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Veröffentlicht am 25.10.2024

Traumatisches Erleben

Das Ereignis
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Annie Ernaux, geb. 1940 in Lillebonne/Seine-Maritime, ist eine französische Schriftstellerin. Ihr literarisches Werk ist im Wesentlichen autobiografisch geprägt mit starkem soziologischem Bezug. 2022 wurde ...

Annie Ernaux, geb. 1940 in Lillebonne/Seine-Maritime, ist eine französische Schriftstellerin. Ihr literarisches Werk ist im Wesentlichen autobiografisch geprägt mit starkem soziologischem Bezug. 2022 wurde ihr der Nobelpreis für Literatur verliehen. (aus Wikipedia)

In ihrem Buch „Événement“ aus dem Jahre 2000 beschreibt Annie Ernaux ihre wohl größte seelische Erschütterung, die ungewollte Schwangerschaft und die illegale Abtreibung im Alter von 23 Jahren, während ihres Studiums 1963 in Rouen. 2021 wurde der autobiografische Roman verfilmt und errang im selben Jahr bei den 78. Internationalen Festspielen von Venedig den Hauptpreis des Festivals, den „Goldenen Löwen“. Nun, 2022, erscheint „Das Ereignis“ im Suhrkamp-Verlag endlich auch auf Deutsch.

Es sind diese traumatischen Erlebnisse, die die Autorin in beinahe jedem ihrer Werke anspricht – bis sie sich ihnen, im Jahr 2000, im Alter von 60 Jahren stellt. Auf Grundlage damaliger Tagebucheinträge und mit Hilfe ihres alten Kalenders erinnert sich die Autorin an jene Zeit und dringt tief in ihrem Bewusstsein zurück. In äußerst nüchternem Schreibstil, anders wäre es auch kaum erträglich, beschreibt sie die Demütigungen und Erniedrigungen die sie nach ihrem Entschluss, das Kind auf keinen Fall zu bekommen, erleiden musste. Sie nennt es in ihren Aufzeichnungen nur ‚das Ding‘ oder ‚es‘, das Wort ‚Schwangerschaft‘ vermeidet sie. Ein französisches Gesetz von 1920 verbietet sowohl den Abbruch, als auch den Verkauf empfängnisverhütender Mittel und ahndet Zuwiderhandlungen mit Geld- oder Gefängnisstrafe. Nach einem erfolglosen Versuch, ihre Schwangerschaft durch Einführen einer langen Stricknadel zu beenden, landet Annie bei einer ‚Engelmacherin‘. Zwei schmerzhafte ‚Behandlungen‘ sind nötig, bis der Abbruch gelingt. Sie verblutet beinahe und kommt in die Notaufnahme, wo sie mehr Demütigung als Hilfe erhält. Die bildhafte und bis ins kleinste Detail gehende Beschreibung erfordert starke Nerven vom Leser.

Fazit: Ein Buch das aufrüttelt und immer noch, zwanzig Jahre nach Erscheinen in Frankreich, aktuell ist. Ein Blick nach Polen oder nach Texas zeigt, dass immer noch versucht wird, den weiblichen Körper durch von Männern gemachte Paragraphen zu beherrschen.

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Veröffentlicht am 24.10.2024

Einer für alle, alle für einen

Wohnverwandtschaften
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Nachdem sich die 30jährige Zahnärztin Constanze von ihrem Lebensgefährten getrennt hat, sucht sie eine kleine bezahlbare Wohnung. Doch das ist in Hamburg nicht einfach. So zieht sie, nur vorübergehend ...

