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Veröffentlicht am 18.12.2022

Wer die Gegenwart verstehen will, sollte einen Blick in die Vergangenheit werfen

Das Reich der Mitte
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Dass er ein Vielschreiber ist, kann man dem studierten Historiker Edward Rutherfurd wirklich nicht vorwerfen, denn seit der Publikation seines ersten Romans „Sarum“, in dem er tief in die Geschichte seiner ...

Dass er ein Vielschreiber ist, kann man dem studierten Historiker Edward Rutherfurd wirklich nicht vorwerfen, denn seit der Publikation seines ersten Romans „Sarum“, in dem er tief in die Geschichte seiner Heimatstadt Salisbury eintaucht, sind mittlerweile 35 Jahre vergangen. Nun also „Das Reich der Mitte“, der 2021 im Original erschienene China-Roman, der die Zahl seiner Werke auf neun Bücher ansteigen lässt, von denen jedes einzelne ein Fest für jeden historisch interessierten Leser ist. Dank akribischer Recherche taucht er tief in die Geschichte einer Stadt oder eines Landes ein, versorgt uns mit belegten Fakten, verbindet diese mit individuellen Schicksalen, stellt Bezüge zur Gegenwart her und hilft damit, aktuelle politische Entwicklungen besser zu verstehen.

Ausgangspunkt ist das Jahr 1839. Auf der einen Seite China, ein stolzes Reich, das auf Jahrhunderte alte Traditionen zurückblicken kann. Auf der anderen Seite die Briten unter der Regentschaft von Queen Victoria, die um jeden Preis ihre Handelsbeziehungen, im Wesentlichen die Teeimporte, mit China aufrechterhalten wollen, auch wenn sie nicht in der Lage sind, ihren Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. Eine erfolgversprechende Möglichkeit, dieses Dilemma zu umgehen, ist der Tauschhandel. Tee gegen Opium. Das illegale Rauschmittel, das im Auftrag der East India Company von skrupellosen Mittelsmännern ins Land gebracht wird und schlussendlich zu den Opiumkriegen führt, Auftakt einer Reihe von Demütigungen Chinas durch den Westen, allen voran die Briten, was bis heute Nachwirkungen zeigt.

Aber es sind nicht nur die großen historischen Ereignisse, auf die Rutherfurd unseren Blick richtet. Über individuelle Schicksale macht er uns bekannt mit starren Traditionen, lässt uns eintauchen in philosophische und religiöse Weltanschauungen, nimmt uns mit in das Private von chinesischen, britischen und amerikanischen Familien und zeigt uns so im Kleinen die Auswirkungen dieser wechselhaften Epoche.

„Das Reich der Mitte“ ist ein unterhaltsamer, farbenprächtiger aber auch äußerst informativer historischer Roman, der Ursachenforschung betreibt und das Verhältnis des Westens zu China hinterfragt. Und das orientiert an Fakten und ohne Wertung oder ideologischer Brille. Wer die Gegenwart verstehen will, sollte einen Blick in die Vergangenheit werfen Und dabei helfen Rutherfurds Romane.

Nachdrückliche Empfehlung, nicht nur für historisch interessierte Leser!

Veröffentlicht am 13.12.2022

Der Tote im Tank

Kant und der Schachspieler
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Eine stillgelegte Farbenfabrik, ein Toter mit einer Schachfigur in der Hand, ein verschwundenes Schachgenie, ein vorbestrafter Boxer, ein dubioser Grundstücksverkauf, ein zweiter Toter. Mehr Fragen als ...

Eine stillgelegte Farbenfabrik, ein Toter mit einer Schachfigur in der Hand, ein verschwundenes Schachgenie, ein vorbestrafter Boxer, ein dubioser Grundstücksverkauf, ein zweiter Toter. Mehr Fragen als Antworten in dem neuen Fall für KHK Kant und sein Team von der Münchner Mordkommission, wobei sich allerdings die Verortung glücklicherweise dezent im Hintergrund hält.

Beharrlich und fokussiert gehen Kant und seine Mitarbeiter den Fall an. Das wird aber nicht langatmig und trocken geschildert, sondern häppchenweise durch Informationen zum Leben der Teammitglieder ergänzt, die in die jeweiligen Ermittlungsschritte involviert sind: Kants Sorgen um seine halbwüchsige Tochter, die an spektakulären Aktionen von Fridays for Future teilnimmt. Rademacher, dem gesundheitliche Probleme eine Heidenangst einjagen. Dörfner, der aus prekären Verhältnissen stammt und froh ist, sich daraus befreit zu haben. Lammers, die Engagierte, die eher distanziert unterwegs ist. Und Hanna, die Neue, die Quereinsteigerin mit den diversen Zwangsneurosen. Allesamt angenehm unaufdringlich und feinfühlig porträtiert, so dass zu keinem Zeitpunkt der Fall durch das Privatleben der Ermittler überlagert wird.

Marcel Häußlers „Kant und der Schachspieler“ ist erfrischend anders, ein Polizeikrimi im klassischen Sinn, der weniger Wert auf die Beschreibung möglichst grausamer und abstruser Mordmethoden als vielmehr auf die präzise Beschreibung der Ermittlungsarbeit legt und daraus seine Spannung generiert. Eine Reihe, die ich definitiv im Blick behalten werde.

Veröffentlicht am 12.12.2022

Weder Krimi noch Flair

Der Mordclub von Shaftesbury – Eine Tote bleibt selten allein
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Penelope St. James wird von ihrem Boss auf‘s Land versetzt. In Shaftesbury soll sie eine Zweigstelle der Londoner Partnervermittlungsagentur aufbauen. Dass dieses Vorhaben unerwartete Komplikationen in ...

Penelope St. James wird von ihrem Boss auf‘s Land versetzt. In Shaftesbury soll sie eine Zweigstelle der Londoner Partnervermittlungsagentur aufbauen. Dass dieses Vorhaben unerwartete Komplikationen in vielerlei Hinsicht mit sich bringt, darf man voraussetzen. Glücklicherweise findet sie Unterstützung bei ihren Nachbarn, einem verwitweten Tierarzt und seiner aufgeweckten Tochter. Das tödlich verletzte Unfallopfer, das sie bei ihrer Jogging-Runde per Zufall entdeckt, wird da eher zur Nebensache.

„Ein charmanter Krimi voller England-Flair“, mit dieser Aussage wird „Der Mordclub von Shaftesbury“, offensichtlich als Reihenauftakt geplant, beworben. Bereits der Titel erinnert, gewollt oder ungewollt, an die Donnerstagsmordclub-Krimis des englischen Autors Richard Osman. Und auch die Protagonistin weist verblüffende Ähnlichkeiten mit M.C. Beatons Agatha Raisin auf.

Kommen wir zu dem England-Flair. Das erschöpft sich im Wesentlichen in der Erwähnung eines Herrenhauses samt dazugehörigem Earl, einer Teestube und den skurrilen älteren Damen des Buchclubs, wobei der englische Humor sich leider auch hier nicht offenbart. Die Ortsangaben? Geschenkt, zeugen sie auch nicht von besonderer Ortskenntnis. Shaftesbury wird in Cornwall verortet, gehört aber zu North Dorset und ist kein Weiler mit einer Handvoll Häusern sondern eine Kleinstadt. Und Middlesbourgh liegt ca. 5 Stunden Fahrtzeit entfernt in North Yorkshire. Unglaubwürdig, wenn Penelope lediglich für einen kurzen Einkaufsbummel unterwegs ist.

