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Veröffentlicht am 27.04.2022

Die Macht der Sprache

Die Sammlerin der verlorenen Wörter
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„Wörter definieren uns, sie erklären uns, und manchmal dienen sie auch dazu, uns zu kontrollieren oder zu isolieren.“ (S. 505)

Kein Internet, keine Wikipedia, deshalb waren während Schulzeit und Studium ...

„Wörter definieren uns, sie erklären uns, und manchmal dienen sie auch dazu, uns zu kontrollieren oder zu isolieren.“ (S. 505)

Kein Internet, keine Wikipedia, deshalb waren während Schulzeit und Studium das Oxford Dictionary neben Duden und Brockhaus meine ständigen Begleiter. Gedanken darüber, wie die Wörter und Definitonen in die Nachschlagewerke gekommen sind, habe ich mir aber nie gemacht. Diese Leerstelle, zumindest im Hinblick auf das englische Wörterbuch, füllt die Sozialwissenschaftlerin Pip Williams mit ihrem ersten Roman „Die Sammlerin der verlorenen Wörter“, in dem sie dessen Entstehung aus der Sicht von Esme Nicoll begleitet.

Esme ist die Tochter eines alleinerziehenden Lexikographen, der als Mitarbeiter von Sir James Murray an der Erstellung der ersten Ausgabe des ersten Oxford English Dictionary mitarbeitet. Der Vater ist einer von vielen Helfern, sammelt und katalogisiert die auf Zetteln eingesandten Worte samt Definitonen. Interessanterweise wird aber nicht jedes dieser Worte wichtig genug, um einen Platz im OED zu finden. Das merkt auch Esme ziemlich schnell, die ihren Vater bei seiner Arbeit begleitet und ihm die vom Tisch heruntergefallenen Einsendungen reicht. Auf einem dieser Zettel steht „Bonemaid“ (= Magd, im weitesten Sinn), ein Wort, das sie ihr Leben lang begleiten wird und Antrieb für all ihre Bemühungen ist, hat ihr Vater diesen Zettel doch umgehend entsorgt.

Und so fängt sie an, diese ausrangierten Begriffe zu sammeln und stellt fest, dass sie alle eine Gemeinsamkeit haben. Bei ihnen geht es ausnahmslos um Erfahrungen und Dinge des täglichen Lebens der Frauen und der einfachen Bevölkerung. In ihr reift der Plan, aus diesen „verlorenen“ Worten ihr eigenes Wörtbuch zu schaffen, damit auch diese Menschen gehört werden. Aber dafür muss sie zuerst einmal den Universitätskosmos verlassen und in deren Welt eintauchen.

Die zeitliche Einordnung ist immens wichtig für diesen Roman, der 1887 beginnt und weit bis ins zwanzigste Jahrhundert hineinreicht. Das Viktorianische Zeitalter neigt sich dem Ende zu, die Industrialisierung nimmt Fahrt auf, es ist eine Zeit des Wandels, die ganz allmählich gesellschaftliche Veränderungen einläutet. Die bestehenden Klassenunterschiede werden thematisiert, die Rolle der Frauen hinterfragt, die Suffragetten fordern das Wahlrecht und gehen auf die Barrikaden und der Erste Weltkrieg steht vor der Tür. All dies wird aus Esmes Sicht beschrieben und festigt sie in ihrer Meinung, dass es die Sprache der Männer ist, die die Gegenwart regiert, Geschichte schreibt, die Stimmen der Frauen außen vor bleiben.

Ein berührender, und ja, auch ein feministischer Roman über die Macht der Sprache, der Anstösse gibt und zum Nachdenken anregt.

Veröffentlicht am 26.04.2022

Andere Länder, andere Sitten

Die Knochenleser
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Andere Länder, andere Sitten: Die Personaldecke der Polizei von Camaho, einer karibischen Insel in der Nähe von Trinidad, ist dünn. Es fehlen Polizisten. Der trinkfeste DC Chilman hat seine eigene Methode, ...

