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Veröffentlicht am 11.09.2021

Wütend, kraftvoll, lebendig, einfühlsam und provokativ

Diese Frauen
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Zwei Romane von Ivy Pochoda sind bisher in der Übersetzung erhältlich. „Wonder Valley“ nimmt uns mit in eine Heiler-Kommune in der Mojave-Wüste östlich von Los Angeles, „Visitation Street“ nach Red Hook, ...

Zwei Romane von Ivy Pochoda sind bisher in der Übersetzung erhältlich. „Wonder Valley“ nimmt uns mit in eine Heiler-Kommune in der Mojave-Wüste östlich von Los Angeles, „Visitation Street“ nach Red Hook, Brooklyn/New York, in ein Arbeiterviertel im Umbruch. Nun folgt mit „Diese Frauen“ die Nummer 3, Handlungsort West Adams, ein trostloses Viertel in South Central Los Angeles. Was alle diese Romane eint, sind zum einen die Handlungsorte fernab des üblichen Großstadt-Glamours, zum anderen der Blick der Autorin auf Menschen, die zwar registriert, aber nicht wahrgenommen werden.

Im Zeitraum zwischen 1999 und 2014 treibt ein Mörder in South Central sein Unwesen. Seine Opfer: junge Frauen, die er auf der Straße aufliest. Die Polizei unternimmt nichts, ignoriert die Angehörigen, die nach Antworten suchen. Das ändert sich erst, als die Mutter eines Opfers an die Neue, Detective Perry, gerät…

„Diese Frauen. Diese Frauen, so schön und ungezähmt. Außer Kontrolle. Diese Frauen, die er mit einer Wildheit liebte, die er nicht beherrschen konnte. Mit einer Leidenschaft, die er nicht begriff. Diese Frauen, die ihn quälten und peinigten. Diese Frauen, die reizten, lockten und starben. Diese Frauen, die er liebte und hasste und zerstörte.“ (Zitat, Seite 351)

„Diese Frauen“, bereits in der Formulierung steckt die ganze Verachtung, die Geringschätzung, die man ihnen entgegenbringt. Sind doch selber schuld, wenn ihnen etwas passiert. Hätten sie sich doch nicht so aufreizend gekleidet. Wären sie doch zuhause geblieben, anstatt auf der Straße oder in Clubs anzuschaffen.

Fünf Frauen, von Pochoda in den Fokus gerückt. Fünf Frauen, denen sie eine Stimme gibt. Fünf Frauen, von der Gesellschaft ausgegrenzt. Fünf Frauen, die kein Mitleid zu erwarten haben, als wertlos angesehen werden. Fünf Leben, an denen wir teilhaben dürfen. Wütend, kraftvoll, lebendig, einfühlsam und provokativ. Zurecht für den Edgar nominiert.

Veröffentlicht am 09.09.2021

Vor Gericht und auf hoher See...

Pirlo - Gegen alle Regeln
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So schnell kann’s gehen: Dr. Anton Pirlo, eben noch bekannt aus Funk und Fernsehen, Superstar in einer Anwaltskanzlei und dann, nach acht Jahren, in denen er alles gegeben hat, mit fadenscheinigen Begründungen ...

So schnell kann’s gehen: Dr. Anton Pirlo, eben noch bekannt aus Funk und Fernsehen, Superstar in einer Anwaltskanzlei und dann, nach acht Jahren, in denen er alles gegeben hat, mit fadenscheinigen Begründungen auf die Straße gesetzt.

Leben neu sortieren, Perspektiven ausloten, weitermachen. Sollte man annehmen, aber dazu kommt es nicht, da unerwarteter Besuch in seiner Wohnung aufschlägt. Die Mutter eines ehemaligen It-Girls aus der Düsseldorfer Haute Volée bittet ihn, die Verteidigung ihrer Tochter Marlene zu übernehmen, die des Mordes an ihrem steinreichen Mann verdächtigt wird und in U-Haft sitzt.

Parallel dazu meldet sich die Vergangenheit in Form seiner beiden Brüder, die eine Riesendummheit begangen haben und nun seine Hilfe benötigen. Pirlo wurde nämlich als Ramzes Kathib in eine libanesische Familie hineingeboren, die es im Gegensatz zu ihm mit den Gesetzen nicht so genau nimmt. Sein Weg sollte das nicht sein, deshalb hat er den Namen gewechselt und ist auf die andere Seite gewechselt.

Okay, er übernimmt Marlenes Verteidigung, stellt auf Empfehlung seines alten Mentors dessen engagierte Doktorantin Sophie für die langweiligen Routinearbeiten ein und stürzt sich kopfüber in ein Abenteuer, dessen Ausgang mehr als ungewiss ist.

