Nachtschwärmer
23 Uhr 12 – Menschen in einer Nacht„23 Uhr 12. Eine Autobahntankstelle in einer Sommernacht. Wenn man das Pferd mitrechnet, die Leiche aber nicht, sind zu diesem Zeitpunkt dreizehn Personen vor Ort (…)Wenn man die Leichen noch immer ausnimmt, ...
„23 Uhr 12. Eine Autobahntankstelle in einer Sommernacht. Wenn man das Pferd mitrechnet, die Leiche aber nicht, sind zu diesem Zeitpunkt dreizehn Personen vor Ort (…)Wenn man die Leichen noch immer ausnimmt, das Pferd aber mitzählt, sind zu genau diesem Zeitpunkt nur noch zehn Personen vor Ort. Es ist 23 Uhr 14 (…) Hier ist man nur auf der Durchreise.“
So Anfang und Ende in Adeline Dieudonnés neuem Roman in zwölf Geschichten „23 Uhr 12“, in dem wir in einer kurzen Momentaufnahme das Leben von Menschen streifen, die sich in der Nacht auf einem Rastplatz in den Ardennen begegnen. Die Szenerie wirkt wie aus der Zeit gefallen. Schatten, die das Neonlicht wirft, der Geruch nach Benzin und Auspuffgasen, die Geräusche der vorbeifahrenden Autos, alles bloß Kulisse für die kurze Unterbrechung, den Stopp in einer Welt zwischen Vorher und Nachher, in der jede/r seine eigene Geschichte im Gepäck hat. Zwei Minuten, die zur Ewigkeit werden.
Wie bereits in „Das wirkliche Leben“ brilliert Dieudonné einmal mehr mit ihrer Kompromisslosigkeit. Mit harter, direkter Sprache und einem gnadenlos entlarvenden Blick, mit groben Strichen beschreibt sie die Personen und deren Beziehungen, Eigenheiten, Obsessionen, Triebe und Ängste und schaut in die Abgründe der menschlichen Seele. Das wirkt stellenweise skurril und absurd, wirkt aber auch schockierend und verstörend. Dennoch gelingt es ihr trotz der Kürze tief in die einzelnen Schicksale einzutauchen und kompromisslos die Einsamkeit der Menschen und die kaum auszuhaltende Leere in deren Leben aufzuzeigen.
Ein kleiner großer Roman, trostlos, aber auch melancholisch, bei dem ich während des Lesens ständig „Nighthawks“, das bekannteste Gemälde Edward Hoppers, vor Augen hatte. Lesen!