Nachdem sich die 30jährige Zahnärztin Constanze von ihrem Lebensgefährten getrennt hat, sucht sie eine kleine bezahlbare Wohnung. Doch das ist in Hamburg nicht einfach. So zieht sie, nur vorübergehend wie sie denkt, in ein freies Zimmer in einer WG. Die Wohnung gehört Jörg, dem sie nach dem Tod seiner Frau zu groß geworden ist. Er ist mit seinen 68 Jahren noch rüstig und plant mit seinem alten VW-Bulli eine Reise nach Georgen, die er mit den Mieteinnahmen bestreiten will. Ein Zimmer bewohnt Anke, eine in die Jahre gekommene Schauspielerin, bei der die Angebote ausbleiben und die deshalb finanzielle Probleme hat. Ein weiteres Zimmer bewohnt Murat, ein IT-Spezialist um die 50, ein fröhlicher Mensch und leidenschaftlicher Koch, der die Gemeinschaft gerne mit kulinarischen Mahlzeiten mit dem Gemüse aus seinem Kleingarten verwöhnt. Schnell fühlt sich Constanze wohl in der Gruppe und schließt Freundschaft mit ihren Mitbewohnern. Doch dann, nach einer harmlosen OP ist Jörg nicht mehr der Alte, er ist plötzlich vergesslich. Wird schon wieder, denken alle, doch sein Zustand wird schlimmer …

Isabel Bogdan, geb. 1968 in Köln, ist eine deutsche Schriftstellerin, Literaturübersetzerin und Bloggerin, die in Heidelberg und Tokio Anglistik und Japanologie studierte. Ihr erster Roman, „Der Pfau“, erschien 2016 und stand monatelang auf der Spiegel-Bestsellerliste, 2019 kam ihr zweiter Roman „Laufen“ auf den Markt – „Wohnverwandtschaften“ (2024) ist ihr dritter Roman. Die Autorin lebt heute in Hamburg-Borgfelde.

Der Schreibstil ist, wie immer bei Isabel Bogdan, etwas außergewöhnlich, jedoch sehr angenehm zu lesen. Passagen mit Dialogen, die an ein Kammerspiel erinnern, wechseln mit kurzen Abschnitten, in denen die WG-Mitglieder über ihre eigenen Gefühle und Empfindungen berichten. Dadurch lernt man als Leser die unterschiedlichen Charaktere sehr gut kennen und fühlt sich ihnen verbunden. Man kann sich mit ihnen freuen und lachen, bis sich die Stimmung allmählich ändert. Plötzlich leidet man mit Jörg, möchte ihm helfen, wenn es denn möglich wäre. Man fühlt selbstverständlich auch mit den drei Mitbewohnern, erlebt ihre Sorge um Jörg und empfindet ihre Angst vor der Zukunft. Die anfangs so heiter-fröhliche Geschichte entwickelt eine Tragik, in der wir erleben müssen, wie ein Mensch nach und nach das verliert, was sein Menschsein ausmacht …

Fazit: Ein faszinierendes Buch über vier liebenswerte Menschen, mit denen man sofort Freundschaft geschlossen hat und die man gerne noch eine Zeitlang weiter begleiten würde. Absolute Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 23.10.2024

Liebe kennt keine Grenzen und keine Nationalitäten

Im Warten sind wir wundervoll
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Die einundzwanzigjährige Luise Adler ist eine der vielen jungen Frauen, die sich nach dem Krieg in einen amerikanischen Besatzungssoldaten verliebten – sie alle versprachen sich in den USA ein besseres ...

Die einundzwanzigjährige Luise Adler ist eine der vielen jungen Frauen, die sich nach dem Krieg in einen amerikanischen Besatzungssoldaten verliebten – sie alle versprachen sich in den USA ein besseres Leben. Mit einem der letzten Flüge im Dezember des Jahres 1948 fliegt sie nach New York, zusammen mit vielen anderen hoffnungsvollen „Kriegsbräuten“, den sog. War Brides. Alle werden sie von ihren Verlobten und Freunden abgeholt, nur eine bleibt verloren am Flughafen zurück: Luise. Wo ist ihr Verlobter Joseph Hunter? Das fragen sich auch die Presseleute, die auf sie aufmerksam werden. – Siebzig Jahre später ist auch Luises Enkelin Elfie auf dem Flug nach New York. Sie will ganz überraschend ihren dort studierenden Verlobten besuchen und ihm mitteilen, dass sie nun bereit ist zu heiraten. Ob die Überraschung gelingen wird?

