„Etwas geschieht. Aber es ist größer als der Fall.“ (Niko zu Spiro)
Der blonde Hund„Der blonde Hund“ von Kerstin Ehmer ist ein beeindruckend realistisch und authentisch verfasster historischer Kriminalroman.
Worum geht es?
November 1925. Ein Journalist wurde ermordet und in einen Berliner ...
„Der blonde Hund“ von Kerstin Ehmer ist ein beeindruckend realistisch und authentisch verfasster historischer Kriminalroman.
Worum geht es?
November 1925. Ein Journalist wurde ermordet und in einen Berliner Kanal geworfen. Im Zuge der Ermittlungen stößt Kommissar Spiro auf einen Jungen, „blonder Hund“ genannt, der mit dem Ermordeten in Verbindung stand. Spiro folgt dieser Spur nicht nur in Berlin, sondern sie führt ihn nach München und schließlich bis nach Pommern. Immer wieder begegnet er nationalsozialistischen Bewegungen. Während er versucht seinen Fall zu lösen, wirft sich seine Freundin Nike nicht nur ins schillernde und auch tief dunkelrote Nachtleben der Stadt Berlin, sondern interessiert sich auch für Séancen und Astrologie.
„Der blonde Hund“ ist bereits der dritte Fall dieser Reihe; Kenntnis der Vorgängerbände ist nicht erforderlich. Ich kam problemlos in die Geschichte hinein und überblickte auch den maßgeblichen Personenkreis in Kürze.
Der Schreibstil liest sich flüssig. Die Sprache ist authentisch, zeitlich angepasst, Lokalkolorit wird durch Dialektdialoge erzeugt. Die Kapitel haben eine angenehme Länge und verfügen über Datumsangaben, was ich persönlich sehr schätze, weil man dadurch chronologisch den Überblick behält. Besonders eindrucksvoll empfand ich die Stimmungsbilder, die einen so richtig hineinziehen, ob ins schillernde Berliner Nachtleben mit all seinen Ausschweifungen, in die Düsternis einer Moorlandschaft, in das Grauen des Krieges, das kärgliche Leben der Artamanen oder in ein pompöses Fest der Oberen Zehntausend.
Den Kriminalfall in all seiner Komplexität empfand ich als das Gerippe für einen grandios recherchierten Roman über das Gesellschaftsbild in Deutschland im Jahr 1925. Es offenbart sich immer deutlicher das Umsichgreifen des nationalsozialistischen Gedankenguts, in höheren Kreisen ebenso wie unter den armen und einfachen Menschen. Die Menschen sind aus den verschiedensten Motiven dafür empfänglich, von Machtstreben über Idealismus, Gemeinschaftsgefühl oder Hoffnungslosigkeit bis zur Verinnerlichung dessen, was immer eindringlicher und lautstark verkündet wird. Wie von Spiro werden diese Tendenzen anfangs vielfach noch belächelt, keineswegs als gefährlich, sondern nur als Spinnerei weniger, als eine vorübergehende Zeiterscheinung eingestuft. Doch im Laufe des Romans werden sie immer spürbarer, immer mächtiger, sodass Nike letztlich feststellt: „Etwas geschieht. Aber es ist größer als dein Fall. Es geschieht gleichzeitig an verschiedenen Orten.“
Wie bereits das Cover assoziiert, hat auch Esoterik einen gewissen Einfluss auf die Menschen dieser Zeit. So interessiert sich auch die sonst sehr rational und wissenschaftlich denkende Nike für Séancen und Astrologie. „Der Aberglaube ist zurück“, sagt Nike, „Unwissen und Dummheit sind wiederauferstanden.“
Der Spannungsbogen hält sich über den gesamten Roman auf gutem Niveau. Genaugenommen laufen eigentlich zwei Handlungsstränge parallel. Denn während Spiro den Mordfall bearbeitet, pflegt Nike einen sadistisch schwer verletzten Jungen und gerät auf der Suche nach dem Peiniger ins SM-Milieu. Der Perspektivenwechsel bringt zusätzliche Spannungsmomente, gestaltet die Handlung noch abwechslungsreicher und bietet weitere gefahrvolle Situationen.
Miträtseln erweist sich als schwierig, zu kompliziert sind die Zusammenhänge, zu viele Fäden hat Spiro zu verfolgen, zu entwirren. Auch Nikes Aktionen werfen weitere Fragen auf. Das macht den Fall aber umso interessanter. Stück für Stück offenbaren sich die Einzelheiten, bis die wahren Geschehnisse aufgedeckt und die Täter gefunden sind. Das Ende mag vielleicht nicht zufriedenstellend sein, aber es ist realistisch und passt zu jener Zeit.
Die Protagonisten Ariel Spiro und Nike Fromm sind sympathische Menschen, aber Charaktere mit Ecken und Kanten, die es sich und ihrem Umfeld nicht leicht machen. Er wirkt ernsthafter als die lebenslustige Nike. Beide verfolgen ihre Ziele mit einer gewissen Sturheit, voller guter Absicht, mutig, fast etwas zu leichtsinnig manchmal. Ein Paar, das sich nun scheinbar zusammengerauft hat. Es wird interessant, wie ihr weiteres Leben verlaufen wird. Nicht nur die beiden sind anschaulich charakterisiert, generell sind die Personenbeschreibungen sehr bildhaft und wirken lebendig.
„Der blonde Hund“ hat mich von der ersten bis zur letzten Seite fasziniert und begeistert. Das Buch ist exzellent recherchiert und hat mir viel Wissenswertes über diese Zeit vermittelt, auch eine Ahnung von der damals herrschenden Stimmung und wie sich all das danach kommende Unheil zusammenballen konnte. Ich freue mich schon jetzt auf eine Fortsetzung. Bis dahin werde ich mir die Vorgängerbände zu Gemüte führen.