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Veröffentlicht am 15.09.2016

Mobbing, Gewalt, Selbstmord - ein Jugendbuch, das Lösungsansätze bietet

Jessicas Geist
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„Jessicas Geist“ von Andrew Norriss richtet sich an Jugendliche ab 12 Jahren. Das ungewöhnlich wirkende Schnittmuster auf dem Cover führt den Leser zu einem der Protagonisten des Buchs und mitten hinein ...

„Jessicas Geist“ von Andrew Norriss richtet sich an Jugendliche ab 12 Jahren. Das ungewöhnlich wirkende Schnittmuster auf dem Cover führt den Leser zu einem der Protagonisten des Buchs und mitten hinein in die Geschichte.

Francis ist der einzige Jugendliche an seiner Schule dessen Hobby es ist, Mode zu entwerfen und Kleidung für Puppen selbst zu nähen. In den Pausen bleibt er gern für sich. Eines Tages bemerkt er ein Mädchen in seinem Alter, das sich zu ihm auf eine Bank am Sportplatz der Schule setzt. Er spricht sie an und sie ist darüber sehr erschrocken. Sie stellt sich als Jessica vor und erzählt ihm, dass sie etwa seit einem Jahr ein Geist ist. Obwohl Francis das seltsam vorkommt, hat er keine Scheu vor ihr. Die beiden verstehen sich prima und er nimmt sie mit nach Hause. Doch jeden Abend kehrt sie ins Krankenhaus zurück, in dem sie gestorben ist. Natürlich fragen sich die zwei, warum ausgerechnet Francis Jessica sehen und verstehen kann.

Noch überraschter sind die beiden als wenig später auch Andi sich mit Jessica unterhalten kann. Andi möchte nicht mehr zur Schule gehen, weil sie von ihren Mitschülern aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbilds gemobbt wird. In den nächsten Wochen gesellt sich noch Roland zu den inzwischen vieren. Jessica weiß nicht, warum sie immer noch als Geist auf der Erde ist. Eventuell hat sie eine Mission, die noch nicht erfüllt ist.

Die Charaktere in Andrew Norriss‘ Roman sind aufgrund ihrer besonderen Eigenschaften interessant gestaltet, anders als man sich Jugendliche gleichen Alters allgemein so vorstellt. Gerade das aber bringt Francis, Andi und Co. anhaltende Probleme. Damit die ständigen Anfeindungen aufhören hat jeder von ihnen schon einmal darüber nachgedacht sich selbst aus dem Leben zu verabschieden. Doch die Existenz von Jessica als Geist gibt zu denken. Sehr lange bleibt es ein großes Rätsel was Jessica zugestoßen sein könnte.

Das ungewöhnliche Miteinander der neuen Freunde bringt viele amüsante Szenen mit sich. Der Autor baut auf ruhige Weise eine berührende, aber auch zunehmend spannende Geschichte auf, die ein Plädoyer für das Leben ist. Er stellt heraus, wie wichtig es ist, Gleichgesinnte zu finden, denen man vertrauen und auf deren Hilfe man uneigennützig bauen kann. Man sollte die Hoffnung nicht aufgeben, so jemanden zu finden, denn häufig ergeben sich Kontakte spontan und durch Zufall. Gut fand ich auch, dass Andrew Norriss das Thema Gewalt zur Durchsetzung seiner Meinung einschließt und es kontrovers diskutiert. Er zeigt in seinem Roman einige Lösungsansätze für einen fairen Umgang mit seinen Mitschülern auf, auch wenn sie nicht mit einem selbst auf der gleichen Wellenlänge sind. Das Buch bietet eine gute Diskussionsgrundlage hierzu.

Jessicas Geist ist ein Roman, der aufzeigt, wie wichtig es ist, sich selbst zu akzeptieren wie man ist und seinen eigenen Wert zu erkennen. Ein Buch, das ich gerne weiterempfehle.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Sei derjenige als den du dich selbst empfindest!

