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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 10.08.2021

Erneut ein großartiger Wurf des Autors

Harlem Shuffle
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Dreh- und Angelpunkt der Story ist der sympathische Protagonist Ray Carney, ein Gebrauchtwarenhändler, dessen Geschäfte in letzter Zeit eher schleppend laufen. Ein Umstand, der ihm Kopfzerbrechen bereitet, ...

Dreh- und Angelpunkt der Story ist der sympathische Protagonist Ray Carney, ein Gebrauchtwarenhändler, dessen Geschäfte in letzter Zeit eher schleppend laufen. Ein Umstand, der ihm Kopfzerbrechen bereitet, da die Upper Middle Class Familie seiner Frau Elizabeth ihn eh misstrauisch beäugt. Sein Ringen um Akzeptanz, natürlich verknüpft mit materiellem Wohlstand, führt dazu, dass er sich immer wieder auf krumme Geschäfte einlässt und als Mittelsmann für Hehlerware fungiert, die ihm sein Cousin vorbei bringt. Dass das nicht ungefährlich ist, zeigt sich spätestens, als dieser sich für einen großen Coup mit dem richtig bösen Buben der Harlemer Unterwelt einlässt. Natürlich geht die Sache schief, ist aber auch ein Weckruf für Ray, der sich endlich der Machtverhältnisse bewusst wird, sich fragen muss, wie es um seine persönliche Moral bestellt ist, in welchen Abhängigkeiten er sich verfangen hat und wie seine Zukunft aussehen soll…

Colson Whitehead, der zweifache Pulitzerpreisträger (2016 für „Underground Railroad“ und 2020 für „Die Nickelboys“), nimmt uns in seinem neuen Roman „Harlem Shuffle“ mit in das New York der frühen sechziger Jahre. Das Buch schlägt einen zeitlichen Bogen von 1959 bis zu den Harlem Riots von 1964 und ist so vieles: Zuerst natürlich eine Liebeserklärung an diesen Stadtteil in Upper Manhattan, aber auch eine Familiengeschichte und ein Kriminalroman. Und zuletzt natürlich auch ein Roman über Rassismus aus der Zeit, in der die Bürgerrechtsbewegung noch in den Kinderschuhen steckt. Detailreich und liebevoll zeichnet der Autor seine Figuren und deren Leben, wirft uns hinein in das Zentrum der afroamerikanischen Kultur, zeigt ein vielschichtiges und komplexes Bild einer Epoche im Umbruch, die zaghafte Veränderung verheißt. Nicht nur ein großartiger Roman sondern auch ein Zeitzeugnis. Lesen!

Veröffentlicht am 04.08.2021

Ein Refugium ist ein sicherer Zufluchtsort

Der Erlkönig
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Von den vielen positiven Rezensionen habe ich mich dazu verleiten lassen, zu diesem Buch zu greifen. Nun bin ich aber kein Fan von Mystery- und Psychothriller, empfinde kein wohliges Gruseln und bekomme ...

Von den vielen positiven Rezensionen habe ich mich dazu verleiten lassen, zu diesem Buch zu greifen. Nun bin ich aber kein Fan von Mystery- und Psychothriller, empfinde kein wohliges Gruseln und bekomme keine Gänsehaut, wenn sich das Grauen auf leisen Pfoten anschleicht. Okay, bei Stephen King mache ich manchmal eine Ausnahme, aber dessen Stories haben in der Regel auch weitaus mehr Fleisch an den Knochen als diese hier.

So ist es kein Wunder, dass ich mich mit dem „Erlkönig“ schwergetan habe. 150 Seiten lang passiert nichts, werden lediglich Spuren ausgelegt, die dann mehr oder weniger gelungen in dieser extrem konstruiert wirkenden Geschichte verwurstet werden. Nun könnte man einwenden, dass es das Anliegen des Autors war, mit den Erwartungen der Leser:innen zu spielen, um dann am Ende das Kaninchen aus dem Hut zu zaubern. Ja klar, das tut er, aber bis es dazu kommt, muss man nicht nur eine lange sondern auch eine langweilige Durststrecke überwinden. Und vor dem Abbruch hat das Buch nur der Umstand gerettet, dass ich meine Vermutung bestätigt wissen wollte.

