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Veröffentlicht am 21.06.2022

Für Einsteigerinnen geeeignet

Die Liebenden von Bloomsbury – Virginia und die neue Zeit
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Seit Romanbiografien in den letzten Jahren inflationär den Markt überschwemmen, stehe ich diesem Genre zugegebenermaßen skeptisch gegenüber. Nun also „Die Liebenden von Bloomsbury“ über die Frauen der ...

Seit Romanbiografien in den letzten Jahren inflationär den Markt überschwemmen, stehe ich diesem Genre zugegebenermaßen skeptisch gegenüber. Nun also „Die Liebenden von Bloomsbury“ über die Frauen der Bloomsbury Group, und dann gleich noch im Dreierpack. Den Anfang macht Virginia Woolf, kein Postergirl oder die Frau von Soundso, sondern eine ernst zu nehmende Autorin, die seit „A room of one’s own“ vielen Frauen Inspirationen für ein selbstbestimmtes Leben geliefert hat. Die Autorin Stefanie H. Martin schreibt auch Young Adult Romane (überhaupt nicht mein Fall), hat aber auch über Charlotte Brontë promoviert, was eine gewisse Kompetenz vermuten lässt.

Beschrieben werden die Anfänge der Bloomsberries im Zeitraum zwischen 1903 bis 1909, einer Gruppe gut ausgebildeter junger Intellektueller, meist Absolventen der Universität Cambridge, die sich zu Diskussionsrunden über Literatur, Kunst und Wissenschaft im Haus der Stephen-Geschwister Virginia, Vanessa, Toby und Adrian am Gordon Square 46 in Bloomsbury, wobei es im viktorianischen Zeitalter eher unüblich ist, dass Frauen an diesen Zirkeln teilnehmen. Aber es gibt Situationen, in denen man sich gegen Konventionen auflehnen muss, denn nur so besteht eine Chance auf Veränderung. Das ist Virginia zwar bereits früh klar, aber noch bewegt sie sich in diesem vorgegebenen gesellschaftlichen Rahmen, auch wenn ihr Sinnen und Trachten darauf ausgelegt ist, für ihre schreibende Kunst zu leben. Anfangs sind es zwar nur Essays, die sie in verschiedenen Publikationen platzieren kann, aber wir wissen, dass es ihr gelingen, aber sie auch verzehren wird.

Diese Annäherung an Virginia Woolf ist historisch zwar korrekt, aber eben doch sehr populär aufbereitet. Dennoch eignet sich der gut lesbare Roman für „Neulinge“ durchaus als Einstieg in Virginias Leben und Werk. Bleibt zu hoffen, dass die Lust der Leserinnen geweckt wird, Virginia Woolf im Original bzw. der Übersetzung zu lesen.

Veröffentlicht am 21.06.2022

Mein eindringlicher Appell: Lest dieses Buch!

All dies ist nie geschehen
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Drei Weg, die sich kreuzen: Adam, Ex-Polizeiinspektor aus Syrien. Kilani, ein stummer sudanesische Junge. Und Bastien, auf eigenen Wunsch zur Polizei von Calais versetzt.

„Angesichts der Grausamkeit der ...

Drei Weg, die sich kreuzen: Adam, Ex-Polizeiinspektor aus Syrien. Kilani, ein stummer sudanesische Junge. Und Bastien, auf eigenen Wunsch zur Polizei von Calais versetzt.

„Angesichts der Grausamkeit der Realität wollte ich es mir nicht erlauben, eine Geschichte zu erfinden. Nur der Verlauf der hier geschilderten polizeilichen Ermittlungen ist fiktiv.“

So Olivier Norek, der diese Aussage seinem auf Tatsachen beruhenden Roman „Entre deux mondes“ voranstellt, in der Übersetzung unter dem nichtssagenden Titel „All dies ist nie geschehen“ erschienen.

Sie kommen aus Afghanistan, Sudan, Eritrea, Iran, Pakistan, Äthiopien, Sudan, Jemen und Syrien. Ihr Ziel: Über den Ärmelkanal nach „Youkay“. Ihr derzeitiger Aufenthaltsort: Der Dschungel von Calais. Die Vorhölle.