George
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George denkt wie ein Mädchen, sie fühlt wie ein Mädchen, aber sie steckt im Körper eines Jungen. In dem nach der Protagonistin benannten Buch „George“ setzt Alex Gino das Thema Transgender in den Mittelpunkt. ...

George denkt wie ein Mädchen, sie fühlt wie ein Mädchen, aber sie steckt im Körper eines Jungen. In dem nach der Protagonistin benannten Buch „George“ setzt Alex Gino das Thema Transgender in den Mittelpunkt. Ihreseine eigenen Erfahrungen lässt er spürbar dabei einfließen. Das Cover nimmt den Inhalt des Romans auf und weist den Leser mit dem bunt gestalteten Schriftzug des Titels auf die Vielfalt des Lebens hin.

George besucht die vierte Klasse. Ihre Lehrerin sucht gerade die passenden Schauspieler für das jährliche Theaterstück und George würde gern für die weibliche Hauptrolle vorsprechen. Doch sie traut sich nicht, denn für jeden in ihrer Umgebung ist sie ein Junge. Und dementsprechend hat ihre Umwelt die Erwartung, dass sie sich auch wie ein Junge benimmt. Sie blättert gern in Zeitschriften für Mädchen, wünscht sich Röcke zu tragen und sich zu schminken. Doch selbst als ihre Mutter die versteckten Hefte findet, versteht sie nicht deren wirkliche Bedeutung. Ihre gleichaltrige Freundin Kelly aber zeigt, was wahre Freundschaft bewirken kann.

Die
der AutorIn schreibt beherzt über ein für sieihn wichtiges Thema. So schlicht und einfach wie der Titel ist auch die Darstellung des gleichnamigen Charakters. Ich fand es sehr schön, dass ich George ganz einfach als normales Schulkind im Kreis seiner Mitschüler erleben durfte. Dadurch wurde sie mir direkt sympathisch. In ihrem Alter wächst die Aufmerksamkeit für Unterschiede zwischen den Geschlechtern und auch sie kann sich dem nicht entziehen. Es geht in diesem Roman nicht darum, von welchem Geschlecht sich George sexuell angezogen fühlt, sondern allein um die Rollenerwartung an sich selbst und ihres dazu differierenden Körpers. Alex Gino stellt einerseits die Auseinandersetzung von George mit sich selbst und der Suche nach einer passenden Gelegenheit Klarheit über ihre Identität zu schaffen dar, andererseits macht sieer deutlich, welche Erwartungen Lehrer, Freunde und Familie ganz generell an Jungen stellen. Gespannt habe ich verfolgt, ob es George gelingen wird, sich verständlich zu machen, dabei flogen die Seiten des Buchs nur so dahin.

George hat sich einen Mädchennamen ausgesucht mit dem sie gerne angesprochen würde. Dieser Name ist so gänzlich anders als ihr derzeitiger und zeigt, dass hier nicht ein fließender Übergang gewünscht, sondern ein radikaler Schnitt nötig ist. George ist ein Mädchen, egal was sein Körper vorgibt. Zum Glück für sie gibt es im Roman Figuren die loyaler sind als andere. Gut fand ich auch die kleinen Hinweise im Buch, wie Betroffene weiter vorgehen können, um ihre selbst empfundene Identität öffentlich zu leben.

„George“ ist ein Jugendbuch ab 10 Jahren und die einfach gehaltene Sprache scheint mir für dieses Alter geeignet, um die enthaltene Problematik zu verstehen. Der Roman bietet aber auch eine Grundlage zu einer ersten Diskussion zum Thema Transgender in diesem Alter. Er ist realistisch geschrieben, auch weil Alex Gino seine Charaktere so beschreibt, wie sie jedem im Schulalltag und in der Freizeit tatsächlich begegnen. Dieder AutorIn verschweigt nicht, dass es Probleme geben kann wenn jemand es gegenüber anderen ausspricht, das er das Gefühl hat im falschen Körper zu sein. Dadurch sollte es denjenigen, die so empfinden wie George, leicht fallen, sich mit ihr zu identifizieren.

