Sieben Frauen und ein Anwesen
Männer sterben bei uns nicht„Ich war von klein auf dazu erzogen worden, mir und anderen Mädchen und Frauen nicht zu glauben, an meiner und der Geschichte jeder Einzelnen zu zweifeln, weil nur so die große Geschichte im Dunkeln blieb.“
Es ...
„Ich war von klein auf dazu erzogen worden, mir und anderen Mädchen und Frauen nicht zu glauben, an meiner und der Geschichte jeder Einzelnen zu zweifeln, weil nur so die große Geschichte im Dunkeln blieb.“
Es ist der Tag der Beerdigung ihrer Großmutter, der bisherigen Herrin des Anwesens, das Luise nun erben soll. Alle Frauen, die auf dem Anwesen gelebt hatten, versammeln sich am Sarg der Toten, um sie zu betrauern. Die Enkelin Luise und ihre ältere Schwester Leni. Luises Mutter und deren Mutter: Großmutter Vera. Marianna, die Tochter, und deren eigene Tochter: Olga. Auch Justyna, die Haushälterin ist anwesend. Etwas später stößt Luises Großtante dazu, von deren Existenz Luise erst vor ein paar Tagen erfuhr. Männer sind keine anwesend, denn Männer haben auf dem Anwesen keine gelebt – jedenfalls nicht seit Luise sich erinnern kann. Nur das fünfte, unbewohnte und abgeschlossene Haus auf dem Anwesen erinnert an deren Existenz. Und sie kommen auch nur in den Erzählungen der Frauen vor. „Wie wenig meine Mutter sich hier zu Hause gefühlt hatte, wollte ich nie wirklich wahrhaben, doch jetzt erkannte ich, dass es für uns alle unmöglich war, hier zu Hause zu sein, selbst für meine Großmutter war es unmöglich. Vielleicht waren sie und ich, anders als die anderen, nur in den Wunschvorstellungen zu Hause gewesen, vielleicht war ich deswegen die Auserwählte, weil ich an diesem Glauben festgehalten, weil ich ihn noch nicht aufgegeben hatte, ihn nicht aufgeben wollte.“
Die Geschehnisse auf der Beerdigung werden immer wieder von Rückblenden aus der Vergangenheit der Ich-Erzählerin unterbrochen. In diesen Rückblenden erleben wir zusammen mit Lusie wie sie zum ersten Mal die Leiche einer jungen Frau im See findet, ein Jahr später die zweite Selbstmörderin in demselben See. Zwei sehr einschneidende Erlebnisse in Luises Kindheit. Weitere Erinnerungssequenzen folgen, in denen das Verhältnis der Ich-Erzählerin zu den Mädchen und Frauen, die eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielten, beleuchtet wird, allen voran das Verhältnis zur Schwester, zur Mutter und zu der verstorbenen Großmutter väterlicherseits – einfach Großmutter genannt. In all diesen Erinnerungsstücken geht es vor allem um Gefühle. Ein Anwesen, auf dem nur Frauen leben und die Frau als Verkörperung der Gefühle – da würde man als Leser*in meinen, dass davon viele in Erscheinung treten – doch das Gegenteil ist der Fall: „Meine Mutter vermied Gefühle, Marianna wollte sie besiegen, Olga verkleidete sie, bis sie ihr nicht mehr ähnlich sahen, und Großmutter Vera betäubte sie. Gefühle machten einsam – das war eine der großen Lektionen meiner Kindheit, und daran hatte sich nichts geändert, auch heute nicht.“ Sind die Männer – allen voran Luises Vater und ihr Großvater – verantwortlich für das Leben der Frauen, die Gefühle stets negierten und den Geschichten anderer Frauen skeptisch gegenüber standen? Wir wissen es nicht. Doch mit Sicherheit lässt sich sagen, dass sie eine Stärke entwickelten, die nur dem Tod nicht standhalten konnte.
Annika Reich legt uns mit „Männer sterben bei uns nicht“ ein äußerst dichtes Stück Literatur vor, in das ich gerne versunken bin – es hat eine unwiderstehliche Anziehungskraft von der ersten bis zur letzten Seite auf mich ausgeübt. Es hält sich nicht mit Nebensächlichkeiten auf, sondern versucht stets das in der Tiefe Liegende zu ergründen. Vielleicht war es gerade durch das Fehlen von männlichen Figuren, was den Roman so dicht und unergründlich machte. Die weitreichende Introspektion der Ich-Erzählerin lässt uns voller Ehrfurcht erschauern. „Ich hatte mit all diesen Frauen nichts zu tun, mit den toten nicht und mit den ausgestoßenen nicht, mit den verschwundenen nicht und den herabgewürdigten nicht. Ich konnte sie nicht retten, ich konnte ihnen nicht zur Seite stehen. Ich ließ mir keine weitere tote Frau andichten. Ich musste ihre Geschichte nicht erzählen, ich schuldete niemandem irgendetwas. […] Ich war meine Großmutter.“
Wer einen tiefgründigen Roman sucht, der nicht beschwert, ist mit „Männer sterben bei uns nicht“ bestens beraten. Ich habe ihn nicht aus der Hand legen können und war wie betäubt beim Lesen. Nur ein paar inhaltliche Ungereimtheiten haben mein Leseerlebnis ein wenig getrübt, weswegen ich nur vier Sterne vergebe. Ansonsten wünsche ich mir persönlich viel mehr solcher Romane auf dem Büchermarkt!