Der Handlungszeitraum erstreckt sich von Juli bis zur Räumung des provisorischen Camps im Oktober 2016. Und auch wenn seither mehr als fünf Jahre vergangen sind, leben noch immer unzählige Geflüchtete in den Wäldern, unter Brücken oder provisorischen Lagern in und um Calais, weshalb dieses 2017 im Original erschienene Buch nichts von seiner Aktualität verloren hat. Erschütternd, hart und kompromisslos zeigt uns der Autor, wie Europa mit Migranten umgeht, die nicht blond und blauäugig sind. Keine Verurteilung, sondern Denkanstöße.

Norek, Enkel eines schlesischen Migranten und geboren in Frankreich, hat fünfzehn Jahre bei der Polizei von Seine-Saint-Denis Dienst getan, und aus dieser Tätigkeit speisen sich die Themen seiner Romane. Für diesen hier hat er über einen längeren Zeitraum vor Ort im Dschungel recherchiert. Tagsüber sich die Geschichten der Migranten erzählen lassen, ihre Interaktionen beobachtet, nachts mit den Polizisten unterwegs, die angewiesen sind, deren Überfahrt nach England zu verhindern. Randnotiz: Frankreich hat sich von GB dafür seit 2015 mit mindestens 131 Millionen Euro entlohnen lassen.

Veröffentlicht am 19.06.2022

Große Leseempfehlung!

1979 - Jägerin und Gejagte
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Val McDermids neuer Roman markiert den Beginn einer fünfbändigen Reihe, in der uns die Autorin auf eine Reise in die Vergangenheit mitnehmen möchte. Im Zentrum steht Allie Burns, eine junge Journalistin, ...

Val McDermids neuer Roman markiert den Beginn einer fünfbändigen Reihe, in der uns die Autorin auf eine Reise in die Vergangenheit mitnehmen möchte. Im Zentrum steht Allie Burns, eine junge Journalistin, die im Auftaktband „1979“ ihre erste Stelle bei dem fiktiven Glasgower Boulevardblatt Clarion angetreten hat. Die Ähnlichkeiten mit McDermids Biografie sind nicht zufällig. Offenbar musste sie ähnliche Erfahrungen als junge Berufsanfängerin in einem von alten weißen Männern dominierten Arbeitsumfeld machen, das von Sexismus und Homophobie geprägt war. Denn auch sie verdiente bis 1991 ihre Speckbrötchen als Journalistin, bevor sie sich ab diesem Zeitpunkt ausschließlich dem Schreiben von Kriminalromanen widmete.

Ende der siebziger Jahre sind Journalistinnen in den Redaktionen noch die Ausnahme. Zwar gibt es sie vereinzelt, aber dann sollen sie sich nach Ansicht der männlichen Kollegen gefälligst um die Frauenthemen kümmern. Für persönliche Ambitionen bleibt da wenig Platz. Das gilt auch für Allie Burns. Aber sie ist ehrgeizig und sich ihrer Fähigkeiten bewusst, möchte endlich weg von diesen klassischen 3K-Themen, die man ihr immer aufs Auge drückt. Sie will investigativ arbeiten, die Titelseite mit einer Enthüllungsstory füllen. Unterstützt wird sie dabei von Danny, einem jungen Kollegen, der wie sie darauf brennt, sich einen Namen zu machen. Der erste Schritt in diese Richtung ist die gemeinsame Titelgeschichte über eine dubiose Anlageberatungsgesellschaft, für die sie sich die Anerkennung der arrivierten Journalisten verdienen. Und der nächste Scoop lässt nicht lange auf sich warten und steht in direktem Zusammenhang mit dem schottischen Referendum von 1979. Bei einer Veranstaltung der Scottish National Party belauscht Allie eine Unterhaltung, die sie vermuten lässt, dass ein Bombenanschlag geplant ist. Als Frau ist ihr der Zugang zu der Splittergruppe verwehrt, aber Danny gelingt es, das Vertrauen der Männer zu gewinnen…

Ja, es gibt einen Toten und natürlich auch die Suche nach dem Mörder. Aber „1979“ ist kein Kriminalroman, sondern die Chronik eines Jahres, in dem Großbritannien an einem Wendepunkt angelangt ist. Die Inflation liegt bei 17 %, als Gegenmaßnahme friert die Labour-Regierung unter PM Jim Callaghan die Löhne ein. Die Gewerkschaften sind empört, ermutigen ihre Mitglieder zum Dauerstreik. In Schottland und Wales gibt es Bestrebungen, Regionalparlamente einzusetzen. Und in Westminster lauern die Torys unter Margret Thatcher auf ihre Chance. Wir wissen, was dann geschehen ist.