Charlotte Inden, geb. 1979, ist eine deutsche Schriftstellerin. Sie studierte Germanistik, Kunstgeschichte und Film- und Fernsehwissenschaften in Marburg, London und Straßburg und arbeitet als Redakteurin bei einer Tageszeitung. Seit 15 Jahren schreibt sie erfolgreich Kinder- und Jugendbücher – „Im Warten sind wir wundervoll“ ist ihr erster Roman für Erwachsene. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Karlsruhe.

Es handelt sich hier um einen Roman mit fiktiven Personen, zu dem sie jedoch durch eine wahre Begebenheit inspiriert wurde, wie Charlotte Inden in einem Interview ausdrücklich betonte. Die Geschichte spielt in zwei verschiedenen Zeiten, die in 33 Kapitel aufgeteilt sind und ständig wechseln. Die nicht chronologische rasche Abfolge und die teils extrem kurzen, abgehackten Sätze sind, zumindest zum Anfang, dem Lesefluss sehr hinderlich.

Hat man sich erst daran gewöhnt, entwickelt sich um Großmutter Luise eine spannende, einfühlsame und bewegende Geschichte, die die Einstellung der damaligen Besatzungsmacht zu den deutschen Fräulein eindringlich verdeutlicht. Der zweite Erzählstrang spielt in der Gegenwart und handelt von Luises Enkelin Elfie, die im Flugzeug beginnt, ihrem Sitznachbarn die Geschichte ihrer Großmutter zu erzählen. Sowohl inhaltlich als auch sprachlich fällt dieser Teil, verglichen mit dem historischen Geschehen, stark ab. Das Geschehen wirkt erdacht, ist ohne Tiefgang und stark vorhersehbar, ja stellenweise beinahe schnulzig. Für mich mindert dies den ansonsten ausgezeichneten Gesamteindruck.

Fazit: Ein außergewöhnlicher Roman – mitreißend und unterhaltend die Geschichte in der Nachkriegszeit, während mich das Geschehen in der Gegenwart nicht berühren konnte.

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Veröffentlicht am 13.10.2024

Ein Wolf im Schafspelz

Trauriger Tiger
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Sie war sieben, acht oder neun Jahre alt, sie weiß es nicht mehr so genau, als die Autorin zum ersten Mal von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht wurde. Um den Familienfrieden nicht zu gefährden schwieg ...

Sie war sieben, acht oder neun Jahre alt, sie weiß es nicht mehr so genau, als die Autorin zum ersten Mal von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht wurde. Um den Familienfrieden nicht zu gefährden schwieg sie, vertraute sich niemandem an. Worüber man nicht spricht, das gibt es auch nicht, das war ihr Gedanke. Das ging so weiter, manchmal täglich, bis Neige etwa fünfzehn Jahre alt war, dann hörte er auf. Aber auch jetzt schwieg sie noch. Erst im Alter von zwanzig Jahren, als sie mit dem Studium begann und von zu Hause auszog, vertraute sie sich ihrer bis dahin nichtsahnenden Mutter an. Um ihre jüngeren Geschwister nicht derselben Gefahr auszusetzen, entschlossen sich beide Frauen, gemeinsam Anzeige zu erstatten …

Neige Sinno ist eine französische Schriftstellerin und Übersetzerin, die 1977 in Vars/Haute-Alpes geboren wurde. Sie studierte in den USA Amerikanische Literatur. Neben einigen Fachtexten veröffentlichte sie bisher eine Erzählsammlung und einen Roman. „Triste Tigre“ (2023) „Trauriger Tiger“ (2024) ist ihr zweiter Roman, für den sie bereits zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen erhielt. Seit 2006 lebt die Autorin in Pátzcuaro in Mexiko und unterrichtet Interkulturelle Literatur an der Escuela Nacional in Morelia.

Der Roman „Trauriger Tiger“ (dtv 2024) ist der Versuch, die als Kind erlittene jahrelange Vergewaltigung durch ihren Stiefvater durch Schreiben aufzuarbeiten. Ob Neige Sinno das gelungen ist, kann nur sie selbst beantworten.

