Profilbild von Gabriele_70

Gabriele_70

Lesejury-Mitglied
offline

Gabriele_70 ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Gabriele_70 über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 16.09.2024

Phantasie versus Schönheit

Miss Island
0

„Man muss Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern zu gebären.“

Nachdem mir vor ein paar Monaten „Hotel Silence“ von Auður Ava Ólafsdóttir recht gut gefallen hat, wollte ich unbedingt ein weiteres ...

„Man muss Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern zu gebären.“

Nachdem mir vor ein paar Monaten „Hotel Silence“ von Auður Ava Ólafsdóttir recht gut gefallen hat, wollte ich unbedingt ein weiteres Buch dieser Autorin lesen, die als eine der besten Islands gilt. Und ich muss sagen, es hat sich gelohnt, dieses Buch zur Hand zu nehmen!

Wir werden entführt ins Island der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts und rattern mit der Erzählerin Hekla, die den Namen eines Vulkans trägt, in einem alten Bus über steinige Straßen nach Reykjavík. Dort will sie ihre Schriftstellerkarriere starten, was zur damaligen Zeit ein schwer zu verwirklichendes Unterfangen für eine Frau ist. Sie hält sich mit Aushilfsjobs über Wasser und bekommt ein Angebot zur Teilnahme an der Miss-Island-Wahl. Wir lernen ihre Freundin Ísey und ihren schwulen Freund Jón John kennen. Auch die haben es nicht leicht. Während Ísey als verheiratete Mutter ein recht einsames Leben frönt, kämpft Heklas Freund wegen seiner sexuellen Ausrichtung um Anerkennung. Und Hekla kann ihre Texte nur unter einem männlichen Synonym veröffentlichen, da bei Frauen Schönheit mehr zählt als Kopfarbeit.

Sehr gut gefallen haben mir die Beschreibungen des Lebens auf der Insel, der Natur und der Schwierigkeiten beim Fischfang. So manches isländische Wort war für mich allerdings unlesbar. Sogar ein Juror bei einer Misswahl meinte einst: „der Name der Schönheitskönigin klinge so, als stürze ein Wasserfall aus Kieselsteinen in einen isländischen Fjord.“
Das ist ein Buch zum Verschlingen! Ich hatte die über 200 Seiten innerhalb von zwei Tagen ausgelesen.

Auður Ava Ólafsdóttir wurde 1958 in Reykjavík geboren. Die Bestsellerautoin studierte an der Sorbonne Kunstgeschichte und lebte in Frankreich und Italien. Laut Wikipedia lehrt sie an der Universität Reykjavík und ist Direktorin des Museums der Universität Islands. Sie schreibt Romane, Theaterstücke und Gedichte. Ihre Bücher, in über 25 Sprachen übersetzt, wurden vielfach ausgezeichnet. Für ihren Roman Miss Island erhielt sie in Frankreich 2019 den Prix Médicis étranger für den besten ausländischen Roman des Jahres.

Fazit: Leseempfehlung!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 14.09.2024

Freundschaften

Bei Licht ist alles zerbrechlich
0

Dieses Buch ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil erzählt Davide, der Schweinehirt ohne Schulbildung, aber voller Wissensdrang, über seine Freundschaft mit Teresa und Nicolas, dem Judenjungen, der ...

Dieses Buch ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil erzählt Davide, der Schweinehirt ohne Schulbildung, aber voller Wissensdrang, über seine Freundschaft mit Teresa und Nicolas, dem Judenjungen, der 1942 auf Anordnung von Mussolini ins Dorf kam. Da sein mit strenger Hand herrschender Vater Davide den Schulbesuch nicht gestattete, lernt er heimlich bei seinen Freunden das Schreiben und Lesen, sowie einen menschlichen Umgang miteinander.
„Seit ich auf der Welt war, hatte ich noch nie zwei Menschen miteinander reden hören, ohne dass der eine den anderen niedermachte oder recht haben wollte“

Wie es Davide erging, nachdem er schon recht früh seine Familie und das Dorf verlassen hatte, um in Neapel Fuß zu fassen, erfahren wir im zweiten Teil des Buches. Erstaunlich, was für eine Entwicklung er hinlegt! Seine Jugendfreunde hat er dabei nie ganz vergessen.

