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Veröffentlicht am 02.09.2021

Geschwisterliebe

Die letzten Romantiker
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„Die größte Poesie und das, was jeden von uns zum Poeten macht, sind die Geschichten, die wir über uns selbst erzählen. Sie basieren auf unseren Familien und Blutsbanden, auf Freunden und Geliebten, auf ...

„Die größte Poesie und das, was jeden von uns zum Poeten macht, sind die Geschichten, die wir über uns selbst erzählen. Sie basieren auf unseren Familien und Blutsbanden, auf Freunden und Geliebten, auf Hass und dem, was wir gelesen, beobachtet und miterlebt haben. Auf Sehnsüchten und Reue, Krankheit, gebrochenen Knochen und Herzen, Leistungen, Geldgewinn und -verlust, Handlesungen und Visionen. Wir erzählen diese Geschichten, bis wir sie selbst und bis wir an uns selbst glauben, und das ist das Mächtigste, was es gibt.“

Im Jahr 2079 ist Fiona Skinner 102 Jahre alt, sie ist eine berühmte, angesehene Lyrikerin und befindet sich auf einer ihrer seltenen Lesungen. Eine junge Frau im Publikum trägt denselben Namen wie die Figur eines von Fionas Liebesgedichten: Luna. Diese junge Frau möchte mehr über den Hintergrund des Gedichts erfahren, was dazu führt, dass Fiona sie (und gleichsam uns Leser) in ihre Vergangenheit mitnimmt und aus ihrem bewegten Leben erzählt.

Fiona ist vier Jahre alt, als sie und ihre drei Geschwister Renee (11 Jahre alt), Caroline (8 Jahre alt) und Joe (7 Jahre alt) ihren Vater verlieren, der im Alter von 34 Jahren einen Herzstillstand erleidet. Die Mutter Antonia, von allen Noni genannt, verfällt kurz danach in eine schwere Depression und schließt sich in ihrem Schlafzimmer ein, aus dem sie nur selten herauskommt. „Als wir älter waren, sprachen wir von dieser Zeit als der »Großen Pause«, aber damals hatten wir keine Worte dafür. Wir taten so, als sei alles in Ordnung, und versicherten einander, es werde schnell vorübergehen. Wir mussten einfach abwarten, bis Noni sich genug ausgeruht hatte. Wir mussten uns gedulden, bis sie zurückkehrte.“

Die »Große Pause«, die zwei bis drei Jahre dauerte, sollte die vier Kinder auf besondere Weise kennzeichnen. Renee übernahm die Verantwortung für ihre drei Geschwister, Caroline litt bis in ihre Zwanziger an Albträumen und Fiona flüchtete sich so oft es ging in ihre Bücher- und Traumwelten. Welche Wunden, die vier Kinder von der »Großen Pause« davongetragen haben, sollte sich erst im weiteren Verlauf ihres Lebens offenbaren. Gerade bei Joe, dem nun einzigen Mann im Haus, der mit seinem außergewöhnlichen Talent für’s Baseballspiel zum Hoffnungsträger und zur zentralen Figur in der Familie werden sollte, sind die Auswirkungen der »Große Pause« am schwierigsten zu benennen. Vor allem Fiona liebt ihren Bruder abgöttisch, aber auch außerhalb der eigenen vier Wände fliegen Joe die Herzen aller Menschen zu. Ohne größere Anstrengungen kommt er zu Geld, Liebe und Ansehen. Dass er von allen vier Geschwistern am meisten unter dem frühen Verlust des Vaters leidet, erfahren die drei Schwestern erst nach und nach. „Joe hatte Glück gehabt, und sein Charme, sein gutes Aussehen und seine Ausdrucksweise hatten ihn eine Zeit lang wie jemanden aussehen lassen, der am richtigen Platz war, aber etwas fehlte ihm. Nur was? […] In dessen Innerstem ein Gefühl von Verlust vorherrschte, und aus irgendwelchen Gründen […] war dieses Gefühl von Leere zum Kern seines Wesens geworden.“ Im Laufe der Geschichte wird deutlich, dass es auf ein Unglück, eine Tragödie in Bezug auf Joe hinausläuft. Wie sich diese Tragödie äußert und was im Laufe der Zeit aus ihr erwächst, wird uns von Fiona und ihren Schwestern Renee und Caroline erzählt. „Heute glaube ich, dass es Dinge gibt, die unvermeidlich sind. Nicht im Sinne von Schicksal, denn ich habe nie an etwas anderes als mich selbst geglaubt, vielmehr im Sinne der menschlichen Möglichkeiten. Es gibt Menschen, die wieder und wieder zerstören, was sie am meisten schätzen. Als so jemanden sah ich meinen Bruder.“