Gelungen ist ihr jedenfalls, ihre Leserschaft tief zu berühren und zu erschüttern. Man bewundert den Mut und die Entschlossenheit des kleinen Mädchens, ihren Kampf um Normalität und ihren Willen zu leben und zu überleben und ist gleichzeitig überrascht, wie schwer es der erwachsenen Frau heute, über 30 Jahre nach Ende der Vergewaltigungen und 25 Jahre nach ihrer Anzeige, immer noch fällt, darüber zu reden. Immer wieder sucht sie Orientierung in der Literatur, zitiert Annie Ernaux und Virginia Woolf, liest über vergewaltigte Kinder bei Faulkner, Zola und Foster Wallace und erwähnt immer wieder den Roman Lolita von Nabokov. Sie beleuchtet das Thema von allen Seiten, berichtet über das Verhör des Stiefvaters, die Reaktion der Mutter nach dessen Verurteilung und studiert Statistiken zu ähnlichen Fällen. Ihr Schreibstil dabei ist radikal ehrlich, sie schont niemanden und beschönigt nichts. Wohltuend ist zu vermerken, dass die ausführlichen Beschreibungen der Taten zwar vorhanden, aber nur ganz selten erwähnt werden.

Fazit: Ich wünsche dem Buch eine aufgeschlossene Leserschaft und empfehle es sehr gerne weiter!

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Veröffentlicht am 13.10.2024

Flüchtlingsschicksal

Im Meer schwimmen Krokodile
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Es ist die beinahe unglaubliche Fluchtgeschichte des anfangs 9jährigen afghanischen Jungen Enaiat, der nach einer acht Jahre dauernden dramatischen Irrfahrt nun endlich in Italien eine neue Heimat gefunden ...

Es ist die beinahe unglaubliche Fluchtgeschichte des anfangs 9jährigen afghanischen Jungen Enaiat, der nach einer acht Jahre dauernden dramatischen Irrfahrt nun endlich in Italien eine neue Heimat gefunden hat. Es war die Hoffnung auf ein besseres Leben, auf eine Zukunft ohne Krieg, die seine Mutter veranlasste, ihn heimlich von Afghanistan nach Pakistan zu schmuggeln. Auf seinen weiteren Weg gab sie ihm drei Gebote mit: nie Drogen zu nehmen, nie Waffen zu benutzen und nicht zu stehlen. Vollkommen auf sich allein gestellt, sucht sich der Junge zunächst eine Unterkunft und Arbeit, um seine weitere Flucht in den Iran finanzieren zu können. Es gelingt ihm in den Iran zu kommen, von dort in die Türkei und über Griechenland dann nach Italien. Dass ihm dies letztendlich gelang ist außer großem Glück auch seinem Fleiß und seiner Zähigkeit zu verdanken. Zwischen den einzelnen Stationen liegen oft mehrere Jahre, in denen er arbeitete, Schmuggler bezahlte, über schneebedeckte Berge wanderte, eingepfercht im Lastwagen weiterfuhr und im Schlauchboot übers Meer ruderte. Er erlebte Brutalität und Rücksichtslosigkeit, war dem Tod oft näher als dem Leben – erfuhr aber auch Hilfsbereitschaft, menschliche Wärme und Freundschaft.

Das Buch ist mehr als die reine Erzählung eines Flüchtlingsschicksals, es zeigt einfühlsam, warum Menschen solche Strapazen auf sich nehmen. Es ist auch eine versteckte Anklage gegen korrupte Polizei und Ordnungshüter und prangert die Tätigkeit der Schmuggler an, die aus dem Elend der Menschen ein Geschäft machen und Unternehmer, die ihre Großbaustellen mit billigen „Illegalen“ betreiben. Es sind abenteuerliche Begegnungen und oft sehr gefährliche Erlebnisse die dem Jungen bis zu seinem Happy End in Italien widerfahren sind. Dass das nicht allen Flüchtlingen gelingt, viele werden inhaftiert, kommen in Lager oder sterben, auch davon erzählt dieses Buch.

Fazit: Ein einfühlsam geschriebenes Buch über die abenteuerliche Flucht eines jungen Afghanen nach Italien. Es rüttelt auf und stimmt nachdenklich, denn es ist heute aktueller denn je.

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