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Veröffentlicht am 24.02.2022

So entstaubt man einen Klassiker

Tell
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Wilhelm Tell, Mythos und Schweizer Nationalheld, dessen Geschichte von Friedrich Schiller in die Bühnenfassung gebracht wurde. Für Generationen von Schülern Pflichtlektüre. Und jetzt kommt Joachim B. Schmidt, ...

Wilhelm Tell, Mythos und Schweizer Nationalheld, dessen Geschichte von Friedrich Schiller in die Bühnenfassung gebracht wurde. Für Generationen von Schülern Pflichtlektüre. Und jetzt kommt Joachim B. Schmidt, der nach Island ausgewanderter Schweizer daher, entstaubt und modernisiert den eidgenössischen Klassiker. Und wie er das macht ist furios, denn bei ihm kommt die Geschichte des Freiheitskämpfers, der so virtuos mit der Armbrust umgehen konnte, im Gewand eines Pulp Romans daher.

Schmidt reduziert den Stoff auf das Wesentliche, gibt den Akteuren aber einen differenzierten Hintergrund mit. Fünf Akte werden zu zehn Kapiteln, innerhalb derer die Sichtweisen aus zwanzig unterschiedliche Perspektiven in hohem Tempo wie Trommelfeuer auf den Leser einprasseln und kaum Zeit zum Luftholen lassen. Unterstützt und forciert wird das noch durch jede Menge Cliffhanger.

Das Personal bleibt bekannt, aber der Autor knackt die Distanz, die man bei Lesen des Originals hat, weil er einen Blick in deren Innerstes wagt. Tell, immer noch in Trauer wegen des Todes seines Bruders, steht stellvertretend für die Bergbauern. Ist ausgelaugt von der schweren Arbeit, wortkarg, unberechenbar, brutal. Gessler, der Reichsvogt, ist ein Zauderer, entschlussschwach zweifelnd. Harras, sein Stallmeister, hingegen verkörpert den Oberschurken, der voller Verachtung auf die Bauern schaut und sie demütigt. Bemerkenswert allerdings ist die Rolle der Frauen, die aus dem Hintergrund treten, aktiv sind, die tun, was getan werden muss, um ihre Familie und den Besitz zu beschützen und ihren Beitrag zum Überleben leisten.

Eine gelungene Neuinterpretation des Klassikers, die das Zeug zur Schullektüre hat. Am besten im direkten Vergleich mit dem Original.

Veröffentlicht am 22.02.2022

Im Einklang mit der Natur

Ein Ring aus hellem Wasser
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Nature Writing, diese literarische Gattung, die fast schon vom Buchmarkt verschwunden war, hat im Zuge des gestiegenen Umweltbewusstseins in den letzten Jahren wieder vermehrt ihre Leser gefunden. Und ...

Nature Writing, diese literarische Gattung, die fast schon vom Buchmarkt verschwunden war, hat im Zuge des gestiegenen Umweltbewusstseins in den letzten Jahren wieder vermehrt ihre Leser gefunden. Und so verwundert es nicht, dass jetzt auch dieser Klassiker aus dem englischsprachigen Raum neu aufgelegt wurde. „Ein Ring aus hellem Wasser“ von Gavin Maxwell (1914 – 1969), erstmals 1960 im Original, 1964 in der Übersetzung erschienen und 1969 unter dem Titel „Mein Freund, der Otter“ verfilmt, ist ein gelungenes Beispiel dafür, vereint es doch mit seiner Innen- und Außensichtung alles, was dieses Genres ausmacht.

Der Autor ist Schotte, stammt aus einer adligen Familie und war für die Scots Guards im Zweiten Weltkrieg als Ausbilder in einer nachrichtendienstlichen Spezialeinheit aktiv. Er ist ein Suchender, schon immer von der Natur und ihren Geschöpfen und den Beziehungen zwischen Mensch und Tier fasziniert, und so verwundert es nicht, dass er bei einer Forschungsreise durch die irakischen Sümpfe seine Liebe zu einem klugen Fischotter entdeckt, den er Mijbil nennt. Er beschließt, ihn mit in seine schottische Heimat zu nehmen, wo er sich seit 1949 in ein abgelegenes Cottage in den Highlands an der schottischen Westküste zurückgezogen hat. Und so wird die Geschichte eines Mannes fortgeschrieben, der im Leben mit und in der Natur und ihren Geschöpfen trotz allen Unwägbarkeiten Ruhe und Erfüllung findet.

Obwohl es natürlich auch wunderbare Landschaftsbeschreibungen gibt, verzichtet Maxwell auf die verkitschten Darstellungen à la Zurück zur Natur mit Sonnenuntergang. Er zeigt vielmehr deren dunkle, unbarmherzige und raue Seite, in der Sentimentalitäten nur wenig Raum eingeräumt wird, in der „Fressen und gefressen werden“ zum Alltag gehört. Und genau das ist es, was diese Aufzeichnungen so lesenswert, so einzigartig und gleichzeitig so anrührend macht.