Tara Conklin hat mit ihrem Roman „Die letzten Romantiker“ ein außergewöhnliches Werk geschaffen, das ein Bild einer Geschwisterliebe zeichnet, das in seiner Komplexität seinergleichen sucht. Gerade zu Anfang des Romans, als die Kindheit der vier Geschwister, insbesondere während der »Großen Pause«, beschrieben wird – ihr Zusammenhalt, ihre gegenseitige Unterstützung und bedingungslose Liebe zueinander – war ich wie verzaubert. Hinzukommt der kindlich-verklärte Blick der erzählenden Fiona. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte dieser Teil des Romans ausgebauter sein können. Doch natürlich geht es nicht nur darum, wie die Kinder die schwierige Zeit verlebt haben, sondern auch welche prägende Auswirkung diese Phase auf die vier Einzelpersonen hatte und wie sich ihr Leben unter solchen Voraussetzungen weiter entwickelte. Es gibt zudem mehrere Rückbländen auf die Kindheit, was zu tieferem Verständnis einiger damaliger Geschehnisse führt. Zentral bleibt in dem Roman weiterhin die Geschwisterliebe, die jedoch stetigem Wandel unterworfen ist. Es gibt Streitereien, Missverständnisse, Jahre des Stillschweigens, doch letztendlich siegt das Für- und Miteinander, was die Geschichte zu einer bereichernden und bewegenden Lektüre für jedermann macht. „Es war falsch Ihnen zu sagen, in dieser Geschichte gehe es um das Scheitern der Liebe. Nein, es geht um echte Liebe, wahre Liebe. Unvollkommene, jämmerliche, zaghafte Liebe. Dies ist kein Märchen, keine Lyrik. Es geht um Kompromisse, die wir im Namen der Liebe eingehen. Jeden Tag ringen wir um Wntscheidungen darüber, was wir loslassen und was wir festhalten, und jeden Tag müssen wir mit den Konsequenzen dieser Entscheidungen leben.“

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Veröffentlicht am 24.08.2021

Beziehungen

Der Panzer des Hummers
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Der Roman „Der Panzer des Hummers“ erzählt von einer Familie, die mit dem Tod der Eltern ihren gemeinsamen Kern verloren und sich auseinandergelebt hat. Während fünf Tagen im April lernen wir die drei ...

Der Roman „Der Panzer des Hummers“ erzählt von einer Familie, die mit dem Tod der Eltern ihren gemeinsamen Kern verloren und sich auseinandergelebt hat. Während fünf Tagen im April lernen wir die drei Geschwister Ea, Sidsel und Niels Gabel kennen. Ea, die Älteste, lebt mit ihrem Freund Hector und dessen Tochter Coco in San Francisco zusammen. Sie versucht mithilfe einer Seherin Kontakt zur verstorbenen Mutter aufzunehmen. Die Seherin Beatrice sowie ihre Tochter Seraphina, kurz Fifi genannt, sowie Charlotte, die Mutter der drei Geschwister Gabel kommen im Roman ebenfalls zu Wort. Während die Passagen, die Beatrice gewidmet sind, oftmals lustig und etwas skurril sind, sind die Textstellen, in denen wir in Charlottes Welt eintauchen melancholisch, verträumt und rätselhaft. Sidsel, die Zweitälteste, ist alleinerziehende Mutter einer fünfjährigen Tochter und arbeitet als Kuratorin in einem Kopenhagener Museum. Sie ist eine bodenständige Frau, die fest im Leben steht und sich nur selten Träumereien hingibt. Niels, der Jüngste, schlägt sich als Plakatierer durch. Er ist ein richtiger Freigeist, der sich nicht binden lassen möchte – weder an eine Person noch an einen Ort.