Während einer Schaffenskrise kehrt er im dritten Teil des Romans zurück in seine alte Heimat, die er nach dem Krieg weniger verändert vorfindet, als er dachte. Hier schließt sich der Erzählkreis auf eine unerwartete Art und Weise:
„… abermals überlagerten sich unsere Leben wie ganz am Anfang ...“


Ich habe Davides Erzählungen gern gelesen. Sie sind in einem lockeren Stil gehalten, eben so, wie man sich die Stimme eines einfachen Dorfjungen vorstellt. Je älter er wird, desto mehr denkt er über sein Leben und dessen positive Wendungen nach. Sein neuer Beruf als Schauspieler hilft ihm dabei. Wie sehr Freundschaften das Leben beeinflussen können, ist sehr schön herausgearbeitet – auch wenn so manche Entwicklung unglaublich ist. Aber das muss jeder Leser und jede Leserin für sich selbst beurteilen.


Gianni Solla ist Jahrgang 1974 und lebt mit seiner Familie in Neapel. Er schreibt Romane, Erzählungen und Theaterstücke. Ich kann dieses Buch, das in zwölf Sprachen erschienen ist, auf jeden Fall empfehlen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 09.09.2024

Rückzug aus dem Leben

In den Wald
0

Eines Tages verschwand Silvia spurlos, nachdem sie in die Zeitung geschaut hatte. Darin war vom Tod ihrer Schülerin Giovanna zu lesen. Mit knapp zwölf Jahren war die vom Leben in der Pubertät überfordert ...

Eines Tages verschwand Silvia spurlos, nachdem sie in die Zeitung geschaut hatte. Darin war vom Tod ihrer Schülerin Giovanna zu lesen. Mit knapp zwölf Jahren war die vom Leben in der Pubertät überfordert gewesen.
„Giovanna fühlte sich, als hätte sie jemand reingelegt. Sie hatte nicht absichtlich angefangen zu wachsen; getrieben, versuchte sie, sich im Gleichgewicht zu halten, es war nicht ihre Schuld, wenn sie stolperte. An einem Tag steckte sie sich eine Kippe in den Mund, am nächsten fügte sie sich folgsam dem Nachhilfeunterricht der Lehrerin“ (Seite 41)
Silvia hatte sich dem Mädchen besonders angenommen, fühlte sich jetzt jedoch schuldig. Während die Menschen aus ihrem Heimatdorf sie erfolglos suchten,
„tat sie gar nichts, sie blieb sogar völlig reglos, sie verwandelte sich langsam in eine Pflanze, ein Stück Wald.“ (Seite 107)
Als Martino, ein aus Turin zugezogener Junge sie zufällig fand, bat sie ihn, nichts zu verraten und brachte ihn damit in schwere Gewissenskonflikte.


Der Blick ins Innenleben der Protagonisten ist die Stärke dieses ungewöhnlichen, in Piemont spielenden Debüts. Wie die Autorin am Ende anmerkt, hat sie sich von realen Geschehnissen inspirieren lassen.

Für mich war es ein ungewohntes Leseerlebnis. Die kurzen Kapitel erleichterten und erschwerten das Lesen gleichzeitig, da sie mich jedes mal in andere Situationen warfen. Doch ebenso schnell stellte sich die neuerliche Orientierung wieder ein. Die bildhafte Sprache ließ mich die Gefühle der Personen nachvollziehen und baute gleichzeitig eine diffuse Spannung auf, die es mir schwer machte, das Buch zur Seite zu legen.

Fazit: Ein Buch, das einen guten Einblick in die Köpfe von Menschen gibt, die besonderen Belastungen ausgesetzt sind und Familienbeziehungen beleuchtet. Für Leser, die neben der Natur eine poetische Sprache lieben!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 06.09.2024

Frauenleben in Afghanistan

Hinter dem Regenbogen
0

Kürzlich hat mir eine junge afghanische Frau – sie war gerade mit ihrem ersten Kind schwanger – gesagt, dass sie sich vorstellen könnte, in ihre Heimat zurückzukehren. Aber nur, wenn sie einen Sohn bekäme. ...

Kürzlich hat mir eine junge afghanische Frau – sie war gerade mit ihrem ersten Kind schwanger – gesagt, dass sie sich vorstellen könnte, in ihre Heimat zurückzukehren. Aber nur, wenn sie einen Sohn bekäme. Verstanden habe ich diese Aussage nicht.

Doch nach der Lektüre dieses Buches hat sich meine Sicht auf das Leben in Afghanistan etwas geklärt. Denn ebenso wie Jenny Nordberg in ihrem 2015 erschienenen Reportage-Buch „Afghanistans verborgene Töchter“ erzählt Nadia Hashimi in ihrem Roman von „basha posh“. Das sind Mädchen, die von ihren Eltern als Jungen verkleidet werden, weil ihnen kein Sohn geboren wurde. Nur Jungen dürfen sich frei auf der Straße bewegen, können regelmäßig in die Schule gehen und das tun, was ihnen gefällt. Die Mädchen dagegen haben sittsam zu Hause zu sitzen, ihren Mund zu halten und der Mutter zu helfen, die traditionsgemäß das Eigentum des Mannes ist, der allein das Recht hat, über ihr Leben zu entscheiden.