Der Roman ist mit viel Empathie seitens der
des AutorIn geschrieben, bewegend und berührend und gerne empfehle ich ihn daher weiter. Sei derjenige, der als den du dich selbst empfindest!

Veröffentlicht am 15.09.2016

Ordentlich konstruierter Krimi

Fallwind
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„Fallwind“ von Till Raether zeigt auf seinem Cover einen Gischt umspülten Leuchtturm. Ein solches Gebäude spielt eine Rolle in dem nun bereits dritten Fall für den Kommissar Adam Danowski, der zu den Ermittlungen ...

„Fallwind“ von Till Raether zeigt auf seinem Cover einen Gischt umspülten Leuchtturm. Ein solches Gebäude spielt eine Rolle in dem nun bereits dritten Fall für den Kommissar Adam Danowski, der zu den Ermittlungen in einem Todesfall hinzugezogen wird. Die aufgefundene Tote starb aber nicht, wie der Titel vermuten lässt, an einem Sturz von einem hohen Bauwerk, sondern wurde erdrosselt. Der Krimi lässt sich ohne Kenntnisse der ersten beiden Bände lesen, der Autor hat erklärende Rückblicke an entsprechenden Stellen eingefügt.

Der Kriminalroman beginnt zwei Jahre nach den Ereignissen die der Autor in „Blutapfel“, dem zweiten Band der Serie, geschildert hat. Adam Danowski hat in der Zwischenzeit einen Lehrgang gemacht und arbeitet jetzt in der Abteilung Operative Fallanalyse des LKA Hamburg. Als in dem kleinen Nordseedorf Friederikenburg ein Mord geschieht, wird er zur Beratung der zur Aufklärung eingesetzten Sonderkommission hinzugezogen. Die ermordete Frau, Mitte 30, arbeitete bei einem großen Windparkunternehmen im Ort. Als Jugendliche gehörte sie zu den sogenannten Leuchtturmkindern d.h. sie lebte unter der Woche auf dem Festland, um zum Gymnasium zu gehen und besuchte ihre Eltern auf der vorgelagerten Insel nur am Wochenende und in den Ferien. Während dieser Zeit wohnten außer ihr noch zwei weitere Mädchen ihres Alters bei dem Lehrerehepaar, das ihnen Unterkunft und Verpflegung bot. Als eine weitere junge Frau ermordet wird ist Eile bei den Ermittlungen geboten, denn auch sie war eines der Leuchtturmkinder und die dritte im Bunde scheint in Gefahr zu sein.

Im Prolog begegnet der Leser Adam Danowski während dieser aus einer Betäubung erwacht. Allmählich wird ihm bewusst, dass er sich in der Gondel eines Windrads befindet, gemeinsam mit einer ebenfalls betäubten Frau, die ihm vage bekannt vorkommt. Der Autor spielt hier geschickt mit der Angst vor geschlossenen Räumen. Doch bis es zu dieser Szene kommt, ist einiges in Friederikenburg passiert. Die vor Ort ermittelnde Soko besteht aus Polizisten, die bisher keine Erfahrung in der Aufklärung von Mord haben. Außerdem sind sie befangen, weil hier jeder jeden zu kennen scheint und somit Freund- und Feindschaften in die Ermittlungen hineinspielen.

Für Danowski ist es erst seine dritte Fallanalyse im neuen Job, der ihn regelmäßig tage- und sogar wochenlang von zu Hause wegführt. Auch diesmal blendet Till Raether immer wieder Kapitel ein, die das Privatleben und die Familie des Ermittlers in den Blick nehmen. Danowski, der sich schon häufig über die gegen seine Ängste verordneten Therapien hinweggesetzt hat, versucht sich mit zweifelhaftem Erfolg an einer neuen Überwindungstaktik.