Was die Zuordnung dieses Buches zum Cozy Crime-Genre angeht, bin ich leider auch nicht überzeugt. Schon kurz nach Beginn ist klar, dass es zwischen Protagonistin und dem smarten Tierarzt knistert, nach fünfzig Seiten sind sie in Liebe entflammt, was sich durch den gesamten Roman zieht und den halbherzig konstruierten Mordfall überlagert, der erst gegen Ende wieder in den Fokus rückt und ruckzuck den Bösewicht entlarvt.

Sorry, aber das war entäuschend. Ein England-Urlaub und das entsprechende Pseudonym reichen leider nicht aus, um einen charmanten Krimi voller England-Flair zu schreiben.

Veröffentlicht am 09.12.2022

Zu Gast im größten Antiquariat Schottlands

Neue Bekenntnisse eines Buchhändlers
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Wigtown ist ein ehemaliges Fischerstädtchen im Council Galloway im Süden Schottlands. 17 Buchhandlungen bei gerade mal knapp 1000 Einwohnern, Veranstaltungsort des alljährlichen Wigtown Bookfestivals und ...

Wigtown ist ein ehemaliges Fischerstädtchen im Council Galloway im Süden Schottlands. 17 Buchhandlungen bei gerade mal knapp 1000 Einwohnern, Veranstaltungsort des alljährlichen Wigtown Bookfestivals und seit 1998 offiziell mit dem Titel „Booktown“ geadelt. Dort betreibt Shaun Bythell seit 2001 „The Bookshop“, das größte Antiquariat des Landes, das die Association of Wigtown Booksellers folgendermaßen beschreibt: „Nine well organised rooms, all full of books resting on nearly a mile of shelving“. Wahrscheinlich würde Bythell dieser Aussage nur bedingt zustimmen, türmen sich doch üblicherweise auch auf dem Fußboden noch jede Menge Bücherstapel. Und auch der Zustand der Regale macht ihn nur bedingt glücklich, denn es gibt immer wieder Situationen, speziell bei der Bearbeitung von Online-Bestellungen, dass Bücher sich nicht dort befinden, wo sie eigentlich sein sollten. Aber ich greife vor…

In „Neue Bekenntnisse eines Buchhändlers“ nimmt uns Shaun Bythell wie bereits in dem Vorgänger „Tagebuch eines Buchhändlers“ in seinen Alltag mit, listet akribisch in diesem Tagebuch das Jahr 2015 auf und verschafft so einen Eindruck, mit welchen Problemen nicht nur der Buchhandel allgemein, sondern auch seine Buchhandlung im Speziellen seit einigen Jahren zu kämpfen hat. Die Einträge geben Auskunft über die Anzahl der Online-Bestellungen (wobei leider nicht jede ausgeführt werden kann, da das Buch nicht auffindbar ist), über die Zahl der Kunden, die sich im Laden aufgehalten haben und über den täglichen Umsatz, den diese getätigt haben. Wir begleiten ihn auf seinen oft wenig erfolgreichen Ankaufstouren, freuen uns umso mehr mit ihm über wertvolle Zufallsfunde, lernen seine Stammkunden kennen und bekommen ein Gefühl für den Zusammenhalt und die Gemeinschaft in diesem Städtchen.

Und natürlich treffen wir auch alte Bekannte wieder. Captain, der Bookshop-Kater, genauso griesgrämig wie sein Besitzer, Flo, die depressive Aushilfe, und Nicky, die Teilzeitkraft, die regelmäßig in den Tonnen bei Morrisons containert und ihre Beute am Foodie-Freitag großzügig auch Shaun anbietet. Beide bekannt für ihren kreativen Umgang mit dem Gedruckten. Speziell, was die thematische Zuordnung betrifft. Eine liebenswerte und unterhaltsame Ergänzung ist Emanuela, die exzentrische Italienerin mit dem großen Appetit, bald nur noch wegen ihrer diversen Malaisen „Oma“ genannt, die ab Mitte des Jahres das Team verstärkt.