Wenn man diesen Roman liest, könnte man der Meinung sein, dass dies die amerikanische Sicht auf das Land am Hindukusch ist. Denn die Autorin hat zwar einen arabisch klingenden Namen, kam aber im Dezember 1977 als Tochter afghanischer Eltern in den USA zur Welt. Mit 25 Jahren reiste sie das erste Mal in das Heimatland ihrer Eltern. Das hat die Kinderärztin auch zu diesem, ihrem Debütroman veranlasst. Inzwischen sind von ihr drei internationale Beststeller erschienen.

Sobald man sich mit der afghanischen Kultur näher beschäftigt, wird klar, dass viele Frauen dort auch heute wie vor hundert Jahren leben. Eben so, wie es hier in diesem Buch beschrieben wird. Dabei werden zwei Frauen abwechselnd betrachtet: einmal wird von Shekiba erzählt, die, nachdem ihre Eltern und Geschwister gestorben waren, durch ihre Verwandten aller Rechte beraubt wurde. Sie war die Ur-ur-Großmutter von Rahima, die selbst von ihrem Leben erzählt. Wir erfahren, weshalb sie zum „bacha posh“ gemacht wurde und wie frei sie bis zu ihrer viel zu früher Heirat aufwachsen durfte.

Fazit: Das Buch ist eine niederschmetternde Reise in eine fremde Kultur. Vor meinen Augen hat sich ein Bild von einem Land entwickelt, in dem Frauen nichts zu sagen haben. Nicht nachvollziehbar war für mich, dass Männer immer noch mehrere Frauen haben dürfen, die als primäre Aufgabe haben, möglichst viele Jungen zu gebären. Nur wenige Frauen sind in der Lage, für sich selbst zu kämpfen.
Ich habe das Buch mit großem Interesse gelesen, auch wenn mich der Schreibstil nicht sehr angesprochen hat. Aber das könnte auch an der Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Rainer Schumacher liegen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 25.08.2024

Flucht aufs Land

Über Menschen
0

Schon in >Unterleuten> hat Juli Zeh einen Großstädter aufs Land geschickt und damit in ein völlig anderes Leben geworfen. Daran hat mich dieses Buch erinnert, das allerdings viel komprimierter war und ...

Schon in >Unterleuten> hat Juli Zeh einen Großstädter aufs Land geschickt und damit in ein völlig anderes Leben geworfen. Daran hat mich dieses Buch erinnert, das allerdings viel komprimierter war und sich deshalb auch besser lesen ließ.

Diesmal ist es Dora, die das Weite sucht. Als Werbefachfrau wurde sie während der Corona-Krise ins Homeoffice verbannt, was zu Kompetenzschwierigkeiten mit ihrem Partner und schließlich zur Trennung führte. So sucht sie sich ein neues Domizil in der Provinz, wo sie ein altes Haus mit großem Grundstück auf Vordermann zu bringen versucht.

„Während die besser verdienenden Großstädter in ihren Wohnungen verrückt werden, gräbt man in der belächelten Provinz die Gärten um und wartet auf Regen. Eine Weile steht Dora da und schaut dem Menschen beim Normal-Sein zu. Das tut gut. Die Banalität des Alltags. Sie hat nicht gewusst, wie wichtig das ist.“

Ihr glatzköpfiger Nachbar Gote stellt sich als „Dorf-Nazi“ vor, doch er zeigt sich auch als äußerst hilfsbereit. Ebenso sind auch andere Menschen des Dorfes zwar übergriffig, doch mit durchaus positiven Eigenschaften behaftet.

Alles in allem hat Juli Zeh einen herrlichen Unterhaltungsroman geschrieben, in dem sie Träume vom Landleben imaginiert. Zwischen den Zeilen stehen stehen viele Informationen. Der lakonische Schreibstil macht das Lesen zum Spaß und bringt alles auf den Punkt. In einer klaren Sprache setzt sie sich mit ihren Charakteren und deren inneren Konflikten auseinander und regt damit an, über die grundlegenden Fragen des Lebens nachzudenken.

Bei diesem Buch komme ich nicht umhin, meine Lieblingszitate anzuhängen:

„Das Wetter hat wohl beschlossen, erst mit dem blauen Himmel aufzuhören, wenn die Vegetation vernichtet ist.“

„Die Vertreibung aus dem Paradies erfolgte nicht durch den Verzehr eines Apfels, sondern druch die Erfindung der Uhr.“

Fazit: Sehr lesenswert!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere