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Veröffentlicht am 28.05.2021

Lieber Kobra als Python

Die Kobra von Kreuzberg
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Wenn man Beverly Kaczmarek nach ihrem Beruf fragen würde, käme als Antwort wahrscheinlich Meisterdiebin, obwohl sie sich dessen nach ihrem letzten Coup nicht mehr so sicher ist. Ist ja auch schwierig, ...

Wenn man Beverly Kaczmarek nach ihrem Beruf fragen würde, käme als Antwort wahrscheinlich Meisterdiebin, obwohl sie sich dessen nach ihrem letzten Coup nicht mehr so sicher ist. Ist ja auch schwierig, in einer Familie zu reüssieren, in der sie immer mit ihren weitaus erfolgreicheren Brüdern konkurrieren muss. Die haben es drauf, klauen so hochpreisige Objekte wie Fabergé-Eier aus der Eremitage in St. Petersburg und machen sich dann noch lustig über ihre kleine Schwester, die es noch nicht einmal schafft, ihre Beute verlustfrei zu transportieren. Hat sie doch eine der beiden erbeuteten Wegwood-Vasen ihres letzten Bruchs fallen lassen. Jetzt will sie es sich und den anderen beweisen und plant den Supercoup. Die Quadriga vom Brandenburger Tor, die soll es sein.

Michel Decar war für mich ein unbekannter Autor, und so wusste nicht, worauf ich mich mit seinem neuen Roman einlassen würde. Und der Start war in der Tat holprig. Ich habe mich zu Beginn mehrmals gefragt, ob ich wirklich die Story einer durchgeknallten Räuberschwester lesen will, die einen unmöglichen Coup plant. Aber je weiter die Story fortschritt, umso mehr war ich von dem ungewöhnlichen Stil und der rotzigen Sprache angetan.

Wir finden hier Versatzstücke unterschiedlicher Genre: Ein guter Schuss Pulp und Trash, eine Prise Familiengeschichte, etwas Krimi, jede Menge Situationskomik, Ironie und schräge Kommentare über Gott und die Welt, aber auch verborgene Anspielungen auf den Status Quo der Gesellschaft. Hier werden gekonnt Klischees eingesetzt und ausgehebelt und jede Menge Typen aufgefahren, die im Gedächtnis bleiben werden. Ob das nun Dragan, der anarchistische Wetterterrorist oder die neben der Spur laufende Museumsdirektorin ist, jede/r ist für sich ein Unikat und passt wie die Faust auf’s Auge zu dieser Story, die einfach nur gute Laune macht. Lesen!

Veröffentlicht am 12.05.2021

Berlin Pulp

Berlin Heat
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Berlin im heißen Sommer 2022, die Pandemie Geschichte. Die Touristen bevölkern wieder die Metropole, gut für Tom, den Zocker, der den Partygängern alles besorgt, was sie brauchen, sei es ein Dach über ...

Berlin im heißen Sommer 2022, die Pandemie Geschichte. Die Touristen bevölkern wieder die Metropole, gut für Tom, den Zocker, der den Partygängern alles besorgt, was sie brauchen, sei es ein Dach über dem Kopf, Zugang zu den angesagten Locations oder Drogen. Tom hat seine Kontakte im Milieu. Und die vergeben auch Kredite, wenn man knapp ist, oder, wie in Toms Fall, die Soforthilfe verzockt hat. Mit 12.000 € steht er mittlerweile bei einem Kredithai in der Kreide, der nun auf Rückzahlung besteht. Nachdrücklich, wie ihn dessen Schläger spüren lassen, da hilft selbst die fetteste Glückssträhne nicht. Und so lässt er sich, trotz schlechtem Bauchgefühl, auf zwei dubiose Typen ein, die ihm für eine Wohnungsmiete übertarifliche 2.000 € bieten. Hätte, wäre, wenn…woher hätte er auch wissen können, dass sie als Versteck für ein Entführungsopfer dienen soll?

Tom ist ein Getriebener, zum einen verursacht durch seine Spielsucht, zum anderen durch die Gewissheit, dass sein Leben keinen Pfifferling mehr wert ist, wenn er seine Schulden nicht zurückzahlen kann. Mit ihm drücken wir uns in schmierigen Spielhallen herum, stehen in abgeranzten Kneipen am Tresen und sitzen im Plattenbau mit dessen Vater am Küchentisch. Diese Beschreibungen bekommt Groschupf klasse hin, auch wenn seine Schilderungen nicht frei von den gerne in der Pulp-Literatur verwendeten Klischees sind. Die Sprache passt, ist rotzig, derb und dreckig, manchmal von allem einen Tick zuviel, auch was die Gewaltszenen angeht. Allzu zimperlich sollte man nicht sein. Mit den üblichen Thriller-Maßstäben in puncto Spannung nicht zu messen, dafür bekommt man aber die schmerzhafte Bestandsaufnahme einer Gesellschaft zu lesen, die auf Messers Schneide balanciert. Lesen!

Veröffentlicht am 05.05.2021

Windy City Blues - aktuell wie eh und je

Landnahme
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Die Warshawski-Reihe gibt es seit 1982. Zwanzig Bände liegen mittlerweile vor, von denen sechzehn ins Deutsche übersetzt wurde, und die Themen, die Sara Paretsky darin aufgreift, sind so aktuell wie eh ...

Die Warshawski-Reihe gibt es seit 1982. Zwanzig Bände liegen mittlerweile vor, von denen sechzehn ins Deutsche übersetzt wurde, und die Themen, die Sara Paretsky darin aufgreift, sind so aktuell wie eh und je. Sie lenkt den Blick auf gesellschaftliche Missstände, stellt die Politik an den Pranger und verpackt dies in eine fesselnde Story mit detailliert ausgearbeiteten, glaubwürdigen Charaktere. Dabei macht sie es dem/der Leser*in nicht immer leicht. Sie verzichtet auf tempogetriebene Aktionen, benötigt Zeit, denn oft wird die Handlung von scheinbaren Nebensächlichkeiten verzögert, deren Bedeutung für den Verlauf sich erst allmählich erschließt. Aber oft sind es gerade diese Kleinigkeiten, die die Lawine ins Rollen bringen, da ihre Wurzeln bis weit in die Vergangenheit, in diesem Fall in die Zeit der chilenischen Militärjunta, zurückreichen.

So auch im Fall der Obdachlosen, die in den Straßen Chicagos einem Spielzeugklavier virtuos Melodien entlockt. Es stellt sich heraus, dass es sich bei ihr um die ehemals bekannte Musikerin Lydia Zamir handelt, die nach dem gewaltsamen Tod ihres chilenischen Freundes Hector vor einigen Jahren die Bühne verlassen hat. V.I. möchte Lydia helfen, aber die Suche nach ihr läuft ins Leere. Sie ist wie vom Erdboden verschwunden.

Parallel dazu bekommt Warshawski Kenntnis von einem dubiosen Erschließungsprojekt, bei dem nicht eindeutig klar ist, was mit dem entsprechenden Land am Seeufer schlussendlich geschehen wird. Ist wirklich eine öffentliche Parklandschaft geplant oder geht es um ein lukratives Immobilienprojekt? Oder doch eher eine Mülldeponie? Als zwei Mitglieder der Bürgerbewegung gewaltsam zu Tode kommen und die Polizei sich bei den Ermittlungen vornehm zurückhält, nimmt V.I. die Sache in die Hand und deckt ein dicht verwobenes Netz aus Gier und Korruption, in dem sich neben Immobilienhaien auch Politiker und weitere Personen des öffentlichen Lebens verheddert haben.

Paretsky hält souverän die Fäden ihrer Story in der Hand und fügt diese zu einem stimmigen, vielschichtigen Roman zusammen. Die Handlung mag zwar fiktiv sein, hat allerdings – wie im ausführlichen Glossar nachzulesen - einen durchaus realpolitischen Hintergrund. Nachdrückliche Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 27.04.2021

Mann gegen Mann

Der Abstinent
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Durch die Industrialisierung ist Manchester im 19. Jahrhundert eine Stadt im Aufwind. Die Textilfabriken versprechen Arbeit und ziehen Einwanderer aus allen Ecken des Königreiches an. Auch viele Iren folgen ...

Durch die Industrialisierung ist Manchester im 19. Jahrhundert eine Stadt im Aufwind. Die Textilfabriken versprechen Arbeit und ziehen Einwanderer aus allen Ecken des Königreiches an. Auch viele Iren folgen dem Ruf, müssen aber bald feststellen, dass sich ihre Hoffnungen auf ein besseres Leben nicht erfüllen. Sie werden für die niedrigsten Arbeiten eingesetzt und kärglich entlohnt, ihre Lebensumstände sind erbärmlich, Diskriminierungen an der Tagesordnung. Unmut macht sich breit, im Untergrund versammelt die Irisch-Republikanische Bruderschaft ihre Anhänger um sich. Die Polizei hat alle Hände voll zu tun, denn es kommt immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, die mit aller Härte niedergeschlagen und bestraft werden.