Andere Länder, andere Sitten: Die Personaldecke der Polizei von Camaho, einer karibischen Insel in der Nähe von Trinidad, ist dünn. Es fehlen Polizisten. Der trinkfeste DC Chilman hat seine eigene Methode, um neue Mitarbeiter zu akquirieren. Man kennt sich auf der Insel, also geht er einfach auf die Straße und sucht sich einfach so seine neue Truppe zusammen. Seine Wahl fällt unter anderem auf „Digger“ Digson, dessen Mutter vor vielen Jahren bei einer Demonstration unter ungeklärten Umständen verschwunden ist. Digger ist ein uneheliches Kind, der Sohn des Polizeipräsidenten, hat aber keinen Kontakt zu ihm. Chilman glaubt, dass er besondere Fähigkeiten hat. Zum einen kann er einmal gehörte Stimmen der Person zuordnen, zum anderen vermutet er einen Knochenleser in ihm. Und er hat eine Geschichte. Weiß, dass Digger von dem Verschwinden seiner Mutter umgetrieben wird und bietet ihm so auch die Chance herauszufinden, was mit ihr passiert ist. Der andere Aktivposten ist Chilmans schräge Tochter, Miss Stanislaus, die er Digger aufs Auge drückt, alle anderen Teammitglieder bleiben relativ blass.

Diggers Fähigkeiten als Knochenleser können nur bedingt überzeugen. Da ist der Krimileser aus diversen Forensik-Krimis wesentlich Besseres gewohnt. Und wenn der Handlungsort in der Karibik liegt, erwartet man doch auch die entsprechenden Landschaftsbeschreibungen, oder? Auch hier Fehlanzeige. Leider. Thematisch innovativ? Eine Gesellschaft, in der die Männer sich nehmen, wonach ihnen ist, die Frauen kaum in der Lage sind, sich dagegen zu wehren. Das Einzige, was ihnen bleibt, ist die Gemeinschaft untereinander, aus der heraus sie dann agieren, wenn der Tropfen das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Nun ja…wenig Neues unter der karibischen Sonne.

Der absolute Schwachpunkt des Buches ist allerdings die wenig gelungene Übersetzung, weshalb ich mir auch das Original angeschaut habe. Das Patois funktioniert im Englischen sehr gut, aber bei der Übersetzung ins Deutsche, die sich überwiegend darauf beschränkt, lediglich den letzten Buchstaben der Worte wegzulassen, wirkt das nur gewollt, aber nicht gekonnt.

2017 wurde der Krimi mit dem Jhalak Prize for Book of the Year by a Writer of Colour ausgezeichnet und ist der Auftaktband einer Trilogie. Allerdings werde ich sie nicht weiterverfolgen.

Veröffentlicht am 24.04.2022

Brisantes Thema, hochspannend umgesetzt

Mörderische Witwen
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Mein Interesse an skandinavischen Krimis hat in den vergangenen Jahren spürbar abgenommen. Zum einen liegt das an der Vielzahl der mittelmäßigen Autoren, die den Buchmarkt überschwemmt haben, zum anderen ...

Mein Interesse an skandinavischen Krimis hat in den vergangenen Jahren spürbar abgenommen. Zum einen liegt das an der Vielzahl der mittelmäßigen Autoren, die den Buchmarkt überschwemmt haben, zum anderen an der Banalität der Themen, die sich kaum noch von denen der üblichen Massenware unterscheiden.

Einer der wenigen Autoren, die aus dem Angebot herausstechen, ist Pascal Engman, ein ehemaliger Journalist, der in seiner Vanessa-Frank-Reihe mit kritischem Blick auf sein Heimatland Schweden schaut und in seinen Romanen Themen aufgreift, die an den Pfeilern der schwedischen Gesellschaft rütteln. Rechtsnationalismus, Misogynie und nun IS-Terrorismus in „Mörderische Witwen“.

Die Prostituierte Molly bewegt sich in einflussreichen Kreisen und hört zufällig ein Gespräch mit brisantem Inhalt an.