Ingo Bott ist nicht nur der Autor dieses Justiz-Krimis, sondern auch ein renommierter Strafverteidiger in den Bereichen Wirtschaftsstrafrecht und Compliance, weiß also, wovon er schreibt. Und das macht er gut. Interessantes Personal, verschiedene Perspektiven, die richtige Dosis Privates, Hintergrundinformationen zu Aufbau und Durchführung des Verfahrens. Allerdings gibt es auch einen Wermutstropfen. Die Argumentationen sind zwar schlüssig, aber die Auswahl an möglichen Tätern und Motiven sind sehr übersichtlich. Von daher bleibt die Spannungskurve auf einem gleichbleibenden Level, steigt im Verlauf der Handlung nicht an. Und spätestens nach der Erwähnung von Genua ist zu vermuten, in welche Richtung der Hase läuft.

Nichtsdestotrotz hat mich der erste Fall des Strafverteidigers Pirlo und seiner Assistentin Sophie so gut unterhalten, dass ich die Reihe mit Sicherheit weiterverfolgen werde.

Veröffentlicht am 06.09.2021

Aufgewärmtes

Die Wunderfrauen
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Auf den Abschluss der Wunderfrauen-Trilogie habe ich mich sehr gefreut, aber leider hat die Vorfreude schon nach wenigen Seiten einen Dämpfer erhalten. „Freiheit im Angebot“ ist meiner Meinung nach der ...

Auf den Abschluss der Wunderfrauen-Trilogie habe ich mich sehr gefreut, aber leider hat die Vorfreude schon nach wenigen Seiten einen Dämpfer erhalten. „Freiheit im Angebot“ ist meiner Meinung nach der schwächste Band der Reihe und nutzt die Möglichkeiten, die gerade diese spannende Zeit der Veränderungen bietet, noch nicht einmal in Ansätzen. Anfang der siebziger Jahre könnten die Freundinnen die Ernte einfahren, für die in der zurückliegenden Zeit der Boden bereitet wurde. Könnten, tun sie aber nicht.

Während ihre Ehe in Scherben liegt, wurstelt Luise noch immer mit ihrem Lebensmittelgeschäft herum, versucht es gegenüber den großen Supermärkten konkurrenzfähig zu halten und eine Nische zu finden, in der es überleben kann. Marie flüchtet sich nach dem Verlust ihres Mannes in die Arbeit mit ihren Pferden, Helga startet beruflich durch und verlässt die Seeklinik und Annabel erforscht die Familiengeschichte ihres Mannes.

So weit, so gut. Oder auch nicht, denn viele dieser Themen wurden bereits in den beiden Vorgängern ausführlich behandelt. So langweilen gerade in den Anfangssequenzen diese endlosen Rückblicke, die lediglich Bekanntes aufwärmen und wiederholen. Zeitgeschichtliche Bezüge sind selten, und die Nennung diverser gebräuchlicher Markenartikel schafft es auch nicht, die Atmosphäre dieser Jahre wieder aufleben zu lassen. Die Schilderungen bleiben allesamt an der Oberfläche, kreisen um Banalitäten, das Lob der Freundschaft hingegen wird in den höchsten Tönen gesungen. Aber was die persönlichen Weiterentwicklung der Protagonistinnen angeht, ihre Emanzipation, was ja gerade in diesen Jahren ein großes Thema ist…leider auch Fehlanzeige. So bleibt letztendlich ein schales Gefühl zurück, das dem guten Eindruck, den die beiden Vorgängerbände hinterlassen haben, nicht gerecht wird. Schade.

Veröffentlicht am 05.09.2021

Trost und Hoffnung

Im letzten Licht des Herbstes
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Claras Welt ist aus den Fugen geraten, seitdem ihre große Schwester nach einem Streit mit der Mutter weggelaufen ist. Seither steht sie in jeder freien Minute am Fenster und hält Ausschau nach ihr, wünscht ...

Claras Welt ist aus den Fugen geraten, seitdem ihre große Schwester nach einem Streit mit der Mutter weggelaufen ist. Seither steht sie in jeder freien Minute am Fenster und hält Ausschau nach ihr, wünscht sich nichts sehnlicher, als das sie zurückkommt. Als sie einen fremden Mann beobachtet, der, wie es scheint, sich im Haus der Nachbarin Mrs Orchard häuslich niederlässt, wird sie misstrauisch. Was hat er dort zu suchen?