1867 werden im Morgengrauen drei irischen Rebellen in Manchester hingerichtet, denen man den Mord an einem Polizeibeamten anlastet. Ein von der englischen Obrigkeit unterschätztes Fanal, das einen verheerenden Kreislauf der Gewalt in Gang setzt. Auf englischer Seite steht James O'Connor, der titelgebende „Abstinent“, ein irischer Außenseiter aus Dublin, strafversetzt zur Manchester Division, der diese im Kampf gegen seine Landsleute unterstützen soll. Ein Informant berichtet ihm von einer Racheaktion der Fenians, die offenbar einen Veteranen aus dem US-Bürgerkrieg ins Boot geholt haben. Sein Name: Stephen Doyle. Seine Profession: Skrupelloser Auftragsmörder. Zwischen diesen beiden Männern entspinnt sich ein tödliches Katz-und-Maus Spiel, indem insbesondere O'Connor einmal mehr Verluste beklagen muss.

Was die beiden Protagonisten angeht, belässt es McGuire weitgehend bei Andeutungen. Biografische Details erfährt man peu à peu, die Trostlosigkeit beider Existenzen erschließt sich aus dem Kontext. Wie bereits in seinem 2016 für den Booker Prize nominierten Roman „Nordwasser“ überzeugt der Autor vor allem durch seine atmosphärischen Beschreibungen jenseits von Militärparaden und Afternoon-Tea. Die düsteren Ecken der viktorianischen Industriestadt, den Gestank, die verratzte Kneipen und die Rattenkämpfe zur Unterhaltung. Er zeigt die Armut, den täglichen Überlebenskampf und die daraus entstehende Gewalt, die die Bedeutung von Menschenleben auf ein Minimum reduziert. Lesen!

Veröffentlicht am 22.04.2021

Sizilien auf dem Teller

Echt sizilianisch kochen
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Italienische Küche hat so viel mehr als Pasta mit Tomatensugo und Pizza zu bieten. Das wird jede/r bestätigen können, der schon einmal abseits touristischer Pfade in dem Land „wo die Zitronen blühen“ unterwegs ...

Italienische Küche hat so viel mehr als Pasta mit Tomatensugo und Pizza zu bieten. Das wird jede/r bestätigen können, der schon einmal abseits touristischer Pfade in dem Land „wo die Zitronen blühen“ unterwegs war. Marinella Sammarco ist Sizilianerin mit Leib und Seele und Wahl-Stuttgarterin. Sie ist keine ausgebildete Köchin, sondern hat ihr Handwerk von ihrer Oma auf dem Bauernhof und „learning by doing“ von Angelo, ihrem Mann gelernt, mit dem sie nach verschiedenen Stationen mittlerweile in Stuttgart das Restaurant „Il Ritorno“ führt.

Ihr Kochen ist geprägt von den traditionellen Rezepten der Inselküche, die sich schon durch die Einflüsse der unterschiedlichen Völker, die sich im Lauf der Geschichte in Sizilien niedergelassen haben, von der klassischen italienischen Küche unterscheiden. Aber sie ist auch aufgeschlossen für deren Veränderung, wechselt zwischen Tradition und kreativer Innovation, und das schlägt sich auch in der Gestaltung ihres Kochbuchs nieder, das neben Rezepten angefüllt ist mit ihren individuellen Beschreibungen und jeder Menge Tipps.

Zwei große Blöcke bestimmen die Auswahl der vorgestellten Gerichte: Tradizione und Innovazione, die sie auch innerhalb der in italienischen Restaurants üblichen Speisefolge beachtet. Antipasti, Primi Piatti, Secondo Piatti sowie Dolci. Natürlich sind die Klassiker vertreten, aber es gibt auf viel Neues zu entdecken, sei es in der Art der Zubereitung oder auch bei den verwendeten Gewürzen. Ansprechende Fotos runden die Beschreibung der benötigten Zutaten sowie die detaillierten Angaben zur Zubereitung ab.

Gerade in der aktuellen Situation ein höchst willkommenes Koch- und Lesebuch, mit dem man sich ohne großen Aufwand ein Stück Sizilien auf den Teller holen kann. Sehr empfehlenswert!