Der Sohn des IT-Experten Axel wird bei einem Unfall mit Fahrerflucht lebensgefährlich verletzt, woraufhin dieser alles daran setzt, den Verantwortlichen ausfindig zu machen.

Nicolas Paredes arbeitet mittlerweile als Bodyguard für eine vermögende Familie, deren Oberhaupt in dubiose Geschäfte verwickelt ist.

Zwei Tote im Park. Ein Polizist, erschossen. Eine weibliche Unbekannte, erstochen. Als klar ist, um wen es sich bei ihr handelt, bricht für Vanessa Frank eine Welt zusammen. Obwohl sie von dem Fall abgezogen wird, ermittelt sie weiter und fördert Informationen zutage, die ihr den Boden unter den Füßen wegziehen.

Europäische Frauen, verheiratet mit aktiven IS-Kämpfern und nach deren in ihre Heimatländer zurückkehren, um dort den Kampf weiterzuführen. Ein aktuelles, politisch brisantes Thema, das in den zurückliegenden Monaten vielfach durch die Presse gegangen ist. Authentisch und realistisch.

Viele Handlungsstränge, anfangs sauber getrennt, die sich im Verlauf der Story schlüssig verbinden. Unterschiedliche Perspektiven, die parallel abwechselnd in kurzen Kapiteln geschildert werden. Nicht verwirrend, sondern logisch aufeinander aufgebaut und sich allmählich verzahnend. Hohes Tempo, keine Längen. Spannung, die kontinuierlich wächst und das Interesse hoch hält. Das beherrscht kaum ein Thrillerautor so perfekt wie Pascal Engman.

Veröffentlicht am 20.04.2022

Ein Krimi ist ein Krimi ist ein Krimi...

Der Tote aus Zimmer 12
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Wie bereits in Anthony Horowitz‘ erstem Buch der Reihe, in der Susan Ryeland im Zentrum der Handlung steht, ist auch „Der Tote aus Zimmer 12“ eine klassische Detektivgeschichte und passt zweifelsfrei in ...

Wie bereits in Anthony Horowitz‘ erstem Buch der Reihe, in der Susan Ryeland im Zentrum der Handlung steht, ist auch „Der Tote aus Zimmer 12“ eine klassische Detektivgeschichte und passt zweifelsfrei in die Retrowelle, die seit einiger Zeit den Buchmarkt überschwemmt und zurückführt in die Zeiten des klassischen Whodunit-Kriminalromans, in dem es schlussendlich „nur“ darum geht, wer das Verbrechen begangen hat. Glücklicherweise weicht der britische Autor aber vom einfachen Schema Mord-Ermittlung-Entlarvung ab und überrascht die Leserinnen, wie bereits im Vorgänger, mit einem ganz besonderen Kniff.

Die Verlegerin Susan Ryeland hat England verlassen und betreibt gemeinsam mit ihrem Freund Andreas Patakis ein kleines Hotel auf Kreta. Wirklich zufrieden ist sie mit ihrem neuen Leben nicht, zuviel Alltagskram, zu wenig intellektuelle Herausforderungen. Deshalb bedarf es auch wenig Überredungskunst, als sie von ihren Gästen, dem Ehepaar Treherne, gebeten wird, sich den Fall ihrer Tochter Cecily genauer anzuschauen, die spurlos verschwunden ist. Offenbar gibt es eine Verbindung zu „Atticus unterwegs“ des Autors Conway, ein Buch, das Susan in ihrem früheren Leben lektoriert hat.

Natürlich arbeitet Horowitz mit den üblichen Versatzstücken des Genres: Viele Verdächtige, unzählige Motive und eine Ermittlerin, die in hartnäckiger Klein-Klein-Arbeit nach und nach die Widersprüche in den Aussagen aufdeckt. Neu ist allerdings das Buch-im-Buch, das ungekürzt wiedergegeben wird und die Leser
innen quasi zum Miträtseln auffordert. Eine originelle Herangehensweise, die perfekt zum Aufbau dieses Krimis und der Verbeugung vor den Klassikern à la Agatha Christie passt.