Wie die dänische Autorin Caroline Albertine Minor selbst über ihren Roman sagt, ist „Der Panzer des Hummers“ „eine Geschichte über die regenerierende Macht bedingungsloser Liebe und die manchmal irreperablen Folgen eines Vertrauensbruchs zwischen Eltern und Kind“. Caroline Albertine Minor hat den Roman mit Themen gefüllt, die sie interessieren: „Elternsein, Gleichzeitigkeit, die Vorstellung über den Tod und das Leben danach. Der Wunsch nach einer Beziehung, die Unmöglichkeit einer Beziehung.“ Die Idee zu ihrem Roman entstand während eines Vortrags, in dem es darum ging, dass man eine Gesellschaft anhand dessen, wie sie drei verschiedene Personentypen – den Fremden, den Vaterlosen und die Witwe – behandelt, ein bestimmtes Bild von sich transprotiere. Aus der Überlegung, diese drei Figuren als „lebendige, vollwertige Charaktere“ zu porträtieren, entstand das Grundgerüst für „Der Panzer des Hummers“. Die spirituellen Elemente, die zusätzlich hinzukommen, runden die Alltäglichkeit des Romangeschehens ab und bringen uns zu der Essenz der Geschichte: „Ich glaube, das ist es, was ich mit meinem Roman vermitteln wollte – dass diese verschiedenen Ebenen nahtlos ineinander übergehen.“ Caroline Albertine Minor hat mit „Der Panzer des Hummers“ einen vielschichtigen Roman geschaffen, den eine schöne, originelle Sprache und interessante Figuren auszeichnen, in deren Welten man gerne eintaucht. Da der Roman letztendlich aber bei mir persönlich keinen prägenden Eindruck hinterlassen hat, vergebe ich nur drei Sterne für das Werk.

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Veröffentlicht am 15.07.2021

Dunkle, intensive Tiefe

Auszeit
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„Es kommt mir vor, als würden sich im Leben der allermeisten Menschen die Dinge einfach irgendwie fügen. Nicht zwangsläufig zum Guten, aber sie fügen sich eben, das heißt, sie haben eine gewisse innere ...

„Es kommt mir vor, als würden sich im Leben der allermeisten Menschen die Dinge einfach irgendwie fügen. Nicht zwangsläufig zum Guten, aber sie fügen sich eben, das heißt, sie haben eine gewisse innere Logik, einen Zusammenhang. Nur mein Leben erscheint mir komplett zufällig, wie eine kaum zu bewältigende Leere, eine Fläche, in die ich dringend einen Pfosten einschlagen muss, bevor es zu spät ist.“