McDermid schafft es, mit wenigen Pinselstrichen die siebziger Jahre wieder auferstehen zu lassen. Schreibmaschinengeklapper, übervolle Aschenbecher und zum Ausklang des Tages ein paar Gläser Famous Grouse. Dazu den einen oder anderen Musiktitel (am Ende des Buches ist eine Playlist zu finden), Verweise auf journalistische Vorbilder wie Woodward, Bernstein und Joan Didion, und nicht zu vergessen die Verbeugung vor William McIlvanney, Autor der Laidlaw-Trilogie und Vater des Tartan Noir.

Alles wohldosiert und unaufdringlich, nie auf Kosten der Story. Ist charmant nostalgisch und weckt Erinnerungen. Ein großer Wurf, der einmal mehr die besondere Begabung der schottischen Autorin vor Augen führt. Große Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 17.06.2022

Konventionell gestrickter Krimi

Mörderisches Madeira (Ein Madeira-Krimi 2)
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Madeira, das schroffe Kleinod im Atlantik, früher ein Geheimtipp, mittlerweile fest in touristischer Hand. Und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass auch die Verfasser von Urlaubskrimis dieses Eiland ...

Madeira, das schroffe Kleinod im Atlantik, früher ein Geheimtipp, mittlerweile fest in touristischer Hand. Und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass auch die Verfasser von Urlaubskrimis dieses Eiland als Handlungsort für sich entdeckt haben. Aber ist eine quasi exotische Lokalität ein Garant für einen spannenden Kriminalroman? Und hat der Autor die Fähigkeit, die besondere Atmosphäre diese Insel zum wesentlichen Bestandteil der Handlung zu machen?

Es ist Frühling, und Laura Fleming, die wir bereits aus dem Vorgänger „Tod auf Madeira“ kennen, hat ihre Koffer gepackt. Der Abgabetermin für ihren neuen Krimi steht ins Haus, und sie hofft, auf Madeira Ruhe zum Schreiben zu finden. Aber sie freut sich auch auf ein Wiedersehen mit einem Freund, Comissário Mauricio Torres, den sie bei ihrem letzten Aufenthalt auf der Insel kennengelernt hat. Aber ehe sie sich versieht, steckt sie mitten in einem Mordfall, in dem Mauricio die Hände gebunden sind, denn der Hauptverdächtige ist sein Bruder.

Bereits der Vorgänger war ein mehr als konventionell gestrickter Krimi, weder atmosphärisch noch sonderlich spannend. Und auch „Mörderisches Madeira“, der zweite Band der Reihe, ist voller Klischees, die nur jemand verbraten kann, der auf den ausgetretenen Pfaden der Pauschaltouristen wandelt. Das fängt bereit bei der Auswahl des Handlungsortes an. Prazeres? Wirklich? Natürlich wieder in der Nähe des touristischen Hotspots Calheta. 700 Einwohner, landschaftlich schön gelegen, aber jede Menge Ferienwohnungen, Hotels und Apartmentanlagen, die dem Ort die Einzigartigkeit genommen haben. Und auch die Rumbrennerei, hier der Tatort und das nächste Alleinstellungsmerkmal der Story, hat auf der Insel längst an Bedeutung verloren.

Auch bei der Beschreibung der Protagonisten ist kein Fortschritt festzustellen. Klar, alles läuft darauf hinaus, dass Laura und Mauricio ein Paar werden. Aber braucht es dazu die gebetsmühlenhaften Wiederholungen? Laura hat Eheprobleme, Mauricio trauert noch immer um seine tote Frau, beides ist hinlänglich bekannt und trägt nicht zum Fortgang der Krimihandlung bei. Genau so wenig wie die das Erwähnen von Saudade und Fado. Nein, die Madeirer sind kein Volk von lebensmüden Melancholikern, offenbar hat der Autor noch nie die ausgelassene und lebensfrohe Atmosphäre bei einem Dorffest auf der Insel erlebt.

