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Veröffentlicht am 25.01.2023

Der Weg nach Samarkand

Wo vielleicht das Leben wartet
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Die Autorin und Filmemacherin Gusel Jachina nimmt uns in ihrem neuen Roman „Wo vielleicht das Leben wartet“ mit zurück in die russische Geschichte.

Kasan, eine Stadt in der Republik Tartastan am Ufer ...

Die Autorin und Filmemacherin Gusel Jachina nimmt uns in ihrem neuen Roman „Wo vielleicht das Leben wartet“ mit zurück in die russische Geschichte.

Kasan, eine Stadt in der Republik Tartastan am Ufer der Wolga. Wir schreiben das Jahr 1923. Der Bürgerkrieg hat unzählige Opfer gefordert. Viele Kinder haben ihre Eltern verloren. Teils wurden sie getötet, teils haben sie die Kinder ihrem eigenen Schicksal überlassen, weil sie sich nicht mehr imstande sind, sie zu ernähren. Es fehlt an allem, die Lage ist aussichtslos.

Dejew, der ehemalige Rotarmist und jetzt Zugführer bei der Transportabteilung, erhält den Auftrag, 500 bis auf die Knochen abgemagerte Heimkinder im Alter zwischen zwei bis zwölf Jahren in die landwirtschaftlich geprägte Region um Samarkand zu bringen. 4200 Kilometer bis an einen Ort, wo es noch genug zu essen gibt, die Überlebenschancen besser als in der Heimat sind und wo vielleicht das Leben auf sie wartet.

Keine leicht Aufgabe, denn es liegt eine lange und entbehrungsreiche Fahrt durch schwieriges Gelände einem klapprigen Sanitätszug vor ihnen. Es fehlt an Heizmaterial für die Lok, aber auch an Proviant, Medikamenten und Kleidung, selbst Seife ist knapp, aber Not macht erfinderisch und zwischendurch gibt es auch manchmal Hilfe von unerwarteter Seite. Dejew fühlt sich für jedes einzelne Kind verantwortlich und tut alles dafür, dass diese Mission erfolgreich ist. Deshalb handelt er, wenn es die Umstände erfordern, auch gegen die Anweisungen seiner Begleiterin Belaja, einer Moskauer Kommissarin der „Kommission zur Verbesserung des Lebens der Kinder“, die die korrekte Durchführung des Transports überwachen soll und sich ihrem Auftrag und weniger sentimentalen Emotionen verpflichtet fühlt. Aber fünf Wochen sind ein langer Zeitraum, in dem sich viel verändern kann.

Der in Kasan geborenen Autorin ist mit diesem auf historischen Fakten beruhenden Roman ein eindrucksvolles, berührendes Roadmovie gelungen. Sie schreibt gegen das Vergessen an, will die dunklen Kapitel in der Geschichte ihres Heimatlandes aufzeigen. Das ist es, was all ihre Romane kennzeichnet. Dabei wechselt sie gekonnt zwischen an die Nieren gehenden realistischen Beschreibungen und zuversichtlichen, Hoffnung verbreitenden Bildern von tiefer Menschlichkeit. Und ja, man mag es kitschig nennen, aber es sind die empathisch geschilderten Einzelschicksale, die in Erinnerungen bleiben. Die Zuversicht in hoffnungsloser Lage vermitteln und die Bereitschaft zur Verständigung fördern, letzteres die Mission von Gusel Jachina.

Auf den Seiten 572 – 576 sind übrigens die Kosenamen aller Kinder aufgeführt, die nach langer Fahrt wohlbehalten ihr Ziel in Samarkand erreicht haben.

Veröffentlicht am 20.01.2023

Entstaubter Klassiker

Miss Bennet
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Wenn man Jane Austen-Fans nach ihrer Lieblingsfigur in „Stolz und Vorurteil“ fragt, wird wohl in den seltensten Fällen der Name Mary fallen. Nicht überraschend, denn die mittlere Bennet-Schwester wird ...