Clara, der Fremde (Liam, wie sich später herausstellen wird) und Mrs Orchard, um diese drei Charaktere kreist die Handlung in Mary Lawsons „Im letzten Licht des Herbstes“ (auf der Longlist des Booker Prize 2021). Jede/r für sich hatte und hat mit widrigen Lebensumständen zu kämpfen, in der Vergangenheit und in der Gegenwart, und die Autorin lässt uns, erzählt aus deren jeweiliger Perspektive, daran teilhaben. Und die Leben dieser drei Personen sind ebenfalls miteinander verbunden.

Clara, die Siebenjährige, die sich während des Krankenhausaufenthalts von Mrs Orchard gewissenhaft um deren Katze kümmert und auch sonst alles im Griff hat. Die versucht, alles um sich herum zu kontrollieren (Stop: Eine Siebenjährige?), damit der Verlust der Schwester und die Traurigkeit sie nicht überwältigen. Mrs Orchard, die im Krankenhausbett ihr Leben Revue passieren lässt, sich schmerzhaften Erinnerungen stellt, in denen Liam eine Rolle spielt. Und schließlich Liam, die eigentliche Hauptfigur, für den der Umzug nach Solace mit unangenehmen Erinnerungen verknüpft ist, weshalb er das Städtchen auch sobald als möglich wieder verlassen möchte.

Mary Lawson erzählt die Geschichten ihrer Figuren mit unglaublich viel Empathie und Herzenswärme, auch wenn gewisse Ähnlichkeiten mit Elizabeth Strouts Olive Kitteridge Romanen nicht zu leugnen sind. Solace bedeutet Trost. Trost und Hoffnung, das ist es, was diese Menschen in ihrem Leben dringend benötigen, damit sie die Herausforderungen meistern können.

Veröffentlicht am 04.09.2021

Schwächen in der Umsetzung

Tiefer Fjord
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Die Autorin Ruth Lillegraven behandelt in ihrem Psychothriller das Thema Kindesmisshandlung mit seinen vielen Facetten und beleuchtet es aus unterschiedlichen Perspektiven.

Clara, Juristin und Politikerin, ...

Die Autorin Ruth Lillegraven behandelt in ihrem Psychothriller das Thema Kindesmisshandlung mit seinen vielen Facetten und beleuchtet es aus unterschiedlichen Perspektiven.

Clara, Juristin und Politikerin, aber auch Ehefrau und Mutter, kämpft verbissen darum, auf politischem Weg eine Gesetzesnovelle gegen Kindesmissbrauch auf den Weg zu bringen. Mit ihrem Vorhaben läuft sie gegen Wände, wird von ihren männlichen Kollegen immer wieder ausgebremst. Aber sie lässt sich von den Rückschlägen nicht entmutigen, gibt nicht auf. Ihre Mission vereinnahmt sie so sehr, dass sie ihr Familienleben vernachlässigt, nicht merkt, dass ihr die Beziehung zu Mann und Kindern entgleiten.

Haavard, Claras Mann, der liebende, engagierte Vater der beiden Kinder, hat eine Affäre mit seiner Kollegin Sabiya und arbeitet als Arzt in der Notaufnahme eines Osloer Krankenhauses. Er muss immer wieder misshandelte Kinder versorgen, die mit hässlichen Verletzungen von den Eltern eingeliefert werden. Seit geraumer Zeit führt er eine Liste mit den verdächtigen Fällen, scheut sich aber davor, die Namen an die Polizei weiterzuleiten. Doch dann geschieht im Gebetsraum der Klinik ein Mord und die Ereignisse überschlagen sich.

Gewalt gegen Kinder kann sich in vielerlei Formen äußern, das reicht von Vernachlässigung über psychischen Missbrauch bis hin zu körperlicher Misshandlung. Ein wichtiges Thema, dem zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird und das stärker in den Fokus nicht nur der medialen Aufmerksamkeit sondern auch der gesetzgebenden Institutionen rücken sollte. Von daher ist die Themenwahl der Autorin zu begrüßen. Womit ich allerdings ein Problem hatte, ist die Verknüpfung mit der Migrantenthematik. Auf der Liste der verdächtigen Fälle tauchen ausschließlich die Namen von Einwanderern auf. Das vermittelt den Eindruck, als sei Kindesmisshandlung und/oder häusliche Gewalt ein Problem, das verstärkt in diesen Bevölkerungskreisen auftritt. Und letztlich zementiert diese Sichtweise die bereits vorhandenen Vorurteile der „einfachen“ Gemüter. Dafür gibt es Punktabzug.