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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 14.10.2020

Der beste Band der Reihe

Totengedenken
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Es scheint, als ob es DI Logan McRaes Ziel wäre, während seiner Dienstzeit alle Abteilungen der Police Scotland zu durchlaufen, denn mittlerweile ist er für die Interne Ermittlung in Aberdeen zuständig. ...

Es scheint, als ob es DI Logan McRaes Ziel wäre, während seiner Dienstzeit alle Abteilungen der Police Scotland zu durchlaufen, denn mittlerweile ist er für die Interne Ermittlung in Aberdeen zuständig. Und wenn jemand nicht mehr am Tagesgeschehen beteiligt sondern dafür zuständig ist, Fehlverhalten innerhalb der Truppe aufzudecken, ist er bei seinen Kollegen üblicherweise nicht everybodys Darling.

Deshalb begegnen ihm die Kollegen mit Misstrauen, hat doch der eine oder andere im Laufe der Jahre nicht immer nach den Regeln gehandelt. Das könnte auch bei DI Duncan „Ding-Dong“ Bell der Fall sein, dessen Leiche mit einem Messerstich in der Brust in einem Autowrack auftaucht. Äußerst ungewöhnlich, denn eigentlich wurde er bereits vor zwei Jahren mit allen polizeilichen Ehren bestattet. McRaes messerscharfer Verstand ist gefragt, weshalb er zu den Ermittlungen hinzugezogen wird. Gibt es einen Zusammenhang mit Ding-Dongs letztem Fall? Musste er seinen Tod vortäuschen, weil er einem Kinderhändlerring zu nahe kam?

Das ist die Ausgangssituation in „Totengedenken“, dem elften, und meiner Meinung nach besten Band mit Logan McRae. Und wie bei Reihen üblich, werden immer wieder Verweise auf die Vorgänger eingestreut. Das ist aber kein größeres Problem, denn man kann der Story auch dann gut folgen, wenn man die Vorgänger nicht gelesen hat.

Die Schilderungen von Verbrechen, in denen Kinder zu Opfern werden, sind immer schwer zu ertragend. Und so ist auch die Handlung dieses spannenden, aber nie voyeuristischen Thrillers streckenweise sehr düster und harte Kost für den Leser. Einen Ausgleich schafft der Autor zum einen durch die detaillierten Beschreibungen von McRaes Kollegen und deren Beziehungen zueinander, zum anderen durch die ausführliche Schilderung der Polizeiarbeit in diesem Fall. Nicht zu vergessen der schräge sarkastische Humor, der immer wieder für Auflockerung sorgt und die Zeit zum Durchatmen verschafft, die hier so dringend notwendig ist.

Veröffentlicht am 13.10.2020

Allein in der Wildnis

Cloris
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Die titelgebende „Cloris“ in Rye Curtis‘ Debütroman ist eine 72jährige Texanerin, für die das Leben eine besondere Herausforderung bereithält. Auf dem Weg in ihre Ferienhütte in den Bitterroot Mountains ...

Die titelgebende „Cloris“ in Rye Curtis‘ Debütroman ist eine 72jährige Texanerin, für die das Leben eine besondere Herausforderung bereithält. Auf dem Weg in ihre Ferienhütte in den Bitterroot Mountains stürzt die Propellermaschine mitten in den Wäldern ab, ihr Mann und der Pilot kommen ums Leben. Sie hat zwei Optionen, sich ebenfalls zum Sterben hinlegen oder sich aufrappeln und versuchen, den Weg zurück aus der Wildnis in die Zivilisation finden. Sie entscheidet sich für letzteres, ausgerüstet mit ihrer Handtasche, einigen Karamellbonbons und dem Stiefel aus Alligatorenleder, den sie ihrem toten Mann auszieht, weil man damit Wasser schöpfen kann. Das war’s.

Die nötigen Skills für ein Überleben in der Wildnis hat die ehemalige Bibliothekarin nicht. Woher auch, hat sie bisher noch nie benötigt, aber sie beißt sich durch. Und offenbar ist sie auch nicht allein auf sich gestellt, denn während sie sich durch das Dickicht kämpft, sieht sie ab und an eine schemenhafte Gestalt in der Ferne. Ein Mann mit Kapuze, der über sie wacht. Zündet ihr für die Nacht ein Lagerfeuer an, stellt dort etwas Essen ab.