Henriette promoviert seit längerem an der Uni, sie schreibt an einer Kulturgeschichte über den Werwolf im internationalen Vergleich. Eigentlich wollte sie nie promovieren, aber „dann habe ich mit allem so lange gebraucht, dass es mir als das einzig Sinnvolle erschien, weiterzumachen.“ Doch sie kommt nicht weiter, Henriettes Leben befindet sich in einem Zustand der Stagnation. „Mir fehlt auf elementare Weise der innere Antrieb. Meine ganze Energie wandert in Gedanken, die nichts mit der Realität zu tun haben. Ich verbringe Stunden damit, Dinge zu planen, die ich genauso gut einfach tun könnte. Mir fällt zu viel zu den falschen Dingen ein.“ Als Henriette ungewollt schwanger wird, hat sie das Gefühl, mithilfe dieses Kindes aus ihrer Depression herauszukommen. „Etwas daran machte mich stolz, es riss mich aus meiner Beliebigkeit, gab mir ein Gefühl der Verantwortung. […] Das Kind […] fügte der Situation einen weiteren Jemand hinzu, der etwas mit mir machen, der mich von außen bearbeiten und mir etwas vorgeben würde.“ Doch als sie den Vater des Kindes über ihre Schwangerschaft in Kenntnis setzt und dieser sie fortan mit Nachrichten bombardiert, kippt Henriettes innere Einstellung ins Entgegengesetzte. Sie entscheidet sich für eine Abtreibung: „Ich fühlte mich stark, auf eine neue, dunkle Weise, ich hatte eine Entscheidung gegen die Natur getroffen, gegen meine Natur. Ich hatte, so fühlte ich mich in diesem Moment, zum ersten Mal in den Lauf der Dinge auf eine Weise eingegriffen, die relevant war. Ich würde ich Zukunft spüren, wo ich anfing und wo ich aufhörte, weil ich, vielleicht zum ersten Mal, wirklich eine Grenze überschritten hatte.“ Doch Henriette soll sich irren, nach der vorgenommenen Abtreibung fällt sie in eine noch dunklere Tiefe als zuvor. Henriettes beste Freundin, Paula, überredet sie zu ein paar Tagen in einer Hütte im bayrischen Wald. Dort stellt sich Henriette ihrer eigenen persönlichen Wahrheit.

Hannah Lühmann ist es mit ihrem kurzen, sehr intensivem Roman gelungen, ein wahrhaftes Bild des psychischen Zustandes einer Frau, die eine Abtreibung vorgenommen hat, zu zeichnen. In nur wenigen Sätzen bringt sie die Trauer und die Unmöglichkeit zur Trauer einer solchen Frau zum Ausdruck. „Um das Kind kann ich in zweifacher Hinsicht nicht trauern: weil ich es getötet habe. Es wäre eine selbstgerechte Trauer, die das Betrauerte verlacht. Und, aber dieser Grund wiegt weniger schwer: weil ich es nicht kannte, das Kind.“ Die Leserin taucht ein in die dunkelste Tiefe einer Frau, die es geben kann. Und es gelingt ihr das fast Unmögliche: Auch jede Frau, die niemals in ihrem Leben abgetrieben hat, ist im Stande zu verstehen, was es bedeutet und was es mit einem macht. Hannah Lühmann ist ohne Zweifel eine große Schriftstellerin, die uns in psychologische Tiefen mitreißt und uns am Ende wieder völlig unerwartet an die Oberfläche rauswirft. Atemlos, bewegt, geläutert. Lediglich das abrupte Romanende mit seinem Abschluss hat mich nicht vollkommen überzeugt. Nur deswegen vergebe ich keine volle Sternebewertung.

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Veröffentlicht am 12.07.2021

Drei Generationen – drei unterschiedliche Lebensmodelle

Wildtriebe
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Lisbeth ist auf dem Bethches-Hof großgeworden. Als ihre beiden Brüder im Krieg fallen, übernimmt sie den Hof der Eltern. Damit ist sie eine der wenigen Frauen, bei der von Anfang an klar war, dass man ...

Lisbeth ist auf dem Bethches-Hof großgeworden. Als ihre beiden Brüder im Krieg fallen, übernimmt sie den Hof der Eltern. Damit ist sie eine der wenigen Frauen, bei der von Anfang an klar war, dass man sie nicht zu sich holen, sondern nur auf deren Hof einheiraten konnte. Eines Tages findet sich dieser Mann: Karl. Zusammen mit ihm kümmert sie sich um den Hof, die Tiere und Felder. Mit der Zeit kommen Veränderungen: Moderne Maschinen, moderne Geräte, Spezialisierung. Doch die Trachtenkleidung behält Lisbeth bei und ihren Fleiß. Und nicht zuletzt auch ihre Genügsamkeit: „Nie hatte Lisbeth Sehnsucht verspürt, irgendwo anders zu sein.“

Als Frau von Lisbeths einzigem Sohn, Konrad, kommt Marlies auf den Hof. Und sie hat ganz andere Vorstellungen vom Leben und ihrer Rolle als Frau und Schwiegertochter. Sie möchte nicht nur auf dem Hof helfen, sondern auch in einem Kaufhaus als Verkäuferin arbeiten. Da sie nicht weiß, ob sie Mutter werden möchte, nimmt sie die Pille. Nur durch Zufall wird sie schwanger und bekommt ihr einziges Kind: Joanna. Zeitlebens lässt sie sich in keine vorgefärtigten Formen drücken. Sie macht als einzige Frau in der Gegend einen Jagdschein, sie geht arbeiten, macht ihren Führerschein und verlässt den Hof, als sie ihre Aufgabe als Mutter für abgeschlossen hält. „Es war bloß ein Anfang. Von was, wusste sie nicht. Aber es war vielleicht auch nicht so wichtig.“

Joanna, die auf dem Bethches Hof aufwächst, liebt Tiere, interessiert sich für die Landwirtschaft und hilft gerne auf dem Hof mit. Doch auch die Bildung kommt nicht zu kurz, weil Marlies viel daran liegt. Doch mit achtzehn entscheidet sie sich für ein Jahr nach Afrika zu gehen. Als sie zurückkommt, fängt sie ein Studium an. Als sie unerwartet schwanger wird, entscheidet sie sich entgegen der Ratschläge ihrer Mutter, dafür, das Kind zu behalten und ohne Vater großzuziehen.

„Wildtriebe“ ist ein schöner, atmosphärischer Roman. Anhand dreier Generationen werden uns drei unterschiedliche Lebensmodelle dargestellt. Wir sehen eine Frau, die der Tradition verbunden ist, die eine bestimmte Aufgabe übernimmt, ohne sie zu hinterfragen, und diese bis an ihr Lebensende gewissenhaft ausführt. Dann sehen wir eine weitere Frau, die in einer Zeit aufwächst, in der die Frau nach mehr Selbstbestimmung verlangt, die arbeiten geht und selbst über ihr Sexualleben entscheidet. Und wir sehen eine dritte Frau, die ganz alleine entscheiden kann, was sie in und mit ihrem Leben machen möchte, die ins Ausland geht, dann studiert und ganz selbstverständlich ein Kind als alleinerziehende Mutter großziehen kann. Abwechselnd schlüpfen wir in Lisbeths und Marlies Innenleben. Oftmals bekommen wir bestimmte Ereignisse und Situationen von beiden Seiten geschildert, sodass wir problemlos beide Sichtweisen nachvollziehen können. Und wir beurteilen nicht. Denn Ute Mank ist es gelungen zwei Frauensichtweisen, zwei Innenleben so direkt und unverfälscht einzufangen, dass überhaupt kein Platz für Bewertungen und Urteile bleibt. Kann man denn überhaupt eine dieser drei Frauen in irgendeiner Form verurteilen?

Mit viel Menschenkenntnis und Feingefühl zeichnet die Autorin ein authentisches Bild einer Familie über Jahrzehnte hinweg. Auch viel Spezialwissen zum Leben auf dem Land wird weitergegeben. Ich kann den Roman „Wildtriebe“ jedem nur aufs wärmste ans Herz legen. Seit langem habe ich keinen Roman gelesen, der so viel Tiefgang mit einer derartigen Leichtigkeit verbindet, dass weder Verstand noch Gefühl zu kurz kommt. Einen Roman, der so mühelos und doch so kontemplativ daherkommt.

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Veröffentlicht am 20.06.2021

Eine Familiengeschichte vor dem Hintergrund der Kolonialzeit

Dein ist das Reich
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„Wie viele andere hatte ich das familiäre Kreisen um eine Vergangenheit satt, die nie greifbar wurde. Eine Vergangenheit, die wie ein Geisterschiff aus einem opaken Nebel auftauchte, kaum dass die Familie ...

