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Veröffentlicht am 13.05.2019

Da gibt es noch Luft nach oben

Kretische Feindschaft
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Wenn der Sommer vor der Tür steht, haben Urlaubskrimis bei deutschen Lesern Konjunktur. Sie bedienen Sehnsüchte. Sei es, weil die Handlung am zukünftigen Urlaubsziel verortet ist, oder man Erinnerungen ...

Wenn der Sommer vor der Tür steht, haben Urlaubskrimis bei deutschen Lesern Konjunktur. Sie bedienen Sehnsüchte. Sei es, weil die Handlung am zukünftigen Urlaubsziel verortet ist, oder man Erinnerungen an Gegenden zurückholen möchte, in denen man bereits schöne Urlaubstage verbracht hat. Mittlerweile deckt dieses Genre fast alle europäischen Urlaubsziele ab, in der Regel von deutschen Autoren unter jeweiligem landestypischen Pseudonym geschrieben. Ein cleverer Schachzug, soll dies doch suggerieren, dass hier jemand schreibt, der Land und Leute wie seine Westentasche kennt.

In diese Kategorie fällt auch Nikos Milonás, wobei dies das offene Pseudonym des Fernsehschaffenden Frank D. Müller ist. Dieser ist nach eigener Aussage Kreta-Kenner und schließt mit seinem Erstling „Kretische Feindschaft“ eine Lücke, denn die griechische Insel war bisher ein weißer Fleck auf der Karte der Urlaubskrimis.

Ausgangspunkt der Handlung ist der vermisste Bürgermeister von Kolymbari. Und da die Polizei vor Ort offenbar weder willens noch in der Lage ist, sich angemessen und engagiert um den Fall zu kümmern, werden Michalis Charisteas und sein Kollege Koronaios (beide Mordkommission Chania) auf Anweisung des Gouverneurs mit dem Fall betraut. Der Vermisste wird gefunden, tot. Offenbar ist er mit seinem Auto von der Straße abgekommen und einen Abhang hinabgestürzt. Fall abgeschlossen, obwohl Michalis große Zweifel an der Version der Kollegen aus Kolymbari hat, weshalb er die Ermittlungen auf eigene Faust und entgegen jeder Anweisung weiterführt. Und schnell wird ihm klar, dass dieser Fall weitaus komplexer als angenommen ist und weit in die Vergangenheit reicht.
Keine Frage, die Story ist spannend und schlüssig aufgebaut, überrascht mit unvorhersehbaren Wendungen. Hier gibt es nichts zu meckern, auch wenn zum Ende hin mir die eine oder andere Erklärung/Motivation nicht schlüssig erscheint und eher lapidar in einem Nebensatz oder gar nicht abgehandelt wird.

Die Personen haben Potenzial, wobei hier Michalis Kollege Koronaios wesentlich interessanter und mit mehr Konturen als dieser daherkommt. Die Love-Story zwischen Michalis und seiner deutschen Freundin Hannah ist unaufdringlich, hätte ich jetzt aber nicht unbedingt benötigt. Sie dient letztendlich nur dazu, die Gegensätze zwischen Kretern und Deutschen aufzuzeigen. Und damit habe ich meine Probleme, denn damit werden Vorurteile zementiert. Kretischer Schlendrian, Mauscheleien in Behörden, Vorteilnahme im Amt…und…und…und.

Chania und Umgebung als Handlungsorte, speziell die Nordküste, scheint mir nicht die beste Wahl, da dieser Teil der Insel mittlerweile viel von seinem Charme und seiner Ursprünglichkeit verloren hat. Was Kreta wirklich ausmacht, findet man eher in den abgelegenen Gegenden.

Der Autor arbeitet in seinen Beschreibungen mit sehr vielen Stereotypen, ganz so, wie der deutsche Urlauber sich die Insel und ihre Menschen vorstellt: der venezianische Hafen (zugegeben, der ist wunderschön), Meeresrauschen, Olivenhaine, wilden Thymian, Orangenbäume und, weil jeder Kreta-Urlauber zum Schluchtenwandern dorthin möchte, die Samaria. Die Kreter trinken jede Menge Frappé, Ellinikós und Raki und essen die köstlichen Gerichte ihrer Heimat (hier bekommt der deutsche Leser natürlich die Übersetzung geliefert) rauf und runter. Ein bisschen zu viel von allem, aber dennoch unterhaltsam mit guten Ansätzen.

