutheißen.

So runde ich bei einem ansonsten sehr guten Roman letztlich doch noch auf 3 Sterne ab. Lesenswert ist der Roman definitiv trotzdem, nur gefestigt sollte man bezogen auf die Thematik schon sein, bevor man die Lektüre beginnt.

3,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 04.09.2023

Tolle Sprache aber zu zerfaserte Geschichte über Gewalt

NOVA
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Davide ist Neurochirurg an einem italienischem Klinikum. Gewalt brauchte er bisher nie anwenden, wenn er seine behandlungsbedürftigen Patient:innen durch feine Schnitte im Gehirn rettet. Als im Privaten ...

Davide ist Neurochirurg an einem italienischem Klinikum. Gewalt brauchte er bisher nie anwenden, wenn er seine behandlungsbedürftigen Patient:innen durch feine Schnitte im Gehirn rettet. Als im Privaten sein jugendlicher Sohn und vor allem seine Ehefrau in einem Restaurant von einem fremden Mann angepöbelt, angebaggert und angegrapscht werden, reagiert Davide nicht, beobachtet alles aus einer sicheren Distanz heraus. Es greift ein Unbeteiligter ein, indem er selbst Gewalt anwendet, um den Übergriffigen zur Räson zu rufen. Während wir in den Alltag der Familie eintauchen, sucht sich Davide Hilfe, um sich die Fähigkeit zur Gewaltanwendung anzueignen, denn bisher ist er der Meinung, einfach dazu gar nicht fähig zu sein. Alles gipfelt in einem Showdown, in dem das Leben der Familie in Gefahr gerät. Wie wird sich Davide verhalten?

Gleich ab dem ersten Satz habe ich mich in die Sprache und Fabulierkunst von Fabio Bacà verliebt. Christine Ammann bringt mit ihrer Übersetzung aus dem Italienischen diesen Roman wirklich zum sprachlichen Meisterwerk, indem sie die in Masse angewandten Fachbegriffe aus der Neurologie, welche in das Denken der gesamten Familie eingezogen sind, wirklich sehr gekonnt ins Deutsche überführt. Mit einem stark selbstironischen Unterton wird hier eine hoch gestochene Sprache verwandt, die Substantive aneinander reiht, komplizierte Satzkonstruktionen und anspruchsvolle Inhalte verwendet. Gerade weil das alles mit viel Ironie geschieht, macht es so einen Spaß den Text zu lesen. Fachlich sind die Ausflüge in die Neurologie und Psychologie dabei korrekt vom Literaten Bacà wiedergegeben. Wirklich eine Freude. Allerdings wechselt zum Ende hin der Ton des Romans hin zu einem ernsten mit einer soliden, aber unauffälligeren Sprache, sodass damit auch der Fokus des Ganzen zunehmend verloren geht.

Der inhaltliche Fokus ist für mich auch das größte Problem am Buch. Folgt man noch den Alltagsgeschichten der Familie, die mitunter losgelöst vom Gesamttext wirken, noch über weite Strecken gern, so fragt man sich zunehmend, was uns der Autor mit dem Roman vermitteln möchte. Man könnte zu dem Schluss kommen, dass Gewalt immer noch mehr Gewalt nach sich zieht und dass Gewalt, egal mit welchem Zweck, unangebracht ist. Selbst zur Selbstverteidigung? Ich weiß es nicht. Der Roman bietet mir hier allerdings wenig neue Denkansätze, er wird zunehmend zu einer unfokussierten Geschichte über Gewalt im Alltag. Eine Quintessenz fällt mir allerdings schwer zu formulieren.

Die Zeichnungen der Figuren funktionieren als Skizzen, hätten aber auch noch tiefgründiger ausgearbeitet werden können. Man bekommt einen kleinen Eindruck, fast wie bei einer Kurzgeschichte, aber für einen Roman scheinen sie zu kurz gegriffen. Auch zaubert der Autor ganz zum Schluss eine vollkommen unerwartete Handlung einer Figur aus dem Hut, die im Roman keine Grundlage hat und erst im Nachhinein von einer anderen Figur erläutert wird. Das bewirkt zwar ein spektakuläres Finale für den Roman, entbehrt aber auch der notwendigen Unterfütterung und wirkt dadurch unglaubwürdig, wenn auch nicht vollkommen unmöglich.

Wenn es nur nach der Sprache gehen würde, der Roman hätte von mir 5 von 5 Sternen bekommen. Leider zerfasert er aber inhaltlich zu stark und lässt die Intention des Autors vermissen. Somit lande ich bei wirklich sehr guten 3 Sternen (3,5) und würde den Autor durchaus weiter im Blick behalten mit der Hoffnung, dass er sich zukünftig noch besser thematisch fokussieren kann.

3,5/5 Sterne

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