Veröffentlicht am 21.02.2022

So wird das nix...

Selber backen statt kaufen
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Smarticular möchte das Thema Nachhaltigkeit fest im Bewusstsein der Gesellschaft verankern. Deshalb gibt es neben dem Ideenportal mittlerweile auch einen Verlag, in dem Publikationen zu den unterschiedlichsten ...

Smarticular möchte das Thema Nachhaltigkeit fest im Bewusstsein der Gesellschaft verankern. Deshalb gibt es neben dem Ideenportal mittlerweile auch einen Verlag, in dem Publikationen zu den unterschiedlichsten Themen erscheinen, darunter auch einige Koch- und Backbücher, die den Nutzern aufzeigen wollen, dass Selbermachen meist die bessere Alternative zu Gekauftem ist.

Nachdem im Zuge der Pandemie die Zahl der Hobbybäckerinnen rasant angestiegen ist, war es natürlich auch nur eine Frage der Zeit, bis das entsprechende Backbuch „Selber backen statt kaufen“ das Angebot ergänzt, das diesen Bereich abdecken soll. So weit, so gut. Oder etwa doch nicht?

Auf etwas über 200 Seiten finden wir meist einfache Rezepte für Brot und Brötchen, Rührkuchen, Kekse und Knabbereien sowie eine Handvoll für Herzhaftes. Diese richten sich in erster Linie an Anfänger, denen damit eine Alternative zu gekauften Produkten geboten werden soll. Allerdings bezweifle ich sehr, dass diese Rechnung aufgeht. Die begleitenden Fotos machen einen eher amateurhaften Eindruck und animieren nicht unbedingt zum Nachbacken. Man schaue sich nur das Bild des Rührkuchens an…

Ich backe schon seit Jahrzehnten, und zwar nicht nur Kuchen sondern auch unser täglich Brot, kann also einschätzen, ob ein Rezept funktioniert oder nicht. Ich befürchte, dass hier vor Veröffentlichung nicht hinreichend getestet wurde, und das betrifft leider einige Rezepte. Da stimmen die Verhältnisse von Flüssigkeit zu Mehlmenge nicht, Triebmittelmengen sind zu niedrig angesetzt, Backtemperaturen und -zeiten hauen nicht hin. Etwas mehr Sorgfalt wäre hier wünschenswert gewesen, denn so ist die Frustration der Neulinge vorprogrammiert.

Aus den genannten Gründen kann ich dieses Backbuch weder Anfänger
innen noch versierten Hobbybäcker*innen empfehlen. Aber glücklicherweise gibt es ja genügend Alternativen.

Veröffentlicht am 18.02.2022

Wirklichkeit, Wahn oder Schuld?

Der geheimnisvolle Mr. Hyde
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Edinburgh und Robert Louis Stevenson (1850–1894) gehören untrennbar zusammen. Das kann jede/r bestätigen, der schon einmal die Hauptstadt Schottlands besucht bzw. sich mit deren kulturellem Erbe auseinandergesetzt ...

Edinburgh und Robert Louis Stevenson (1850–1894) gehören untrennbar zusammen. Das kann jede/r bestätigen, der schon einmal die Hauptstadt Schottlands besucht bzw. sich mit deren kulturellem Erbe auseinandergesetzt hat. Viele schottische Autoren nennen, nach ihren Vorbildern befragt, an erster Stelle den Autor der viktorischen Schauernovelle „Strange Case of Dr Jekyll und Mr Hyde“ (1886). Und auch Craig Russells Thriller „Der geheimnisvolle Mr. Hyde“, 2021 mit dem McIlvanney-Preis des Bloody Scotland Crime Writing Festival ausgezeichnet, ist, auch wenn die Story wenig mit der Vorlage gemeinsam hat, inspiriert von diesem Werk und eine Verbeugung vor dessen Schöpfer.

Wir sind in Edinburgh, das 19. Jahrhundert neigt sich dem Ende zu. Die Atmosphäre, speziell des Nachts, ist so, wie man es von einem viktorianischen Roman erwartet. Die Nebelschwaden wabern durch schlecht ausgeleuchtet Gassen, in denen Schatten auftauchen und unerkannt wieder verschwinden. Ideale Bedingungen für jemanden, der nichts Gutes im Sinn hat.

