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Veröffentlicht am 03.10.2019

Schicksal oder glückliche Fügung?

Glückskind
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Seit ihn seine Familie verlassen hatte, ging es mit Hans nur noch bergab. Arbeitslos, ungepflegt und ohne Perspektive verbringt er die Tage untätig in seiner verdreckten Wohnung. Als er sich eines Tages ...

Seit ihn seine Familie verlassen hatte, ging es mit Hans nur noch bergab. Arbeitslos, ungepflegt und ohne Perspektive verbringt er die Tage untätig in seiner verdreckten Wohnung. Als er sich eines Tages dazu aufrafft, endlich seinen Unrat raus zu bringen, findet er in der Mülltonne ein Baby. Er nimmt es mit in seine Wohnung und beschließt, das winzige Mädchen zu behalten und für es zu sorgen. Keine leichte Aufgabe für einen Mann Mitte fünfzig. Unerwartete Hilfe erhält er von seinen Flurnachbarn, einem persischen Ehepaar, mit denen er bisher keinen Kontakt hatte, und vom Inhaber des Kiosks gegenüber. Die vier Menschen werden Freunde, sind nun eine verschworene Gemeinschaft, bis sie erfahren, dass die Mutter des Kindes wegen Mordes angeklagt wird. Was tun? Jetzt stecken sie in einer moralischen Zwangslage – die kleine Felizia, wie sie sie in der Zwischenzeit nennen, behalten - oder einer Mutter ausliefern, die sie los werden wollte?

Der Autor Steven Uhly wurde 1964 in Köln geboren, ist deutsch-bengalischer Abstammung und durch seinen Stiefvater auch in der spanischen Kultur verwurzelt. Er studierte Literatur und übersetzt Lyrik und Prosa aus dem Spanischen, Portugiesischen und Englischen. Nach „Mein Leben in Aspik“ (2010) und „Adams Fuge“ (2011) ist „Glückskind“ sein dritter Roman, von dem es auch eine Fortsetzung „Marie“ (2016) gibt. Steven Uhly lebt mit seiner Familie in München.

Unerwünschte Kinder, überforderte Mütter, ein Baby im Müll abgelegt - ein zeitgemäßes Thema, das der Autor hier fast märchenhaft umgesetzt hat. Sehr gut beschreibt er die Gedanken und Argumente der beteiligten Personen, so dass der Leser ihre Gefühle erfassen und sich teilweise auch mit ihren Handlungen identifizieren kann. Ein alternder Mann der plötzlich Hoffnung für seine Zukunft sieht, ein Ehepaar das nun eine Chance hat sich zu integrieren und ein Kioskbetreiber der Freundschaft und Anschluss sucht, sie alle verändern sich durch Felizia und werden auf wunderbare Weise eine Zeitlang zu glücklichen Menschen. Doch darf man ein Kind, das man im Müll gefunden hat, behalten? Muss man sich melden, weil die Mutter unter Mordanklage steht? Was tun?

Der Schreibstil Uhlys ist sehr authentisch, klar, knapp und schnörkellos, ganz dem Geschehen angepasst. Ohne moralischen Fingerzeig lässt er seine Figuren agieren, beschreibt alltägliche Situationen und lässt ihnen den nötigen Freiraum, um ihre Entscheidungen zu treffen. Er wertet nicht zwischen gut und schlecht, sondern überlässt dem Leser die Beurteilung. Die Geschichte bezaubert ohne Rührseligkeit und ist trotz glücklichem Ausgang zu keiner Zeit kitschig.

Fazit: Ein berührendes, absolut lesenswertes Märchen für Erwachsene, modern, zeitgemäß – könnte sich so oder ähnlich jederzeit ereignen.

Veröffentlicht am 22.09.2019

Laufen, um ins Leben zurück zu finden …

Laufen
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Ein Jahr ist seit dem schrecklichen Ereignis vergangen, ein Jahr voller Trauer und Schmerz, in dem sie nicht wirklich gelebt, sondern nur funktioniert hat. Nun beginnt sie wieder zu laufen, muss etwas ...