Wenn man Jane Austen-Fans nach ihrer Lieblingsfigur in „Stolz und Vorurteil“ fragt, wird wohl in den seltensten Fällen der Name Mary fallen. Nicht überraschend, denn die mittlere Bennet-Schwester wird von der Autorin nicht sonderlich beachtet. Ihr fällt im Wesentlichen die Aufgabe zu, die Eigenschaften ihrer vier Schwestern in das entsprechende vorteilhafte Licht zu rücken, während sie dabei im Schatten bleibt.

Auch in „Miss Bennet“ ist Mary zu Beginn unscheinbar, schüchtern, liebt ihre Bücher mehr als gesellschaftliche Verpflichtungen und rauschende Bälle. Ihre Schwestern sind mittlerweile alle verheiratet, nur sie ist übriggeblieben und das lässt sie ihre Mutter tagtäglich spüren. Noch immer ist sie diejenige, die übersehen wird, aber da sie hier als Hauptfigur aus dem Schatten tritt, zieht sie die Aufmerksamkeit der Leser auf sich. Durch Rückblicke in ihr Aufwachsen weckt die Autorin gleichzeitig Verständnis, Mitleid und Sympathie, aber auch Freude über ihr allmähliches Erwachen nach dem Tod des Vaters. Die entscheidende Zäsur in ihrem Leben, die ihr den Boden unter den Füßen wegzieht. Nicht nur, dass sie sich komplett verloren fühlt, sie muss auch ihre Heimat verlassen Aber es ist dieser Schritt ins Unbekannte, der lange verborgene Stärken zutage bringt und letztlich dafür verantwortlich ist, dass Mary ihren Platz in der Welt findet.

Ich habe den Roman sehr gerne gelesen und natürlich währenddessen auch Vergleiche mit der literarischen Vorlage angestellt. Die Autorin behält deren Ton bei, stellt aber in ihrer Neuinterpretation des Klassikers durch die Fokussierung auf Mary und deren Selbstfindung aktuelle Themen in den Mittelpunkt, die der heutigen Zeit angemessen sind. Natürlich empfehle ich den Roman allen Jane Austen-Fans, aber auch all denjenigen, die dem Bridgerton-Hype erlegen sind.

Veröffentlicht am 18.01.2023

Rasanter Pageturner

Zu wenig Zeit zum Sterben
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Nie mehr einen Fuß in ein Gerichtsgebäude setzen, das hat sich Eddie Flynn geschworen, nachdem er einen seiner Mandanten komplett falsch eingeschätzt hat. Mit verheerenden Folgen. Doch es gibt Situationen, ...

Nie mehr einen Fuß in ein Gerichtsgebäude setzen, das hat sich Eddie Flynn geschworen, nachdem er einen seiner Mandanten komplett falsch eingeschätzt hat. Mit verheerenden Folgen. Doch es gibt Situationen, in denen man alles über den Haufen werfen muss, was man sich vorgenommen hat. Vor allem dann, wenn nicht nur das eigene Leben, sondern auch das Leben eines Kindes bedroht ist.

Olek Volchek, Oberhaupt der New Yorker Bratwa, hat eine Mordanklage am Hals, und es steht außer Frage, dass er einen Schuldspruch zu erwarten hat. Ein ausgefuchster Anwalt wie Eddy könnte vielleicht das Verfahren noch drehen, aber wer will schon einen Mafioso in einem aussichtslosen Verfahren verteidigen? Volchek fackelt nicht lange, sondern beauftragt seine Männer, sich Eddy zu schnappen und eine Bombe an seinem Körper zu patzieren. Zeitgleich wird seine Tochter Amy entführt und als Druckmittel eingesetzt, denn wenn Eddy keinen Freispruch für Volchek erreicht, müssen beide sterben. Also tut er, was er tun muss und in seinem früheren Leben als Trickbetrüger gelernt hat, um das Leben seiner Tochter zu retten. Ihm bleiben 48 Stunden…

„Zu wenig Zeit zum Sterben“ ist der erste Band der Eddie-Flynn-Reihe des nordirischen Autors und Bürgerrechtsanwalts Steve Cavanagh und völlig anders aufgebaut, als wir es von den üblichen Justizthrillern à la Grisham kennen. Kaum Fakten oder langwierige Erklärungen zum amerikanischen Rechtssystem, sondern eine verzwickte Story mit hohem Tempo vom Anfang bis zum Ende. Eddy Flynn ist ein Anwalt, der um Ecken denkt, wie ein Schachspieler der Anklage immer einen Schritt voraus ist, Staatsanwälte und Zeugen mit unerwarteten Einwänden aus dem Konzept und genau dorthin bringt, wo er sie haben will. Sich nicht scheut, auch alte Kontakte zur Unterwelt zu aktivieren, wenn ihm keine andere Wahl bleibt. Dabei intelligent geplottet, durchgehend spannend und hier zusätzlich durch den Zeitfaktor voller Dramatik. Und natürlich gibt es auch jede Menge überraschende Wendungen.

