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Veröffentlicht am 18.05.2024

Das Buch zum Film

Hundswut
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Ein abgeschiedenes Dorf im tiefsten Bayern, und obwohl wir das Jahr 1932 schreiben, scheint es, als wäre die Zeit dort stehen geblieben. Was in Stadt und Land vor sich geht, kümmert niemanden, dort macht ...

Ein abgeschiedenes Dorf im tiefsten Bayern, und obwohl wir das Jahr 1932 schreiben, scheint es, als wäre die Zeit dort stehen geblieben. Was in Stadt und Land vor sich geht, kümmert niemanden, dort macht man sich seine eigenen Regeln. die der Bürgermeister und der Großbauer vorgeben. Doch als eines Tages vier Kinderleichen ermordet und zerfleischt im Wald gefunden werden, ist es vorbei mit der dörflichen Idylle.

Anfangs geht man davon aus, dass ein Wolf in den Wäldern sein Unwesen treibt, dann kommt das Gerücht von einem Werwolf auf, und schließlich gerät der Außenseiter ins Visier. Kein Tier wäre zu solch grausame Taten fähig, das kann nur ein Mensch getan haben. Das Getuschel beginnt, Gerüchte und Vermutungen machen die Runde, und man sich versieht, wird aus einer friedfertigen Dorfgemeinschaft ein grausamer Mob, der seine Menschlichkeit verliert, Blut sehen will und dafür zu archaischen Mitteln greift.

„Hundswut“ ist sowohl Thriller als auch Heimatroman jenseits aller Dirndl- und Lederhosenromantik, düster, brutal und mit beklemmender Atmosphäre. Aber vor allem ist es ein politisches Buch, ein Eindruck, der sich nicht nur durch die zeitliche Einordnung aufdrängt. Es ist ein Buch über Macht, Manipulation und Mitläufertum. David Alvarenga ist Filmemacher und Drehbuchschreiber, vertraut mit Dramaturgie und weiß, welche Mittel er wann einsetzen muss, um Spannung zu erzeugen.

Ständige Perspektivwechsel sorgen zwar für Tempo, vermitteln aber auch in ihrer Fülle ein Gefühl von Oberflächlichkeit und schaffen Distanz. Dazu kommen die reißerischen Beschreibungen der Gewaltexzesse, die gerade Richtung Ende überhand nehmen und meiner Meinung nach so auch nicht nötig gewesen wären. Tja, und der Schluss? Der kann leider wegen der massiven Verwendung von Klischees und dem Fehlen einer zufriedenstellenden Auflösung nicht überzeugen.

Veröffentlicht am 15.05.2024

Das war's

Verraten
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Die Morde des perfiden Serienkillers aus „Natrium Chlorid“ sind aufgeklärt. Endlich Zeit zum Durchatmen für das eingespielte Ermittlerteam des Sonderdezernats Q, oder? Weit gefehlt, denn aus heiterem Himmel ...

Die Morde des perfiden Serienkillers aus „Natrium Chlorid“ sind aufgeklärt. Endlich Zeit zum Durchatmen für das eingespielte Ermittlerteam des Sonderdezernats Q, oder? Weit gefehlt, denn aus heiterem Himmel wird Carl Mørck verhaftet. Grund dafür ist ein Überbleibsel aus einem weit zurückliegenden Fall, nämlich der Inhalt eines Koffers, der ihm von einen ehemaligen Kollegen (dieser ist mittlerweile einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen) zur Aufbewahrung übergeben wurde. Zu dumm nur, dass der Koffer noch immer auf Mørcks Dachboden steht, voll mit Drogen und einer beträchtlichen Menge Bargeld. Und zu allem Unglück sind die Scheine auch noch mit Mørcks Fingerabdrücken übersät. Er wird festgenommen und inhaftiert, aber seltsamerweise nicht von den anderen Insassen separiert. Und was das für das Schicksal eines Polizisten hinter Gittern bedeutet, kann man sich nur allzu gut vorstellen, zumal auch noch ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt ist.

Unterstützung von seinen Vorgesetzten? Fehlanzeige. Fast hat es den Anschein, als wolle man ihm etwas anhängen, seine Reputation unwiederbringlich ruinieren, ihn aus dem Weg schaffen. Nur gut, dass gegen alle Anweisungen von oben sein Team, alte Freunde und Menschen, die im Laufe der Jahre seinen Weg gekreuzt haben, fieberhaft daran arbeiten, Mørcks Unschuld zu beweisen und sein Leben zu retten.