Neben der etwas verschroben wirkenden Figur des Protagonisten erschafft der Autor vor allem mit der Leiterin der Soko und ihrem Kollegen sowie den Gasteltern der ermordeten Frauen weitere interessante Charaktere. Ihm gelingt es immer wieder im Plauderton unterhaltsame Geschichten rund um die Handelnden und über das Leben im Dorf zu erzählen. Leider ziehen sich die Fallermittlungen in der Mitte des Romans in die Länge. Dennoch gelingt es Danowski auf seine eigene unnachgiebige Art, mehr als nur die Morde aufzuklären und durch geschickte Nachfragen kommen einige in der Vergangenheit vertuschte Geheimnisse der Bewohner ans Licht. Der Spannungsbogen steigert sich im hinteren Teil, wenn es darum geht, den Täter zu ermitteln bevor ein weiterer Mord geschieht.

„Fallwind“ lässt sich leicht und flüssig lesen. Till Raether präsentiert mehrere mögliche Täter und einige unerwartete Wendungen. Insgesamt ein ordentlich konstruierter Krimi der meine Leseempfehlung erhält.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Wahrheit oder Fiktion?

Nach einer wahren Geschichte
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Es ist in der Tat ein meisterliches Verwirrspiel, was mir als Leserin die Französin Delphine de Vigan in ihrem neuen Roman „Nach einer wahren Geschichte“ bietet. Das Cover bringt einen Einstieg in die ...

Es ist in der Tat ein meisterliches Verwirrspiel, was mir als Leserin die Französin Delphine de Vigan in ihrem neuen Roman „Nach einer wahren Geschichte“ bietet. Das Cover bringt einen Einstieg in die im Buch beschriebenen Ereignisse. Abgebildet ist in mehreren medaillonartigen Ausschnitten der Kopf einer Frau aus einer halbschrägen rückwärtigen Perspektive. Der Bildausschnitt nimmt Anspielung auf das Cover des letzten Buchs der Autorin, in der sie über den Selbstmord ihrer Mutter geschrieben hat. Dieses Buch war sehr familiär und persönlich. Die Fakten sind im Internet leicht zu überprüfen. „Nach einer wahren Geschichte“ beginnt wenige Monate nach der Veröffentlichung dieses Romans.

In einem kurzen an ihre Leser gerichteten Vorwort nennt Delphine de Vigan gleich in den ersten Sätzen ihr Problem, das sie in den vergangenen drei Jahren hatte und über das sie hier schreibt: In der Phase der Findung zu einem Thema für dieses neue Buch wurde sie zeitweilig von einer Schreibblockade an der Fortsetzung ihrer Arbeit gehindert. Aus der Retrospektive kann sie auch den Grund dafür benennen. Er liegt in der Beziehung zu einer Frau die sie im Folgenden „L.“ nennt.

Delphine de Vigan lernt L. auf einer Party kennen. Aus der Situation heraus vertraut sie sich ihr mit einem kurzen unangenehmen Wortwechsel mit einer Leserin an, der sich auf der letzten Lesung ereignet und der sie verstört hat. Mit einem unglaublichen Einfühlungsvermögen zeigt L. Verständnis und mitfühlende Worte. In der Folge entwickelt sich zwischen den beiden Frauen eine zunehmend engere Freundschaft, die sogar so weit geht, dass Delphine die ansonsten streng geheimen Überlegungen zu einem neuen Buch mit L. teilt, in dem sie ihrer Fantasie freien Lauf geben möchte. L. widerspricht ihr vehement und besteht darauf, dass Delphine nur mit einem Buch Erfolg haben wird in dem sie weitere real geschehene Ereignisse verarbeiten soll. Delphine ist durch den anhaltenden Widerspruch irritiert, es kommt zu der erwähnten Schreibblockade. L., die als Ghostwriterin für andere Autoren arbeitet, bietet ihr ihre Hilfe an, die sie gerne annimmt. Als Delphine endlich erkennt, dass L. nicht immer in ihrem Sinne arbeitet, plant sie entsprechende Maßnahmen. Doch darauf scheint L. bereits gewartet und sich vorbereitet zu haben.