Ein Jahr ist seit dem schrecklichen Ereignis vergangen, ein Jahr voller Trauer und Schmerz, in dem sie nicht wirklich gelebt, sondern nur funktioniert hat. Nun beginnt sie wieder zu laufen, muss etwas tun um sich abzulenken. Früher war sie eine gute Läuferin, mit ihm an ihrer Seite, aber jetzt ist jeder Schritt eine Qual. Quälend sind auch ihre Gedanken, die ständig um seinen Tod kreisen und sich nicht vertreiben lassen. Warum nur, warum? Doch so, wie Woche für Woche das Laufen für sie leichter wird, klären sich auch allmählich ihre Gedanken, kehrt Schritt für Schritt ihr Lebensmut zurück …

Nachdem die in Hamburg lebende Autorin und Übersetzerin Isabel Bogdan mit ihrem ersten Roman „Der Pfau“ 2016 bereits auf der Shortlist zum „Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels“ stand, erhielt sie auch für ihren neuen Roman „Laufen“, der von einer Frau handelt, die sich nach dem Verlust ihres Lebensgefährten nicht mehr im Leben zurecht findet, durchwegs gute bis sehr gute Kritiken.

Den Schreibstil empfand ich als etwas außergewöhnlich, jedoch sehr angenehm zu lesen. Die Autorin verzichtet vollständig auf Interaktionen und lässt nur die Empfindungen der Protagonistin, die wahllos und bruchstückhaft während des Laufens entstehen, auf den Leser wirken. Zufällige Gedanken, Erinnerungen, Schuldgefühle, Selbstvorwürfe, zerschlagene Hoffnungen und einzelne Lichtblicke wechseln sich ab, wiederholen sich, schlagen Purzelbäume und kreisen letztlich immer um die eine Frage: warum? Man erhält dadurch tiefen Einblick in das Seelenleben der Frau, erfährt von ihrem Verlust und welche Rolle Familie, Freunde und ihre Arbeit als Musikerin in ihrem Leben spielen. Man kämpft mit ihr auf dem Weg zurück ins Leben, quält sich mit ihr beim Lauf rund um die Alster, macht interessante Beobachtungen, knüpft neue Freundschaften und ist atemlos dabei, wie sie allmählich Trauer und Wut hinter sich lässt und sich zaghaft wieder dem Leben und der Zukunft zuwendet.

Fazit: Ein faszinierendes Buch über die Gedankenwelt einer Frau, die auf den 200 Seiten zur guten Freundin geworden ist und die man gerne weiter begleiten würde. Absolute Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 09.09.2019

Drei Frauen – drei Schicksale – ein Mann

Drei
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Eine Frau sucht ein wenig Trost, nachdem ihr Mann sie und ihren Sohn verlassen hat. Eine zweite Frau sucht nach einem Zuhause und nach einem Zeichen von Gott, dass sie auf dem richtigen Weg ist. Eine dritte ...

Eine Frau sucht ein wenig Trost, nachdem ihr Mann sie und ihren Sohn verlassen hat. Eine zweite Frau sucht nach einem Zuhause und nach einem Zeichen von Gott, dass sie auf dem richtigen Weg ist. Eine dritte Frau sucht etwas ganz anderes. Sie alle finden denselben Mann. Es gibt vieles, was sie nicht über ihn wissen, denn er sagt ihnen nicht die Wahrheit. Aber auch er weiß nicht alles über sie. (Text des Verlages)

Dror Mishani wurde 1975 in Cholon bei Tel Aviv geboren. Er ist Literaturwissenschaftler mit dem Spezialgebiet Geschichte der Kriminalliteratur. International bekannt wurde er mit seinen Kriminalromanen um Inspektor Avi Avraham, sein endgültiger Durchbruch gelang ihm mit „Drei“. In Israel wurde der Roman zum Mega-Bestseller und war monatelang auf Platz 1, er soll verfilmt werden und eine TV-Serie ist geplant. Der Autor lebt mit seiner Familie in Tel Aviv.