Weder zeugt dieser Kriminalroman von Ortskenntnis noch bietet er eine spannende und unterhaltsame Lektüre. Und Werbung für die Blumeninsel ist er schon zweimal nicht, dafür uninspiriert und langatmig. Ein Ärgernis!

Veröffentlicht am 13.06.2022

Allzumenschliches

Milde Gaben
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Die Pandemie hat dafür gesorgt, dass sich nicht nur die Touristen sondern auch die Kriminellen aus Venedig zurückgezogen haben. Tote Hose in der Questura, lediglich Kleinkram ohne besondere Relevanz. Kein ...

Die Pandemie hat dafür gesorgt, dass sich nicht nur die Touristen sondern auch die Kriminellen aus Venedig zurückgezogen haben. Tote Hose in der Questura, lediglich Kleinkram ohne besondere Relevanz. Kein Grund für den Commissario einzugreifen. Doch dann taucht eine Besucherin aus der Vergangenheit in seinem Büro mit einem etwas seltsamen Anliegen auf. Elisabetta Foscarini, die ehemalige Nachbarstochter, fordert einen Gefallen von Brunetti ein. Sie ist besorgt und vermutet, dass ihr Schwiegersohn in zwielichtige Geschäfte verwickelt ist. Zumindest hat er ihrer Tochter gegenüber Andeutungen gemacht, dass auch sie in Gefahr sein könnte.

Der Commissario zögert, denn solche inoffiziellen Überprüfungen könnten ihn in große Schwierigkeiten bringen. Elisabettas überhebliche Art aus Teenagertagen ist ihm noch unangenehm in Erinnerung, aber auch die Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit ihrer Mutter, die ohne großes Aufhebens in der Vergangenheit immer wieder seine Mutter unterstützt und dafür gesorgt hat, dass auch in Zeiten, in denen das Geld knapp war, ein ordentliches Essen auf dem Tisch der Brunettis stand. Glücklicherweise ist der Vice Questore aushäusig und so willigt der Commissario schließlich ein, die Geschäfte des Schwiegersohns etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Unterstützt wird er dabei wie immer von seinen üblichen Mitarbeitern Griffoni, Vianello und natürlich Signorina Elletra, die bei der Informationsbeschaffung wieder einmal jenseits der Legalität agiert.

„Milde Gaben“ präsentiert mit Venedig ein vertrautes Setting, auch wenn sich dieses im Lauf der Reihe verändert hat. Und nicht zum Besten. Die klassischen Geschäfte für den täglichen Bedarf der immer weniger werdenden Bewohner sind verschwunden, an ihrer Stelle gibt es jetzt Touristenkitsch aus Fernost. Palazzi wurden an zahlungskräftige Investoren verhökert, die bei ihren Umbaumaßnahmen deren historische Relevanz ignorieren. Geblieben ist die Gewissheit, dass das Venedig der Vergangenheit unaufhaltsam im Verschwinden begriffen ist. Und so, wie die alte Serenissima verschwindet, verlieren auch die alten Werte immer mehr an Bedeutung und/oder werden nur noch zum eigenen Vorteil genutzt.

Im Zentrum des Geschehens stehen einmal mehr die dehnbaren italienischen Gesetze samt der Lücken, die Betrügereien Tür und Tor öffnen und die Grenzen zwischen kriminellem und nicht-kriminellem Verhalten verwischen. Im speziellen Fall Brunettis wird dies ergänzt durch das vage Gefühl der persönlichen Verpflichtung, das ihn mit der gegebenen Zusage hadern lässt, wenn er wider besseres Wissen moralische Grenzen überschreitet und Regeln beugt, um einen eingeforderten Gefallen zu erweisen.

Die Frage nach Tat oder Täter rückt in den Hintergrund, ist in Leons Romanen eh meist nebensächlich. Sie konzentriert sich eher auf die individuellen und/oder die gesellschaftliche Auswirkungen, will Denkprozesse anstoßen.

Ein leiser Roman, wehmütig und fern jeder Hektik, der die richtigen Fragen stellt. Beantworten muss sie jeder selbst - nach bestem Wissen und Gewissen.