Wie es scheint ist „Kretische Feindschaft“ der Auftakt einer Reihe mit Michalis Charisteas, dessen Entwicklung, gerade wenn man Kreta kennt und liebt, im Auge behalten sollte. Luft nach oben ist allemal.

Veröffentlicht am 08.05.2019

Ein Meisterwerk!

Das Verschwinden der Stephanie Mailer
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"Harry Quebert" habe ich verschlungen, hat dieses Buch das Genre des Kriminalromans gesprengt und im besten Sinne erweitert. Die Spannung war groß, ob der Autor nach der eher lauen „Geschichte der Baltimores“ ...

"Harry Quebert" habe ich verschlungen, hat dieses Buch das Genre des Kriminalromans gesprengt und im besten Sinne erweitert. Die Spannung war groß, ob der Autor nach der eher lauen „Geschichte der Baltimores“ mit seinem neuen Werk an alte Stärken anknüpfen könne. Und ich nehme es vorweg, ja, er kann.

Stephanie Mailer ist eine junge Journalistin, die ihre Nase in einen zwanzig Jahre alten, bereits aufgeklärten Kriminalfall steckt. Aber wenn sie sich über die Konsequenzen ihrer Nachforschungen im Klaren gewesen wäre, hätte sie das vermutlich lieber bleiben lassen.

Das hört sich zunächst simpel an, aber mit welcher Raffinesse der junge Schweizer daraus eine komplexe Geschichte strickt…davon könnte sich so mancher arrivierte Autor eine Scheibe abschneiden. Neben einer spannenden Krimihandlung, in der es neben zahllosen Verdächtigen, unerwarteten Entwicklungen und überraschenden Wendungen, beschreibt Dicker das Bild einer Kleinstadt und ihrer Bewohner, wie ich es in dieser Intensität (bezogen auf das Genre) bisher nur bei Stephen King gelesen habe.

Ein großartiger Roman, intelligent komponiert, hochspannend, brillant geschrieben, den man am liebsten in einem Rutsch lesen möchte.

Veröffentlicht am 08.05.2019

Tiefpunkt der Reihe

Nemesis
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Seit „Cupido“ habe ich sämtliche Bücher der Autorin gelesen und musste leider feststellen, dass die Qualität der einzelnen Thriller im Lauf der Reihe immer mehr abgenommen hat – wenn man denn hier überhaupt ...

Seit „Cupido“ habe ich sämtliche Bücher der Autorin gelesen und musste leider feststellen, dass die Qualität der einzelnen Thriller im Lauf der Reihe immer mehr abgenommen hat – wenn man denn hier überhaupt noch von Qualität sprechen kann. „Nemesis“ nun stellt den absoluten Tiefpunkt dar und enttäuscht auf ganzer Linie. Warum?

Die Story ist nichtssagend und ohne Tempo, an den Haaren herbeigezogen. Spannung kaum vorhanden. Die Handlung schläfert ein, zieht sich durch die vielen Nabel- und Rückschauen der Protagonistin über Gebühr in die Länge, so dass ich ganze Kapitel einfach überblättert habe. Beziehungskisten sind ok, wenn sie für den Fortgang der Geschichte relevant sind oder die Charakterisierung der Figuren unterstützen. Hier trifft nichts davon zu und dieses Bla-Bla hat nur den einen Sinn und Zweck, möglichst viele Seiten zu füllen.

Vielleicht sollte Frau Hoffman sich wieder ihrem ursprünglich gelernten Beruf zuwenden und das mit der Schreiberei sein lassen.

Veröffentlicht am 08.05.2019

Eine spannende Zeitreise in die Vergangenheit

Rheinblick
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Romane, die sich mit dem Werden der Bundesrepublik auseinandersetzen, gibt es einige. Aber kaum einer Autorin gelingt es, diese spannende Übergangszeit unterhaltsam und dennoch mit Erkenntnisgewinn für ...

Romane, die sich mit dem Werden der Bundesrepublik auseinandersetzen, gibt es einige. Aber kaum einer Autorin gelingt es, diese spannende Übergangszeit unterhaltsam und dennoch mit Erkenntnisgewinn für den Leser zu beschreiben wie Brigitte Glaser. Bewiesen hat sie das bereits mit dem 2016 erschienenen „Bühlerhöhe“, das sich mit der Nachkriegszeit unter Adenauer auseinandersetzt.