Der Titel „Drei“ ist wunderbar passend für das Buch: drei Frauen die ihrem Alltag entrinnen und ihrem Leben eine Wendung geben wollen, drei Schicksale die verknüpft sind mit einem Mann – erzählt in drei Abschnitten. Ein angenehmer Schreibstil, ein flüssiger Sprachrhythmus und interessante Details über das Leben in Israel sind beeindruckende Attribute, die lobend zu erwähnen sind. Der Roman entwickelt einen Sog, dem sich der Leser nicht entziehen kann. Es läuft anders, als man erwartet und man wird von Ereignissen überrascht, die man so nicht vermutet hätte. Sehr eindrucksvoll und lebensecht sind die Charaktere ausgearbeitet, ihre Gedanken und Gefühle berühren, bedrücken und gehen unter die Haut. Eine unterschwellige Spannung entwickelt sich sehr langsam, steigt aber stetig an bis zu einem raffinierten, so nicht erwartenden Schluss. (Wie Dror Mishani in einem Interview am Ende des Buches andeutet, ist Drei vielleicht erst der Anfang einer Geschichte …)
Fazit: Ein außergewöhnlich einfühlsamer Roman über Liebe, Versäumnisse und Betrug, der zu Recht in Israel monatelang auf Platz 1 der Bestseller-Liste war.

Veröffentlicht am 09.08.2019

Auf der Suche nach der Wahrheit …

Am See
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Im Fischerdorf Boros am großen See wächst Nami bei den Großeltern auf, Vater ist unbekannt und über die verschollene Mutter wird nicht geredet. Früher war der See sehr schön und es gab viele Fische, doch ...

Im Fischerdorf Boros am großen See wächst Nami bei den Großeltern auf, Vater ist unbekannt und über die verschollene Mutter wird nicht geredet. Früher war der See sehr schön und es gab viele Fische, doch seit einiger Zeit zieht sich er sich zurück, der Salzgehalt steigt, das Wasser wird immer giftiger. Die Menschen dort glauben an den Seegeist, der erzürnt sei und nach Opfer verlange. Doch auch als Großvater beim Fischfang im Sturm nicht mehr zurück kommt, ist der Seegeist noch nicht besänftigt, so wird ihm auch Großmutter nach einem Sturz geopfert. Nami ist nun auf sich alleine gestellt und beschließt, in die ferne Hauptstadt zu gehen. Aber auch dort ist das Leben nicht besser. Es erwarten ihn harte, schwere und dreckige Arbeiten, bis er auf eine gütige alte Dame trifft. Jetzt hat er endlich die Kraft und den Mut, seine Mutter zu suchen …

Bianca Bellová wurde 1970 in Prag geboren und hat bulgarische Wurzeln. Die ersten zwanzig Jahre ihres Lebens lebte sie hinter dem "Eisernen Vorhang", was ihre Romane sehr authentisch macht. Für den aktuellen Roman „Am See“, der in mehreren Sprachen erschien, erhielt sie den tschechischen Buchpreis Magnesia Litera, sowie den European Union Prize für Literature.

In einer außerordentlich bildreichen, aber dennoch schlichten Sprache erzählt die Autorin die Geschichte von Nami, dessen Leben untrennbar mit dem See verknüpft ist. Der See ist es auch, der neben Nami die zweite Hauptrolle spielt. Zwar ist weder der See, noch die Gegend namentlich benannt, doch da von den „verhassten Russen“ die Rede ist, ist anzunehmen, dass es sich um den Aralsee handeln muss. Auch er war einst sehr fischreich und wurde, wie der See im Roman, seit den 60/70er Jahren systematisch ausgebeutet. Die Zuflüsse wurden zur Baumwollfelder-Bewässerung umgeleitet, sodass er um die Jahrtausendwende kurz vor der Austrocknung stand. Diese Umweltzerstörung, deren Ursache die Menschen im Buch nicht erkennen wollten, sondern durch einen zürnenden Seegeist beschönigen, bestimmt maßgeblich deren Leben und Gesundheit und ist auch einer der Kernpunkte des Romans.