Als 2015 „Zu wenig Zeit zum Sterben“ erstmals in deutscher Übersetzung erschien, ging das Buch in der Flut der Neuerscheinungen unter. Und auch „Gegen alle Regeln“, die Fortsetzung der Serie, blieb weitgehend unbeachtet. Zum Erscheinungstermin von „Thirteen“ (Bd. 4) wurde nun der gesamten Reihe ein einheitlicher, ansprechender neuer Look verpasst und der englische Originaltitel beibehalten. Eine kluge Entscheidung, wobei ich mir allerdings gewünscht hätte, dass man bei den Erscheinungsterminen der Neuauflage die Chronologie eingehalten hätte.

Veröffentlicht am 17.01.2023

Keine Bruchlandung. Im Gegenteil!

Kreiseziehen
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„Great Circle“, so der Originaltitel von Maggie Shipsteads „Kreiseziehen“: Shortlist Booker Prize 2021, Nominierung für den Women’s Prize for Fiction, Best Book of the Year von unzähligen amerikanischen ...

„Great Circle“, so der Originaltitel von Maggie Shipsteads „Kreiseziehen“: Shortlist Booker Prize 2021, Nominierung für den Women’s Prize for Fiction, Best Book of the Year von unzähligen amerikanischen und englischen Publikationen. Alle aufzuzählen würde den Rahmen sprengen. Aber worum geht es in diesem von allen Seiten hochgelobten Roman?

Hadley Baxter, eine Hollywood-Actress, die weniger wegen ihres schauspielerischen Talents als vielmehr wegen zahlreichen Skandalen in den Schlagzeilen ist, wird quasi als letzte Chance die Rolle in einem Biopic über Marian Graves angeboten. Marian Graves, Fliegerin aus Leidenschaft, in den fünfziger Jahren spurlos vom Radar verschwunden. Als erster Mensch wollte sie die Erde entlang der Längsachse von Pol zu Pol umrunden, ein waghalsiges Vorhaben, das nicht gelang. Alles, was von ihr geblieben ist, ist ihr Logbuch, das Jahrzehnte später in einer verlassenen Forschungsstation in der Antarktis entdeckt wird und das Leben einer Frau beschreibt, die seit frühester Kindheit einen Traum hatte, für den sie alles in die Waagschale geworfen hat. Eine Frau, die Vorschriften und Grenzen nicht akzeptierte, die ihren Weg trotz aller Widrigkeiten gegangen ist, ihren Traum von grenzenloser Freiheit mit allen Konsequenzen gelebt hat. Bis zum Ende.

Zwei Frauen, zwei Zeitebenen, zwei Erzählstränge. Vergangenheit und Gegenwart.

In der Vergangenheit, wesentlich umfangreicher, detaillierter und gelungener, begleiten wir Marian Graves von frühester Kindheit, hinein ins Erwachsenenalter und schließlich bis zu ihrem letzten Flug. Die Mutter tot, der Vater verschwunden, mit ihrem Bruder in prekären Verhältnissen bei einem Onkel aufgewachsen, dessen Interesse weniger den Kindern als vielmehr dem Hochprozentigen gilt. Die Bekanntschaft mit einem Kunstflieger und dessen Frau weckt in ihr den Wunsch nach Freiheit. Davonfliegen ohne Beschränkungen, alles hinter sich lassen. Und diese Abenteuerlust, dieses Verlangen, das sie ausmacht und dem sie alles unterordnet, wird zum Antrieb für ihr weiteres Leben.