Bythell beschreibt äußerst unterhaltsam und mit jeder Menge trockenem Humor seine mehr als schrägen Kunden und seine schrulligen Mitarbeiter. Aber es gibt auch immer wieder Passagen, in denen nachdenkliche und melancholische Untertöne über die Herausforderungen und Schwierigkeiten darüber mitschwingen, wie man eine Buchhandlung in Zeiten von ebooks und Online-Konkurrenz auch zukünftig einigermaßen profitabel führen kann. Ein Rezept dafür hat er allerdings nicht.

Große Leseempfehlung und das ideale Weihnachtsgeschenk für alle Buchverrückten!

Veröffentlicht am 06.12.2022

Zurück in der Spur. Zumindest vorerst.

Blutmond (Ein Harry-Hole-Krimi 13)
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Harry Hole ist hat den Kanal voll. Hat genug von dem Leben ohne Rakel, ertränkt seine Trauer im Alkohol. Will vergessen, sich zuschütten, bis das Geld ausgeht oder bis er stirbt. Im Idealfall. Aber so ...

Harry Hole ist hat den Kanal voll. Hat genug von dem Leben ohne Rakel, ertränkt seine Trauer im Alkohol. Will vergessen, sich zuschütten, bis das Geld ausgeht oder bis er stirbt. Im Idealfall. Aber so billig kommt er nicht davon. Noch gibt es etwas zu tun.

„Blutmond“, Band 13 in Jo Nesbøs Harry Hole-Reihe, eröffnet mit einer Szene am Tresen einer Bar in Los Angeles. Dem Ort, den der Antiheld für seine letzte Mission auserkoren hat. Aber manchmal kommt dem Todeswunsch dann doch das Leben dazwischen.

In diesem Fall ist es der Ruf aus der Heimat. Zwei junge Frauen wurden ermordet und seine ehemalige Kollegin und jetzige Kommissarin Katrine Bratt hätte ihn gerne in ihrem Team gehabt, bekommt dafür aber kein Okay von ihrem Vorgesetzten. Unter Mordverdacht steht ein vermögender Immobilienhai. Dieser möchte seine Unschuld beweisen und bietet Harry dafür ein Vermögen. Das Geld spielt für Harry keine Rolle, torpediert eher seinen Todeswunsch. Aber eine Freundin aus LA steht bei einem mexikanischen Kartell mit einem hohen Geldbetrag in der Kreide, kann diesen aber nicht zurückzahlen und wird deshalb massiv bedroht. Und Freunde lässt man nicht hängen. Vielleicht kann er ihr mit dem Geld helfen. Also macht er sich auf den Weg zurück nach Oslo.

Vor Ort stellt sich Harry „Privatermittler“ ein illustres Team zusammen, das aus dem mittlerweile todkranken Ståle Aune, dem Dealer Øystein Eikeland, beides alte Freunde, plus dem korrupten Polizisten Trune besteht. Und dann macht er mit deren Unterstützung das, was er am besten kann, nämlich den Mörder aufspüren und dingfest machen. Harry ist wieder fokussiert und in der Spur. Zumindest vorerst.

Wir kennen das bereits aus dem Vorgänger, Nesbø braucht oft etwas länger als in diesem Genre üblich, bis sich die Komplexität seiner Storys entfaltet. So auch hier, aber es lohnt sich, denn spätestens ab Harrys Ermittlungen erhöht sich nicht nur das Tempo, auch die Spannungskurve steigt deutlich an, was unter anderem auch durch die unterschiedlichen Perspektiven inklusive Tätersicht sowie durch zahlreiche unerwartete Wendungen forciert wird.

Eine Warnung zum Schluss: Wie immer ist Nesbø nicht zimperlich, wenn es um die Beschreibung von Gewaltverbrechen und Grausamkeiten geht. Wer damit ein Problem hat, sollte die Finger von diesem Buch lassen. Allen anderen, vor allem den Fans der Reihe, kann ich nur raten „Greift zu, es lohnt sich!“