Es ist vollbracht. Alles hat ein Ende, so auch die zehnbändige Reihe um Carl Mørck und das Sonderdezernat Q. Und das ist auch gut so, denn gerade ab dem fünften Band nahm die Qualität der behandelten Fälle doch spürbar ab. Waren diese zu Beginn noch vielschichtig und spannend komponiert, wurden sie ab diesem Zeitpunkt zunehmend banal, zäh und spannungsarm erzählt, was leider auch auf den Abschlussband „Verraten“ zutrifft. In erster Linie liegt das an den alten Fällen (plus den jeweiligen Repräsentanten), die in epischer Breite aufgewärmt werden, aber kaum etwas zum Fortgang der Handlung beitragen. Langatmige Beschreibungen der komplexen kriminellen Organisationsstrukturen und das Fehlen zufriedenstellender Auflösungen einiger Handlungsstränge verstärken leider diesen Eindruck.

Kann man lesen, wenn man die Reihe verfolgt bzw. sich durchgekämpft hat, aber als Einstieg bzw. Stand alone eignet sich dieser Band eher nicht.

Veröffentlicht am 03.05.2024

Denkanstöße

Notizen zu einer Hinrichtung
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„Es gibt kein Gut oder Böse. Stattdessen haben wir die Erinnerung und die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, wir alle existieren an unterschiedlichen Punkten des dazwischenliegenden Spektrums. Wir werden ...

„Es gibt kein Gut oder Böse. Stattdessen haben wir die Erinnerung und die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, wir alle existieren an unterschiedlichen Punkten des dazwischenliegenden Spektrums. Wir werden geformt durch das, was uns widerfahren ist, aber wir sind auch das Produkt unserer Entscheidungen.“

Schaut man sich das Leben Ansel Packers an, kommt man nicht umhin, darin ein Körnchen Wahrheit zu entdecken. Aufgewachsen in prekären Umständen bei einer Teenagermutter und einem Psychopathen, dessen Erziehungsmethoden in erster Linie aus Nahrungsentzug und Gewalt bestehen, wird er zu einem Menschen ohne Mitgefühl, der später ohne mit der Wimper zu zucken oder Schuldgefühle zu entwickeln, Frauen, die seinen Weg kreuzen, das Leben nehmen wird.

In Danya Kukafkas „Notizen zu einer Hinrichtung“ geht es aber nur am Rande um diesen Serienmörder und die kruden Überlegungen, die er in den letzten Stunden seines Lebens anstellt. Sie stellt die Opfer in den Mittelpunkt, gibt ihnen Raum, um ihre Geschichten zu erzählen, zeigt die Schnittstellen auf, in denen Packer deren Leben streift und unwiederbringlich verändert. Glücklicherweise verzichtet sie dabei auf die in diesem Genre üblichen detaillierten, von Gewalt geprägten Beschreibungen, sondern konzentriert sich auf die Täter-Opfer-Beziehungen aus Sicht der Frauen.

Drei Frauen, die Packers Leben gekreuzt haben, kommen zu Wort: Packers Mutter Lavender, die ohne sich noch einmal umzudrehen aus ihrem Leben voller Missbrauch flüchtet und Packer mit dem Neugeborenen ohne Nahrung zurücklässt. Das Baby überlebt nicht, und Packer kommt in staatliche Obhut, wird in einer Pflegefamilie untergebracht, in der er auf Saffy trifft. Saffy, die ihn beobachtet, sein Verhalten mit Misstrauen beäugt, vielleicht deshalb auch beschließt, Polizistin zu werden, und später die Erste sein wird, die in ihm den Mörder sieht und überführt. Und dann ist da noch Hazel, Zwillingsschwester Packers späteren Frau Jenny, die hilflos mit ansehen muss, wie dessen manipulatives und grausames Verhalten ihre Schwester allmählich zerstört.

Kukafka gibt Denkanstöße. Warum diese Vielzahl von verschwendeten Leben? Sind es die Umstände, die Herkunft oder doch die Entscheidungen, die die Biografie bestimmen? Und was geschieht, wenn man an einer Kreuzung falsch abbiegt? Einfühlsam und mit viel Fingerspitzengefühl beschreibt sie diese von männlicher Gewalt und Manipulation geprägte Frauenleben, aus denen es ab einem bestimmten Punkt keinen Ausweg mehr gibt. Und auch für Ansel Packer ist die Möglichkeit eines Exits längst verstrichen. Sein Leben endet auf der Pritsche. Mit der Nadel im Arm.

Veröffentlicht am 01.05.2024

Der schöne Schein

Das Geflüster
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Vier Frauen, vier Leben: Whitney, Mutter dreier Kinder, erfolgreich im Beruf, ein Vorbild in Sachen Perfektion. Blair, die zufriedene Hausfrau und Mutter ist. Mara, die trotz ihrer 82 Jahre noch immer ...