Bianca Bellová schont den Leser nicht, ja sie schafft es eine Geschichte zu erzählen, die jeden bis ins Innerste treffen und lange im Gedächtnis bleiben wird. Brutale Szenen werden bis ins kleinste Detail geschildert, über sexuelle Bedürfnisse wird ohne Umschweife geredet und die Diktatur der Russen wird offen beim Namen genannt. Wir lesen von den unzumutbaren, menschenverachtenden Bedingungen, in der sich der junge Nami zurecht finden muss, und über eine Welt, die von verrohten Männern beherrscht wird. Das Buch ist in vier Teile gegliedert, die Namis Entwicklung vom Kind über die Pubertät zum jungen Mann schildern, bis er im vierten Teil dann die Wahrheit erfährt. Dazwischen passiert sehr viel, ein junger Mensch dem nichts erspart bleibt und der manchmal Unmenschliches erleiden muss.

Fazit: Ein Buch, für das man starke Nerven braucht und das man nach dem Lesen nicht einfach weglegen und zur Tagesordnung übergehen kann. Für Leser, die sich darauf einlassen können, ein absoluter Gewinn.

Es gibt offenbar wieder Hoffnung – wer sich informieren möchte: http://www.newsderwoche.de/welt/asien/524-kasachstan-schenkt-dem-aralsee-ein-neues-leben.html

Veröffentlicht am 08.08.2019

Wenn die Worte fehlen …

Am Strand
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Edward Mayhew und Florence Ponting, beide 22 Jahre alt, sind frisch verheiratet und befinden sich nun in einem Landhaushotel am Strand von Chesil Beach an der Küste von Dorset, wo sie ihre Hochzeitsnacht ...

Edward Mayhew und Florence Ponting, beide 22 Jahre alt, sind frisch verheiratet und befinden sich nun in einem Landhaushotel am Strand von Chesil Beach an der Küste von Dorset, wo sie ihre Hochzeitsnacht und die Flitterwochen verbringen möchten. Sie sind zwar sehr verliebt, haben aber (man schreibt das Jahr 1962) noch keinerlei sexuelle Erfahrung. Entsprechend nervös sitzen sie in ihrer Suite beim Abendessen und machen sich die unterschiedlichsten Gedanken, wie es nun weiter gehen wird. Darüber sprechen können sie nicht, es fehlen ihnen die Worte. Während Edward stark erregt ist, macht sich bei Florence Panik breit. Sie ahnt, sie wird sich vor dem was nun kommen wird ekeln, möchte aber Edward keinesfalls enttäuschen. Edward hingegen hat bestimmte Vorstellungen, weiß diese jedoch nicht richtig anzuwenden. So steuern sie auf ein Desaster zu, das ihr Leben für immer verändern wird …

Ian McEwan wurde 1948 in Aldershot/England geboren. Er studierte Englische Literatur an der Universität Sussex, besuchte Kurse für kreatives Schreiben und machte seinen Master an der University of East Anglia in Norwich. Seine Masterarbeit bestand aus einer Reihe von Kurzgeschichten, die später unter dem Titel „First Love, Last Rites“ veröffentlicht wurden. McEwan schrieb zahlreiche erfolgreiche Romane, die auf den Bestsellerlisten landeten und für die er mehrere englische Literaturpreise erhielt. Heute lebt er in London.

Wie häufig in den Büchern McEwans geht es auch in „Am Strand“ um zwischenmenschliche Beziehungen, um tragische Verwicklungen, fatale Irrtümer und schicksalhafte Missverständnisse. Beinahe minuziös schildert uns der Autor die dramatischen Geschehnisse in der Hochzeitsnacht, immer wieder unterbrochen von zeitlichen Rückblenden und von gedanklichen Erinnerungen der Protagonisten. So erhalten wir Einblick in ihr Seelenleben und ihre Gefühlswelt, erfahren von ihren Hoffnungen und Wünschen und von Erlebnissen in ihrer Kindheit. Dabei wird dem Leser allmählich bewusst, dass Florences Widerwille gegen alles sexuelle wohl auf ein traumatisches Erlebnis mit ihrem Vater zurückzuführen ist. Am nächtlichen Strand findet dann eine Aussprache mit gegenseitigen Vorwürfen statt, die jedoch wiederum missverständlich endet. Mehr soll hier nicht verraten werden!

Fazit: Ein großartiges Buch, beinahe ein Kammerstück, das aufwühlt und sehr nachdenklich macht.