Was zuerst als Statement für eine besonders enge Freundschaft, geprägt von Empathie und Anteilnahme beginnt, liest sich in der Folge als mit psychologischer Raffinesse gestalteter Thriller. Dadurch, dass die Autorin in der Ich-Form aus der Retrospektive erzählt, ist dem Leser von Beginn an klar, dass sie die Machenschaften L.s aufgedeckt hat und das vorliegende Buch gilt praktisch als Beweis dafür, dass sie ihre Blockade überwunden hat. Doch was bleibt ist die Frage danach, ob der Roman eine Fiktion ist oder den tatsächlichen Prozess des Schreibens abbildet. Hat die Autorin Delphine de Vigan ihre ursprüngliche Vorstellung, als nächstes einen erdachten Roman zu schreiben, hier umgesetzt oder konnte L. sie mit ihrem Wunsch nach einer wahren Geschichte bleibend beeinflussen?

Der Roman beginnt eher behäbig damit, dass Delphine den Beginn ihrer Beziehung zu L. schildert und in vielen Details auf die Gründe eingeht, die sie dazu hatte, sich ihrer neuen Freundin anzuvertrauen. Bereits in dieser Phase weist sie auf besondere Situationen hin, die ihr später seltsam erscheinen. Auch mir als Leser waren diverse Szenen suspekt. L. übernimmt neben der Autorentätigkeit immer mehr Eigenheiten von Delphine. Doch erst dann beginnt die Geschichte beängstigend und vor allem zunehmend spannend zu werden. Ohne zu viel vorwegnehmen zu wollen, bleibt bei mir schließlich die Frage: Wer ist L.?

Delphine de Vigan treibt mit diesem Roman ein perfides Spiel um Freundschaft, Vertrauen Machtgewinn, aber auch um Vertrauensbruch und Machtmissbrauch im trügerischen Schein zwischen Fiktion und Realität und der Suche nach der Identität von L. Die Idee zu diesem Buch finde ich grandios. Für dieses Lese-Highlight gebe ich gerne eine Leseempfehlung für anspruchsvollere Leser.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Sehr gut geschriebener Gesellschaftsroman

Der letzte Sommer
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„Der letzte Sommer“ oder „Der Sommer vor dem Krieg“ wie das Buch von Helen Simonson in der Übersetzung des englischen Originaltitels heißt nimmt den Leser mit ins Jahr 1914. Die Autorin siedelt ihre Geschichte ...

„Der letzte Sommer“ oder „Der Sommer vor dem Krieg“ wie das Buch von Helen Simonson in der Übersetzung des englischen Originaltitels heißt nimmt den Leser mit ins Jahr 1914. Die Autorin siedelt ihre Geschichte in der Kleinstadt Rye in der Grafschaft East Sussex im Südosten England an, die sie bestens kennt weil sie in der Gegend aufgewachsen ist.

Gediegen sind die Herrenhäuser eingerichtet, in denen die Frauen auf ihre Ehemänner unter der Woche warten, die im fernen London ihren Regierungsgeschäften nachgehen. Besonderes viel Achtung finden vor allem die Adeligen. Der tägliche Fünf-Uhr-Tee gehört zum gesellschaftlichen Leben hinzu, bei dem unter den Anwesenden Klatsch und Tratsch ausgetauscht und anstehende Entscheidungen des Alltags diskutiert werden. Das Ritual spiegelt sich im Cover wieder.

Agatha Kent gehört auch zu den erwähnten Frauen, auch wenn sie keinen Adelstitel trägt. Gerne gesellen sich in den Semesterferien ihre beiden Neffen Hugh, der angehende Mediziner, und Daniel, der von einem Leben als Dichter an der Seite seines Freunds träumt, zu ihr. Die beiden schätzen die fortschrittlichen Gedanken ihrer Tante, die vor noch nicht allzu langer Zeit in den Schulbeirat gewählt wurde, der aktuell über die Einstellung eines neuen Lateinlehrers zu entscheiden hat. Sie hat für Beatrice Nash gestimmt. Aber eine Frau in diesem Fach ist umstritten, zumal sich herausstellt, dass Beatrice jünger und attraktiver ist als zunächst vermutet. Doch die angehende neue Lehrerin zerstreut schnell die Zweifel des Beirats, weil sie glaubhaft versichert keine Ehe eingehen zu wollen. Sie möchte sich ihre einmal gewonnene Freiheit der Entscheidungen nach dem Tod ihres Vaters, dem sie stets zur Seite war und den sie auf seinen Reisen begleitet hat, nicht zu verlieren.