Veröffentlicht am 18.04.2022

Ausgewildert

Wo die Wölfe sind
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Als das uralte Gleichgewicht des Ökosystems noch intakt war, gab es überall Wölfe in den Wäldern, aber diese Zeiten sind schon lange vorbei. Mittlerweile ist alles aus den Fugen geraten, Wälder wurden ...

Als das uralte Gleichgewicht des Ökosystems noch intakt war, gab es überall Wölfe in den Wäldern, aber diese Zeiten sind schon lange vorbei. Mittlerweile ist alles aus den Fugen geraten, Wälder wurden abgeholzt, die Artenvielfalt ist verschwunden, aber gleichzeitig ist die Hirschpopulation über die Maßen angestiegen. Aufforstung allein genügt nicht, um diesen Prozess zu stoppen und die Renaturierung wieder in Gang zu setzen.

Die australische Biologin Inti Flynn, Protagonistin in McConaghys zweitem Roman „Wo die Wölfe sind“, hat eine Mission. Sie möchte Mensch und Natur miteinander in Einklang bringen, dafür sorgen, dass die alte Ordnung wiederhergestellt wird. Gemeinsam mit ihrem Team hat sie bereits im Yellowstone Nationalpark mit einem Wiederansiedlungsprojekt dafür gesorgt, dass dort wieder Wölfe leben und so auf lange Sicht dafür sorgen, dass sich die Natur erholt. Nun möchte sie ein ähnliches Projekt in den schottischen Highlands realisieren, aber natürlich wird sie mit dem Widerstand der einheimischen Schafzüchter konfrontiert, die um ihre Herden fürchten. Für sie sind Wölfe noch immer die blutrünstigen Raubtiere, gefährlich für Mensch und Tier. Doch Inti lässt sich nicht beirren und zieht ihre Pläne durch. Aber anscheinend sind die Bauern im Recht, fühlen sich in ihren Vorbehalten bestätigt, als die ersten toten Tiere auf den Weiden auftauchen. Das spurlose Verschwinden eines Nachbarn ist schließlich der berüchtigte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen und die Volksseele zum Kochen bringt.

Soweit der erzählerische Rahmen, in dem sich die Handlung dieses Romans bewegt. Allerdings wäre es wünschenswert gewesen und hätte bei mir einen stärkeren Eindruck hinterlassen, wenn die Autorin ihren Fokus stärker auf die ökologischen Voraussetzungen gerichtet hätte, in dem diese angesiedelt ist. Sie taucht weder in die Landschaft noch in die Lebenswelt der schottischen Schafzüchter ein, begnügt sich hier leider mit oberflächlichen Klischees und füllt die Leerstellen mit überflüssigen Nebenhandlungen, die nur unwesentlich zum Fortgang der Handlung beitragen. Beispiele gefällig? Intis Mirror-Touch-Synästhesie, die tragische Geschichte ihrer stummen Schwester, der gewalttätige Nachbar, der regelmäßig seine Frau verprügelt, und dann auch noch die völlig überflüssige Lovestory. Alles in allem etwas zu viel des Guten.

Dennoch bin ich trotz dieser kritischen Anmerkungen der Meinung, dass der Roman gelungen ist, und das hat zwei Gründe. Zum einen wird die Autorin damit auch diejenigen erreichen, die sich üblicherweise nicht mit ökologischen Fragen auseinandersetzen, zum anderen sensibilisiert sie ihre Leser*innen für die Frage, wie man mit den Wölfen umgehen sollte, die seit einiger Zeit mittlerweile auch bei uns immer wieder in den Wälder auftauchen. Auf der einen Seite diejenigen, die lautstark auf deren Gefährlichkeit hinweisen und für deren Abschuss eintreten, auf der anderen Seite diejenigen, die die Bedeutung der Wölfe für ein intaktes Ökosystem erkennen und für ihren Schutz eintreten. Eine Frage, die noch immer nicht abschließend geklärt ist.