Vier Frauen, vier Leben: Whitney, Mutter dreier Kinder, erfolgreich im Beruf, ein Vorbild in Sachen Perfektion. Blair, die zufriedene Hausfrau und Mutter ist. Mara, die trotz ihrer 82 Jahre noch immer mit dem Tod ihres Sohnes hadert. Rebecca, Ärztin in der Notaufnahme, die sich nichts sehnlicher wünscht, als Mutter zu werden. Alle bemüht, den Erwartungen zu entsprechen und die Illusion ihres perfekten Lebens aufrecht zu erhalten, das bei genauerem Hinsehen in allen vier Fällen Risse offenbart. Risse, die ihren Ursprung in Anpassung und Selbstverleugnung haben. Sie haben sich arrangiert, halten ihre Enttäuschung und Verbitterung im Zaum, verbergen ihre Emotionen, aber geben sich doch die eine oder andere Blöße. Wie Whitney, die bei einer Gartenparty die Fassung verliert und ihren Sohn Xavier mit ihrer unterdrückten Wut überschüttet. Wochen später, Xavier liegt mittlerweile nach einem Sturz aus dem Fenster im Koma, werden sich alle Gäste an diese Schimpftirade erinnern. Und danach wird nichts mehr so sein wie es war.

Beim Lesen von Ashley Audrains Roman hat man sofort die typischen Streaming Serien vor Augen, in denen Vorstadtleben und Frauenfreundschaften thematisiert werden, sich aber die vermeintliche Idylle relativ schnell als ein verlogenes und toxisches Mit- und Gegeneinander entpuppt. Und genau nach diesem Schema funktioniert auch „Das Geflüster“. Audrain schaut genau hin, kriecht in die Köpfe von vier Frauen und demaskiert deren Leben und Lebenslügen in einer Nachbarschaft, in der alles Handeln darauf ausgerichtet ist, den schönen Schein zu wahren.

Keine Frage, die Story ist gut konstruiert - mit der Betonung auf konstruiert - und baut die Spannung bis zum Ende hin kontinuierlich auf. Aber unterm Strich wirkt das in der schieren Menge an Geheimnissen, Affären und Lügen, zumal lediglich auf vier Familien verteilt, leider sehr unglaubwürdig.

Veröffentlicht am 26.04.2024

Fesselndes Mosaik

Schattenzeit
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Florian Illies und Uwe Wittstock haben es getan, und auch von Oliver Hilmes gibt es mit „Berlin 1936“ bereits eine Veröffentlichung, die sich dieser Methode bedient, nämlich Ereignisse eines klar definierten ...

Florian Illies und Uwe Wittstock haben es getan, und auch von Oliver Hilmes gibt es mit „Berlin 1936“ bereits eine Veröffentlichung, die sich dieser Methode bedient, nämlich Ereignisse eines klar definierten Zeitraums nicht nur chronologisch zu erzählen, sondern auch durch zahlreiche Perspektivwechsel und Episoden Atmosphäre und Zeitgeist zu veranschaulichen. Doch im Unterschied zu den Vorgenannten richtet Hilmes seinen Blick auf ein individuelles Schicksal und stellt dieses ins Zentrum des erzählenden Sachbuchs „Schattenzeit. Deutschland 1943: Alltag und Abgründe“.

Er erzählt von Karlrobert Kreiten, einem herausragenden Pianisten seiner Generation, gerade einmal siebenundzwanzig Jahre alt, der sich im Gespräch mit einer Freundin der Familie zu unbedachten Äußerungen zur politischen Lage hinreißen lässt. Diese denunziert ihn, Kreiten wird verhaftet, angeklagt, verurteilt und sechs Monate später in Plötzensee gehängt.

Wer nun aber den Autor für die Konzentration auf diesen Fall kritisiert, sollte nicht vergessen, dass Kreiten kein Einzelfall ist, sondern stellvertretend für die namenlosen Gegner des Regimes steht, die ihre Überzeugung mit dem Leben bezahlen mussten.

Neben zahllosen tragischen Ereignissen wirken einige der Episoden (wie z.B. die Beschreibung der Eröffnung von E. Ardens Schönheitssalon) fast schon banal, und ja, sie sind es auch. Aber sie haben durchaus ihre Berechtigung und den Platz in diesem Buch verdient, denn sie vermitteln in ihrer Gesamtheit ein Gefühl für die Atmosphäre und das, was den Alltag 1943 ausmacht.

Ein fesselndes Mosaik, hervorragend recherchiert und aufbereitet, lebendig erzählt, berührend und passagenweise nur schwer zu ertragen. Ein wichtiges Zeitzeugnis, das ich allen Leserinnen und Lesern nachdrücklich empfehle.