Unterdessen ziehen die ersten deutschen Truppen gegen Frankreich und veranlassen Großbritannien zum Kriegseintritt. Die ersten Bewohner der Kleinstadt melden sich zum Kriegsdienst. Vor Ort werden Aktionen zum Spendensammeln durchgeführt und Lebensmittel bevorratet. Fast jeder hat den Wunsch, das Vaterland im Kampf auf seine Weise zu unterstützen.

„Der letzte Sommer“ ist zunächst ein ruhiges Buch. Die Autorin beschreibt das beschauliche Leben mit großen und kleinen Problemen in Rye. Neben dem Tagesgeschehen in den herrschaftlichen Familien beschreibt sie auch beispielhaft den Alltag der ärmeren Bevölkerung. Später kommt das Schicksal einiger Weltkriegs-Flüchtlinge aus Belgien hinzu, die Aufnahme in der Kleinstadt finden. Als der Krieg ausbricht, scheint er zunächst noch weit entfernt. Gönnerhaft machen sich einige Gedanken dazu, wie man aus der Ferne helfen kann. Doch im Laufe der Wochen wird die Lage immer ernster, immer mehr Engländer leisten ihren Dienst an der Front. Der Krieg beginnt sein hässliches Gesicht zu zeigen. Und bald schon kennt auch in Rye jeder jemanden der einen lieben Menschen im Kampf verloren hat oder zumindest schwer verletzt wurde. Auch Familie Kent bleibt davon nicht verschont. Helen Simonson stellt das Leben zur damaligen Zeit überzeugend realistisch dar. Die Ereignisse sind in ihrer Schilderung erschreckend, die Folgen der Fronteinsätze grausam. Glücklicherweise erspart die Autorin dem Leser detaillierte Kampfbeschreibungen.

Beatrice ist eine selbstbewusste Frau, die sich gegen die in ihren Kreisen erwartete Ehe als soziale Absicherung stemmt. Sie selbst ist wohl am meisten von sich selbst überrascht als sie feststellt, dass sich aus einer Freundschaft im Laufe der Zeit mehr entwickelt und tiefe Gefühle in ihr wachgerufen werden. Die Autorin versammelt interessante Personen im Hause Kent und im Umfeld der Familie, die bewusst nicht immer einer Meinung sind. Ihre Charaktere stattet sie liebevoll mit verschiedensten Eigenarten aus.

Die Autorin bedient sich einer ausgefeilten Sprache, die sich flüssig lesen lässt. Obwohl die Schatten des Krieges über der ganzen Geschichte liegen, ist der Roman charmant geschildert und in den Dialogen blitzt immer wieder der Sarkasmus auf, der teilweise auch der angespannten Lage geschuldet ist. Neben der Einbindung in die geschichtlichen Ereignisse finden auch politische und sozialkritische Themen Eingang in die Erzählung. Immer wieder zoomt sie ganz nah ran, schildert Szenen detailreich und richtet den Blick des Lesers sowohl auf das Kleine als auch auf das Wesentliche.

Für viele endet mit Kriegsausbruch der Lebenstraum. „Der letzte Sommer“ fängt einige dieser Vorstellungen ein. Viele der Figuren habe ich lieb gewonnen und obwohl der Verlauf des Krieges allseits bekannt ist, hat mich deren Schicksal betroffen gemacht. Wer sich für die damalige Zeit interessiert, ist hier genau richtig und wird sich wie ich in der Geschichte verlieren. Gerne gebe ich dafür eine Leseempfehlung.