Nun also „Rheinblick“, in dessen Zentrum der SPD-Politiker Willy Brandt nach der vorgezogenen Bundestagswahl 1972 steht. Dieser Wahlsieg ist phänomenal, ein wichtiger Einschnitt in der Geschichte der BRD, weht doch damit jetzt endlich ein frischer Wind durchs Land, der auch der jungen Generation Hoffnung auf Veränderung gibt. Allerdings kann muss Brandt die Koalitionsverhandlungen aus der Hand geben, da seine überstrapazierten Stimmbänder versagt haben, was natürlich seine Einflussmöglichkeiten nachhaltig beeinflusst. Es darf und wird geklüngelt werden.

Soweit der Hintergrund, vor dem Glaser einen Roman entwickelt, der glaubwürdig das gesellschaftliche Klima dieser Zeit transportiert, gut recherchiert ist, sich aber mit Sicherheit auch aus den Erinnerungen der Autorin speist. Ich bin der gleiche Jahrgang wie Brigitte Glaser und kann mich noch gut an dieses Jahr erinnern. Zuerst die Vertrauensfrage, dann das Misstrauensvotum. Das Gefühl von „alles ist möglich“, die Aufbruchstimmung nach den Studentenunruhen, das zarte Pflänzlein der Emanzipation. Endlich ging es voran.

Das passende Zeitkolorit, die gute Charakterisierung der Personen, die Geschichte dreier Freunde und deren Irrlichtern im Dschungel der Politik, das sind die Zutaten, aus denen die Autorin mit „Rheinblick“ eine spannende Zeitreise in die Vergangenheit generiert, an der ich gerne teilgenommen habe. Bitte mehr davon!

Veröffentlicht am 07.05.2019

Ein Schlag in die Magengrube

Wo alle Lichter enden
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„Ich habe zugelassen, dass das, in was ich hineingeboren wurde, auch bestimmt hat, was aus mir geworden ist.“

Jacob McNeely macht sich keine Illusionen über seine Zukunft. Er ist ein McNeely, lebt in ...

„Ich habe zugelassen, dass das, in was ich hineingeboren wurde, auch bestimmt hat, was aus mir geworden ist.“

Jacob McNeely macht sich keine Illusionen über seine Zukunft. Er ist ein McNeely, lebt in einem abgelegen Kaff in den Appalachen, sein Vater kontrolliert in diesem Gebiet den Meth-Handel. Ein lukratives Geschäft, in das er seinen Sohn bereits früh eingebunden hat. Familie als solche existiert nicht, die drogenabhängige Mutter wurde von seinem Vater in eine Hütte im Wald verbannt, weil sie sich an seinen Vorräten vergriffen hat. Jacobs Leben ist vorgezeichnet, er weiß, dass von ihm erwartet wird, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Die Schule hat er abgebrochen und erledigt die Aufgaben, die ihm sein Vater zuweist. Auch dann, wenn sie ihm Gewissensbisse machen. Gerade mal 18 Jahre alt hat er schon resigniert, aufgegeben, wissend, dass er diesem Leben nicht entkommen wird. Fügt sich.

Der einzige Lichtblick in seinem Leben ist Maggie, seine Freundin aus Kindertagen. Er bewundert sie, ist fest davon überzeugt, dass sie es schaffen kann. Weggehen, studieren, die vorgezeichneten Pfade verlassen. Keine Option für ihn, oder etwa doch? Ein naiver Plan keimt auf, vielleicht gibt es doch noch Hoffnung für ihn, eine gemeinsame Zukunft, fernab von dem in Stein gemeißelten Lebensweg eines McNeely.

Aber so leicht kommt er nicht vom Haken, auch wenn durch ein unverhofftes Hilfsangebot von außen plötzlich die Möglichkeit besteht, dem Schicksal ein Schnäppchen zu schlagen. Doch alle Sicherheit ist trügerisch.

Joy beschreibt gnadenlos einen Weg in den Abgrund. Düster, brutal, dreckig, hoffnungslos, keine Möglichkeit des Entkommens. Obwohl Jacob seine Situation reflektiert, scheut er sich doch davor, die „richtigen“ Konsequenzen zu ziehen. Man leidet mit ihm, wünscht, dass er diesem Leben entkommt. Vergeblich. Erlösung gibt es für einen wie ihn nicht.

„Ich konnte weder vor dem fliehen, was ich war, noch vor dem, woher ich kam (…) auf jemand wie mich fiel niemals ein Licht, so viel war sicher.“

Zeile für Zeile ist „Wo alle Lichter enden“ ein Schlag in die Magengrube, und David Joy reiht sich mit diesem Erstling nahtlos in die Linie der Grit Lit-Autoren ein: Woodrell, Pollock, Brown, Crews. Und das ist absolut als Kompliment gemeint.