Und dann ist da noch die Rangerin Debra, die eine hässliche Scheidung mit Merlot in der Thermoskanne verarbeitet und den Rettungstrupp anführt, der nach Überlebenden des Flugzeugabsturzes sucht. Gleichzeitig hält sie auch die Augen nach einem entflohenen Häftling offen.

Rye Curtis ist immer ganz nah, mit einer tiefen Empathie bei seinen Figuren, was besonders deutlich in den Passagen aus Cloris‘ Perspektive zu spüren ist. Er erzählt mit viel Gefühl, oft melancholisch aber nie kitschig, gespickt mit skurrilen Momenten und schrägem Humor. Eine Mischung aus „Nature Writing“ und Abenteuerroman, der seine besondere Dynamik aus den Perspektivwechseln bezieht und so eine gespannte Erwartungshaltung beim Leser generiert. Unbedingt lesen!

Veröffentlicht am 10.10.2020

Von der Chica zur Capitana

Capitana
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tarke Frauenfiguren mit Grips sind in Narco-Thrillern eher die Ausnahme. Meist nur schmückendes Beiwerk oder in der Opferrolle, ohne das nötige Selbstvertrauen, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. ...

tarke Frauenfiguren mit Grips sind in Narco-Thrillern eher die Ausnahme. Meist nur schmückendes Beiwerk oder in der Opferrolle, ohne das nötige Selbstvertrauen, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Erfrischend anders ist Lola Vasquez aus South Central L.A., ein Bad Ass wie sie im Buche steht und die „Capitana“, die Anführerin der Crenshaw Six Drogengang. Lola ist tough und fordert Loyalität von ihrem Umfeld, skrupellos, auch gegen sich selbst, wenn es darum geht, ihre Fußsoldaten zu beschützen. Aber unter ihrer rauen Schale steckt ein weicher Kern. Sie ist verletzlich, was ihren Kindheitserlebnissen geschuldet ist, Gewalt gegen Kinder und Frauen kann und will sie nicht tolerieren, ein absolutes No-Go.

Doch genau das bringt sie in ernsthafte Schwierigkeiten, als ihre Mutter auftaucht und sie bittet, einer schwangeren Frau aus der Nachbarschaft zu helfen, die immer wieder auf’s gröbste von ihrem Mann misshandelt wird. Nur gut, dass er momentan im gleichen Knast wie Lolas Bruder Hector eine Haftstrafe absitzt, denn im Gefängnis lassen sich solche Probleme ziemlich leicht erledigen. Doch als der Auftrag erteilt ist erfährt Lola, dass man sie angelogen hat. Der Typ ist kein Schläger, aber er gehört zu einem mexikanischen Kartell. Ein Rückzug ist nicht mehr möglich, und ehe sie sich versieht, steckt sie mitten in einem blutigen Bandenkrieg und droht, alles zu verlieren, was ihr wichtig ist.

Eine dichte, von hohem Tempo getriebene Story, eine trockene, schnörkellose Sprache, ein unverstellter Blick auf ein heruntergekommenes Viertel in L.A., eine sympathische, starke Hauptfigur, die aus dem Rahmen fällt, all dies macht „Capitana“ zu einem spannenden, empfehlenswerten Lesevergnügen.

Veröffentlicht am 06.10.2020

Ein würdiger Kandidat für den Deutschen Buchpreis 2020

Herzfaden
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Die erste Fernsehserie, die ich in meiner Kindheit atemlos verfolgt habe, war Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer. Ich durfte es bei einer Freundin anschauen, weil wir damals noch kein Fernsehgerät ...

Die erste Fernsehserie, die ich in meiner Kindheit atemlos verfolgt habe, war Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer. Ich durfte es bei einer Freundin anschauen, weil wir damals noch kein Fernsehgerät hatten, und ich erinnere mich, dass wir beide angespannt verfolgt haben, was da auf dem Bildschirm geschah. Augenblicke, die uns in unbekannte Welten mitnahmen, uns verzauberten. Die eine magische Verbindung zwischen der Marionette und dem Zuschauer schufen. Es war der Faden, der mitten unser Herz führte, vergessen ließ, dass Jim Knopf nur eine Holzpuppe war.