Im Zentrum des Romans steht Edward Hyde, ein Freund Stevensons, ehemals in Indien im Einsatz, mittlerweile angesehener Superintendent und Präsident der Edinburgher Polizei. Allerdings gibt es da etwas, von dem nur er und sein behandelnder Arzt Kenntnis hat. Er kämpft mit physischen und psychischen Problemen, leidet an einer Erkrankung, die ihn des Öfteren an seiner Wahrnehmung zweifeln lässt. Wirklichkeit, Wahn oder Schuld? Es kommt immer wieder vor, dass er diese Unterscheidung in bestimmten Situationen nicht zweifelsfrei treffen kann, sich nicht erinnern kann, wenn eine dieser Episoden vorbei ist. Als in der Stadt immer wieder Mordopfer aufgefunden werden, die offenbar nach uralten keltischen Riten getötet wurden, betraut man ihn mit den Untersuchungen. Aber ist er wirklich der richtige Mann für diesen Fall? Besteht nicht vielleicht sogar die Möglichkeit, dass er für die Taten verantwortlich ist?

Keltische Riten, heidnische Symbole und die Schreie der Banshee könnte die Vermutung aufkommen lassen, dass Russell einen astreinen Gothic-Thriller geschrieben hat. Allerdings ist das nur ein Aspekt, denn auch das historische Erbe der Stadt wird thematisiert (unter anderem galt Edinburgh lange Zeit als Zentrum der medizinischen Innovationen und wird hier durch einen kurzen Auftritt von Dr Joseph Bell repräsentiert, der die Vorlage für Sherlock Holmes lieferte). „Der geheimnisvolle Mr Hyde“ bietet nicht nur spannende Unterhaltung sondern weckt auch das Interesse an Edinburgh, regt an, sich eingehender mit der Historie dieser facettenreichen Metropole und ihrer Persönlichkeiten zu beschäftigen. Es lohnt sich!

Veröffentlicht am 15.02.2022

Erschreckend nahe an unserer Realität

Every (deutsche Ausgabe)
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Google, Twitter, Instagram, Facebook, Meta. Dass Suchmaschinen und soziale Netzwerke nicht nur der Informationsbeschaffung und Unterhaltung dienen, dürfte uns allen, die wir sie täglich nutzen, mittlerweile ...

Google, Twitter, Instagram, Facebook, Meta. Dass Suchmaschinen und soziale Netzwerke nicht nur der Informationsbeschaffung und Unterhaltung dienen, dürfte uns allen, die wir sie täglich nutzen, mittlerweile klar sein. Sie beobachten, analysieren, manipulieren. Ganz gleich, ob uns das bewusst ist oder nicht, Algorithmen und Social Bots nehmen durch gezielt platzierte Informationen Einfluss auf unsere Entscheidungen. Beeinflussen unser Kaufverhalten, aber auch unsere Sicht auf die Welt, auf die Gesellschaft und/oder politische Ereignisse. Man denke nur an das Brexit-Referendum und die gefälschten Twitter-Accounts, an Trumps Wahlsieg, an die Meldungen während der Pandemie. Die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen.

Wer Dave Eggers‘ Romane kennt, weiß, dass diese zwar fiktional sind, er aber in ihnen nicht nur persönliche Erfahrungen sondern auch gesellschaftliche Entwicklungen thematisiert. In „Der Circle“ (2013/2014) betrachtet er am Beispiel der naiven Mae kritisch die fragwürdigen Machenschaften eines Tech-Monopolisten, dessen oberstes Ziel die absolute Transparenz des Persönlichen ist.

Nachdem seine visionären Prognosen in der Zwischenzeit längst von der Realität überholt worden sind, legt er nun mit „Every“ nach, einem Megakonzern, entstanden nach Circles Übernahme eines „E-Commerce-Giganten, der nach einem südamerikanischen Dschungel benannt war“. Honi soit qui mal y pense.

Apps für alles und jedes suggerieren Alltagserleichterungen, überwachen aber rund um die Uhr. Algorithmen, helfen bei der Entscheidungsfindung, schränken aber die persönlichen Freiheiten ein, all dies wird von fast allen Nutzern ohne Widerspruch hingenommen, ja sogar begrüßt. Aber es gibt auch Menschen, die diese ständige Überwachung satt haben, sich ihr entziehen wollen.

Zu ihnen gehört Delaney, die dieser Entwicklung mit Misstrauen begegnet und beschließt, Every zu infiltrieren. Sie baut darauf, den Giganten mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, indem sie die Möglichkeiten des Systems bis zum Äußersten mit Vorschlägen ausreizt, die nicht nur die Nutzer sondern auch die angestellten Everyones des Konzerns auf die Barrikaden treiben sollen. Aber wie erwartet hat sie nicht mit der Lethargie der Menschen gerechnet. Je mehr Überwachung, je mehr Einschränkung, desto höher die Akzeptanz, wenn dafür Sicherheit und Bequemlichkeit winken.

Ein wichtiges Buch, das trotz allem Pessimismus unterhaltsam ist. Ein notwendiges Buch, das die richtigen Fragen stellt und zum Nachdenken anregt. Allerdings ist zu vermuten, dass der Zug bereits längst abgefahren ist und mit hoher Geschwindigkeit einer Zukunft entgegenrast, die sich unserer Kontrolle entzieht.