„Wie viele andere hatte ich das familiäre Kreisen um eine Vergangenheit satt, die nie greifbar wurde. Eine Vergangenheit, die wie ein Geisterschiff aus einem opaken Nebel auftauchte, kaum dass die Familie versammelt war.“

Fiktive Literatur, die sich mit der deutschen Kolonialgeschichte befasst, ist äußerst rar. Umso gespannter war ich auf Katharina Döblers Roman „Dein ist das Reich“. Bereits das Buchcover ist ein wahrer Blickfang: Vor schwarzem Hintergrund sieht man blaulilaschillernde Palmenblätter. Es lässt erahnen: Die deutsche Kolonialgeschichte ist ebenso dunkel wie schillernd. Dazu kommt der ausgeklügelte Titel. „Dein ist das Reich“ – ein Zitat aus dem Vaterunser, übertragen auf die deutschen Missionare, die das Wort Gottes den „unzivilisierten“ Völkern brachten und gleichzeitig deren Reich zu ihrem eigenen machten, von der Arbeitskraft der „Wilden“ und der Flora profitierten.

Bei „Dein ist das Reich“ handelt es sich um Autofiktion. An den Anfang des Buches ist ein Familienstammbaum gesetzt worden. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen die Großeltern der Erzählerin, die gleichzeitig die Autorin ist. Wie man der Danksagung der Autorin am Ende des Romans entnehmen kann, sind zumindest die Namen geändert worden. Die Erzählerin spricht in Ich-Form, erzählt aus ihren Erinnerungen, die insbesondere um ihre Großeltern väterlicherseits, Marie und Heiner, und die Großmutter mütterlicherseits, Linette, (der Großvater mütterlicherseits, Johann, ist Ende des Zweiten Weltkrieges gestorben) kreisen. Das meiste erfährt sie von Linette, die ihrer Enkelin viel erzählt – doch sind diese Erzählungen oftmals von Ort und Zeit entkoppelt, sodass die Zuhörerin erst mit der Zeit das Erzählte in einen Kontext zu stellen vermag. Die Erzählerin geht folgendermaßen vor: Sie greift auf eine Erinnerung aus ihrer Kindheit, Jugend oder Erwachsenenzeit zurück, beschreibt ein Bild aus dem Familienalbum, um so dann in die Zeit der Fotoentstehung überzuleiten – dabei wird die Ich-Erzählerin von einem personalen Erzähler abgelöst, der abwechselnd aus Maries, Heiners, Linettes und Johanns Perspektive berichtet. Wie viel auf Fakten und Erzählungen beruht und wie viel der Phantasie der Autorin entsprungen ist, bleibt dabei ungewiss. Vieles dürfte auf der Vorstellungskraft der Autorin beruhen. Deshalb ist „Dein ist das Reich“ auch als Roman angelegt und als solcher auch zu verstehen. Die einzelnen Figuren zeichnet Katharina Döbler authentisch und lebensecht. Sie sind greifbar, menschlich und charakteristisch, sodass man als Leser leicht in ihre Perspektiven eintaucht. Weniger greifbar bleibt dabei der Kontext des Kolonialismus, zu sehr bleiben die Einheimischen von Papua-Neuguinea – damals in die drei Zonen Holländisch-Neuguinea, Britisch-Neuguinea und Kaiser-Wilhelms-Land aufgeteilt – im Hintergrund. Natürlich ist es schwer von Geschehen zu erzählen, die man nicht selbst miterlebt hat. Doch auch für mich als Leserin war es ein zähes Unterfangen, in die Geschichte einzutauchen und dem Geschehen zu folgen. Erschwert wurde es mir zusätzlich durch fehlende Anführungszeichen bei direkter Rede. Höchste Konzentration ist bei diesem Buch geboten, die mir stellenweise gefehlt hat, weshalb „Dein ist das Reich“ zu einer zähen Lektüre für mich wurde. Nichtsdestortrotz bewundere ich die Autorin sehr dafür, dass sie ein derartig schwieriges Unterfangen unternommen und zu Ende geführt hat. Dafür gebührt der Autorin der allerhöchste Respekt und vielleicht werde ich den Roman bei einer zweiten Lektüre in der Zukunft mehr genießen können.

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