Hettches „Herzfaden“ wagt den Spagat zwischen einem Blick zurück in die jüngere Vergangenheit Deutschlands und einer Gegenwart, die einem phantastischen Roman entstammen könnte, verbunden mit der Geschichte der Familie Oehmichen. Bindeglied ist ein Mädchen, das nach einer Vorstellung eine unscheinbare Tür im Foyer öffnet und sich auf dem Dachboden, quasi hinter den Kulissen wiederfindet. Und dort sind nicht nur alle Marionetten der Puppenbühne lebendig sondern auch ihre Schöpferin, Hannelore (Hatü) Oehmichen, die bis zu ihrem Tod das Werk ihres Vaters fortgesetzt hat.

Hatü erzählt dem Mädchen von ihrer Kindheit, von der Angst während der Bombennächte, von der Deportation der Juden, von der Nachkriegszeit, in der die alten Nazis wieder Schlüsselpositionen besetzen, aber auch von einer Generation, die von den Erlebnissen in Krieg und Alltag traumatisiert ist. Und sie erzählt von den Anfängen der Augsburger Puppenkiste, von ihrem Vater Walter, dessen Anliegen es war, genau diese Menschen zu trösten, zu heilen, ihnen wieder Hoffnung zu geben. Ihre Herzen zu erreichen, und sei es auch nur mit Marionetten.

Thomas Hettches „Herzfaden“ ist ein würdiger Kandidat für den Deutschen Buchpreis 2020. Meine Daumen sind gedrückt!

Veröffentlicht am 01.10.2020

Ein großartiger, ein berührender Roman

Das weite Herz des Landes
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Richard Wagamese (1955 – 2017) ist ein indigener Autor aus Kanada (vom Stamm der Ojibwe, besser bekannt in der amerikanischen Bezeichnung Chippewa), der sich in der Tradition seines Volkes als „Geschichtenerzähler“ ...

Richard Wagamese (1955 – 2017) ist ein indigener Autor aus Kanada (vom Stamm der Ojibwe, besser bekannt in der amerikanischen Bezeichnung Chippewa), der sich in der Tradition seines Volkes als „Geschichtenerzähler“ versteht. Wie so viele Kinder seines Volkes aus seiner Familie gerissen, durch zahlreiche Pflegefamilien geschleust, dann adoptiert. In Kontakt mit seiner Herkunft und den indigenen Traditionen kommt er erst im Erwachsenenalter und verarbeitet diese in seinen Romanen.

„Das weite Herz des Landes“ ist eines seiner letzten Bücher, im Original 2014 erschienen und liest sich wie die Nieerschrift eines langen Gesprächs. Im Angesicht des Todes bittet Eldon seinen Sohn Frank um einen letzten Dienst. Er möchte nach Art seiner Vorfahren auf dem Ojibway-Kriegerweg mit Blick nach Osten bestattet werden, und „der Junge“ soll ihn, obwohl er lange Zeit keinen Kontakt zu ihm hatte, dorthin begleiten, ihn führen. Dieser willigt ein, widerwillig zwar, aber gemeinsam machen sie sich auf den Weg, der für beide weit mehr als eine letzte Reise sein wird.

Väter und Söhne, das ist eh ein Kapitel für sich. Aber ein Kind, das bei einem Vormund aufwachsen muss, das seine kulturelle Identität nur im Ansatz entwickeln kann, weil mutterlos und der alkoholkranke Vater als einziges Bindeglied nicht vorhanden ist, ist verständlicherweise nicht besonders gut auf diesen zu sprechen. So ist dieser letzte Ritt auch als Versuch des Vaters zu sehen, sich zu erklären, Schuld einzugestehen und um Vergebung zu bitten.

Ein großartiges, ein berührendes Werk der indigenen Literatur, das nachdenklich macht und lange nachhalt.