Auch wenn Loubry als die Krimihoffnung Frankreichs gilt und 2019 für dieses Buch mit dem Prix Cognac du meilleur roman francophone (einer der renommiertesten Krimipreise Frankreichs) ausgezeichnet wurde, konnte er mich nicht überzeugen. Zu offensichtlich waren die Hinweise, die er im Verlauf der Geschichte ausgelegt hat, zu banal die daraus gezogenen Schlussfolgerungen, zu vorhersehbar die Auflösung. Ich verstehe auch, dass man in der deutschen Übersetzung den Originaltitel „Les Refuges“ nicht beibehalten hat, denn dann wäre vielleicht noch mehr Leser:innen von Beginn an klar gewesen, in welche Richtung sich die Geschichte entwickeln wird.

Eine Frage zum Schluss. Warum ein toter Vogel auf dem Cover? Wirkt der gefiederte Freund etwa verkaufsfördernder als eine tote Katze?

Veröffentlicht am 04.08.2021

Spannung mit Schwerpunkt auf der Vergangenheit

Dein ist die Lüge
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Beim Lesen der letzten Bände der Reihe machte sich bei mir Ermüdung breit, was vor allem daran lag, dass die Handlung doch sehr vorhersehbar war und zum wiederholten Mal die immer gleichen Sitten und Gebräuche ...

Beim Lesen der letzten Bände der Reihe machte sich bei mir Ermüdung breit, was vor allem daran lag, dass die Handlung doch sehr vorhersehbar war und zum wiederholten Mal die immer gleichen Sitten und Gebräuche der Amisch thematisiert wurden.

„Dein ist die Lüge“ überrascht, denn hier verzichtet Linda Castillo auf einen Todesfall als Ausgangssituation und zeigt uns eine neue Facette von Kate Burkholder, die mit ihrer Vergangenheit in Gestalt einer alten Weggefährtin konfrontiert wird. Gina, ihre ehemalige Freundin und Mitbewohnerin aus der Zeit an der Polizeiakademie, liegt halb erfroren auf dem Grundstück der Lengachers. Adam bringt sie in Sicherheit und alarmiert Kate.

Gina erzählt von einem schief gelaufenen Einsatz mit tödlichem Ausgang, von Korruption auf höchster Ebene, ist auf der Flucht vor ihren Kollegen, die sie aus dem Weg schaffen wollen, fürchtet um ihr Leben. Kate hat ihre Zweifel, weiß sie doch aus ihrer gemeinsamen Zeit, dass diese es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt, insbesondere dann, wenn es zu ihrem eigenen Vorteil ist. Ein Katz-und-Maus Spiel beginnt, das seine besondere Dramatik durch den Blizzard erhält, der das Verlassen der Farm unmöglich macht, während Ginas Verfolger immer näher kommen und auch Adam und seine Kinder in Gefahr bringen.

Es sind verschiedene Elemente, die hier Spannung generieren. Zum einen natürlich die Frage nach Ginas Glaubwürdigkeit, zum anderen der Gewissenskonflikt, in dem sich Adam befindet, weil er sich von ihr angezogen fühlt. Wird er die Regeln der Amisch verletzen? Bringt er sich und seine Familie in Gefahr? Und dann sind da noch die Erinnerungen, die nostalgische Solidarität, die Kates Urteilsvermögen trüben könnte. Aber glücklicherweise lässt Tomasetti seine Beziehungen spielen und liefert ihr damit wichtige Hinweise für die Beurteilung der Lage, bevor es zum finalen Showdown kommt.

Veröffentlicht am 03.08.2021

Kindern erzählt man Geschichten zum Einschlafen – Erwachsenen, damit sie aufwachen

Die letzte Bibliothek der Welt
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June Jones lebt in einem kleinen Dorf in England und betreut dort seit vielen Jahren die Gemeindebücherei. Sie geht in ihrer Arbeit auf, kümmert sich hingebungsvoll um die Wünsche der Benutzer, kennt deren ...

June Jones lebt in einem kleinen Dorf in England und betreut dort seit vielen Jahren die Gemeindebücherei. Sie geht in ihrer Arbeit auf, kümmert sich hingebungsvoll um die Wünsche der Benutzer, kennt deren Eigenheiten, weiß, wem sie welches Buch empfehlen kann. Die Arbeit ist für sie mehr als der Job, den sie von ihrer verstorbenen Mutter übernommen hat, es ist ihr Leben, definiert sie, macht sie aus. Deshalb trifft es sie umso härter, als sie erfährt, dass es Pläne in der Kreisverwaltung gibt, „ihre“ Bibliothek zu schließen.