Die Gegenwart gehört Hadley Baxter, die sich in der Vorbereitung auf den Film intensiv mit Marians Leben beschäftigt. Viele Punkte in deren Biografie decken sich mit Erlebnissen, aber auch mit Einschränkungen, die sie während ihres Lebens und ihrer Karriere hinnehmen musste, insbesondere in den Bereichen, in denen sie von männlichem Goodwill abhängig war.

Ich könnte noch ewig weiterschreiben, aber das würde diesem üppigen, abwechslungsreichen Roman in keinster Weise gerecht, der in seiner Stoffvielfalt so facettenreich und fesselnd, bis in die Nebenfiguren voll mit vielschichtigen, glaubhaft agierenden Charakteren und dazu noch sprachlich auf höchstem Niveau ist. Lesen. Unbedingt!

Veröffentlicht am 15.01.2023

Atmosphärischer Thriller aus dem stalinistischen Russland

Das dunkle Lied der Toten
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Winter 1952/53. In einem sibirischen Arbeitslager hoch im Norden kämpft der Milizleutnant Revol Rossel ums Überleben. Um ihn herum fordern die harten Lebensbedingungen, die Zwangsarbeit in immerwährender ...

Winter 1952/53. In einem sibirischen Arbeitslager hoch im Norden kämpft der Milizleutnant Revol Rossel ums Überleben. Um ihn herum fordern die harten Lebensbedingungen, die Zwangsarbeit in immerwährender Kälte, der Hunger und die Gewaltexzesse der Bewacher und Mitgefangenen tagtäglich Opfer. Aber Rossel, der die Belagerung von Leningrad mit- und überlebt hat, lässt sich nicht unterkriegen.

Die Verbannung in den GULAG hat er seinem mittlerweile im militärischen Geheimdienst tätigen Erzfeind Major Nikitin zu verdanken, und deshalb überrascht es ihn umso mehr, als dieser im Lager auftaucht und ihm die Freiheit anbietet. Aber sie hat ihren Preis, denn im Gegenzug soll Rossel ihn bei der Aufklärung einer besonders perfiden Mordserie in Leningrad unterstützen. Ein Unbekannter hat es auf altgediente Soldaten abgesehen, tötet sie, schneidet ihnen die Zunge heraus und platziert an deren Stelle Zettel mit Machiavelli-Zitaten. Rossel hat kaum eine Wahl, denn wenn er nicht in der Verbannung sterben will, muss er, ob er will oder nicht, den Vorschlag Nikitins annehmen. Und so beginnt die Zusammenarbeit dieser beiden in Feindschaft verbundenen Männer, in deren Verlauf unerwartete Ergebnisse zutage gefördert werden, die in das nationalsozialistische Deutschlands zurückreichen.

In „Das dunkle Lied der Toten“ schreibt Ben Creed (Pseudonym des britischen Autorenduos Chris Rickaby und Barney Thompson) die Leningrad-Trilogie fort und nimmt uns mit in das von Angst und Misstrauen geprägte stalinistische Russland mit seinen Geheimdiensten. Jeder bespitzelt jeden, niemand kann sicher sein. Die Story ist spannend und sehr komplex, ein Minimum an Kenntnis der historischen Zusammenhänge schadet nicht. Das Besondere an dieser Reihe ist aber die Dynamik, die sich aus dem Zusammenspiel zweier Protagonisten ergibt, die verschiedener nicht sein könnten. Sie haben keine Gemeinsamkeiten, scheinen aber in ihrem Willen, die Wahrheit aufzudecken, zumindest in diesem Fall am gleichen Strang zu ziehen. Sie ergänzen sich. Nikitin, bestens vernetzt, beschafft Informationen, Rossel prüft, analysiert, ordnet ein, stellt Zusammenhänge her, denen sie nachgehen. Nicht ungefährlich in einer Zeit, in der ein falsches Wort den Tod oder die lebenslange Verbannung bedeuten kann.

„Das dunkle Lied der Toten“ ist ein atmosphärischer Thriller, der am ehesten Ähnlichkeiten mit den Romanen der Leo-Demidow-Trilogie von Tom Rob Smith hat, was allerdings nicht die schlechteste Referenz ist. Allen historisch interessierten Lesern nachdrücklich empfohlen.