Die Bücherei ist nicht nur ihr Refugium, sie ist auch das Zentrum des öffentlichen Lebens der Gemeinde, ein Ort der Unterstützung, an dem der Einsame Zuwendung findet, die Schülerin ihre Hausaufgaben machen kann, weil sie zuhause nicht die nötige Ruhe hat, der Migrantin geholfen wird - jeder Einzelne als Stellvertreter für die Bevölkerungsgruppen, aus denen sich ein Gemeinwesen zusammensetzt. Sie ist der Mittelpunkt nicht nur von Junes Leben, sondern das Herz der Gemeinde, eine Institution, die es zu retten gilt. Das geht aber nur dann, wenn June ihr Schneckenhaus verlässt, sich der Realität stellt und gemeinsam mit ihren engagierten Benutzern für den Erhalt der Bibliothek kämpft.

„Die letzte Bibliothek der Welt“ wartet mit zahlreichen Querverweisen zu Büchern auf, die den meisten von uns bekannt sein dürften, aber vor allem ist es ein Roman über Trauerbewältigung, persönliches Wachstum, Freundschaft und Solidarität, voll mit liebenswerten und detailreich gezeichneten Charakteren. Natürlich lässt sich das eine oder andere Klischee bei Büchern diese Genres nicht vermeiden, z.B. die Love Story zwischen June und ihrem alten Schulfreund, diese sind aber nicht so penetrant in den Mittelpunkt gerückt, dass sie die eigentliche Handlung und das Anliegen der Autorin überlagern.

Ein lesenswerter Roman nicht nur für Buchaficionados. Aber vor allem sollte man dieses Buch jedem Etat-Verantwortlichen für öffentliche Bibliotheken in die Hand drücken, vor allem denjenigen, die den Nutzen einer Bücherei lediglich an Ausleihzahlen messen und meinen, permanent den Rotstift ansetzen zu müssen.

Veröffentlicht am 30.07.2021

Fremde im eigenen Land

Die Anderen
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Wenn man sich die Ausgangssituation in Laila Lalamis „Die Anderen“ anschaut, erwartet man einen Kriminalroman: Es ist Nacht, als Driss Guerraoui vor seinem Diner überfahren wird und seinen Verletzungen ...

Wenn man sich die Ausgangssituation in Laila Lalamis „Die Anderen“ anschaut, erwartet man einen Kriminalroman: Es ist Nacht, als Driss Guerraoui vor seinem Diner überfahren wird und seinen Verletzungen erliegt. Der Fahrer flüchtet unerkannt. Unfall oder Absicht, das ist die entscheidende Frage, denn der Restaurantbesitzer ist ein marokkanischer Einwanderer. Vor 35 Jahren nach Amerika gekommen, von dem Wunsch getrieben, für sich und seine Familie eine sichere Existenz zu schaffen. Hat sich dem Leben in der neuen Heimat bis zur Selbstverleugnung angepasst, muss sich aber dennoch immer wieder mit Anfeindungen auseinandersetzen, ist seinem direkten Nachbar ein Dorn im Auge. Aber würde dieser wirklich so weit gehen und ihn töten?

Lalami lässt verschiedene Personen zu Wort kommen, von denen jede/r auf die einen oder andere Weise in den Todesfall involviert ist. Sei es die Tochter des Opfers, der Nachbar, der Veteran, die ermittelnde Polizeibeamtin oder der Passant, der sich illegal im Land aufhält. Alle kommen abwechselnd zu Wort, konzentrieren sich in ihren sauber getrennten Abschnitten aber nur bedingt auf die Fahrerflucht. Wir erfahren Einzelheiten aus ihrem Leben, lernen ihre Ängste kennen, erfahren, was sie umtreibt.

Diese wechselnden Perspektiven legen entlarvend den Zustand der Gesellschaft bloß, richten den Blick auf die „anderen Amerikaner“, die in Amerika Geborenen mit Brüchen in der Biografie, die nicht dazugehören. Die polizeilichen Ermittlungen bilden zwar den Rahmen, aber dieser Plot hat mehr zu bieten. Damit hat die Autorin das Rad zwar nicht neu erfunden, aber dennoch einen Roman mit Substanz abgeliefert. Eine Familiengeschichte, ein Memoir, ein Gesellschaftsporträt, die Geschichte einer großen Liebe und ein bisschen Krimi. Sie erzählt stimmig von Aufbruch und Ankommen, Erwartungen, Enttäuschungen und Vorurteilen, von Ausgrenzung und vom Fremdsein im eigenen Land.