Packender Schmöker mit allem, was dazugehört
Elbleuchten„Frauen müssen Kinder bekommen. Wenn sie plötzlich alle damit aufhören und studieren gehen, was glaubst du was, was passiert dann? Willst du, dass es keine Kinder mehr gibt? Oder Kinder ohne Mütter? Sollen ...
„Frauen müssen Kinder bekommen. Wenn sie plötzlich alle damit aufhören und studieren gehen, was glaubst du was, was passiert dann? Willst du, dass es keine Kinder mehr gibt? Oder Kinder ohne Mütter? Sollen vielleicht die Männer auf die Kinder aufpassen?“
An einem Sommertag 1886 in Hamburg ändert sich Lily Karstens Leben. Die junge Frau stammt aus einer der angesehensten Reederfamilien der Stadt. Sie wohnt mit ihrer Familie in einer großen Villa, wird stets von Dienstboten umsorgt, ist mit dem Medizinstudenten Henry verlobt, besucht das Lehrerinnenseminar und träumt insgeheim davon, Schriftstellerin zu werden. Bei einer Schiffstaufe kommt es zu einem schlimmen Unglück: Der Arbeiter Paul verletzt sich schwer, nur weil er Lily ihren vom Wind weggewehten Hut zurückbringen will. Lily möchte dem Mann unbedingt helfen. Sie lernt Jo Bolten aus dem Hafenviertel kennen, der für seinen verletzten Freund bei den Karstens vorspricht, aber von Lilys Bruder Franz abgewiesen wird. Jo stellt für Lily Kontakt zu Pauls Familie her und zeigt ihr das Elend der Menschen in seinem Viertel. Die junge Frau nimmt sich vor, etwas gegen die Zustände zu unternehmen, auch wenn das bedeutet, dass sie ihr bisheriges Leben so nicht weiterführen kann.
Miriam Georg schreibt angenehm und unkompliziert, meist aus Lilys, aber auch mal aus Jos, Franz oder Vater Alfreds Sicht. Dank des lebendigen, ansprechenden Schreibstils hatte ich keine Mühe, in das Geschehen hineinzufinden, tauchte sofort emotional in die Geschichte ein.
Lily Karsten wächst gut behütet auf, genießt viele Privilegien der Reichen. Sie sorgt sich um andere, wirkt unverdorben und ganz schön naiv „in ihrem Glauben an das Gute im Menschen“. Jo Bolten zeigt Lily die dunkle Seite Hamburgs, das ganze Ausmaß der Armut und des Elends. Er nimmt ihr damit einiges von ihrer „heilen Welt“. Gleichzeitig weckt ihre Freundin Emma in Lily das Bewusstsein dafür, dass Frauen kaum Entfaltungsmöglichkeiten haben. Lily möchte Missstände beseitigen, sich für Benachteiligte einsetzen, die Welt zu einer besseren machen. Aber sie ahnt nicht, welche Entwicklungen sie damit in Gang setzt. Mit Lily musste ich, trotzdem sie sich nicht immer sehr vernünftig und besonnen verhält, mitfiebern.
Jo Bolten ist kein „glatter“ Charakter, er weiß, was es bedeutet, arm zu sein, tut Dinge, die moralisch fragwürdig sind, um zu überleben und seine Familie durchzubringen. Jo kennt sich in der Hamburger Unterwelt aus wie kein zweiter.
Jo und Lily sind so verschieden wie Tag und Nacht. Trotzdem finden sie einander und verändern das Leben des anderen. Dass die Hauptfiguren aus so unterschiedlichen Milieus stammen, macht den besonderen Reiz der Geschichte aus. Überhaupt gefallen mir die Charaktere, die sich Miriam Georg ausgedacht hat: die fortschrittliche, kluge und pragmatische Emma, der unangenehme, hartherzige Franz mit seinem düsteren Geheimnis, der zwielichtige Unternehmer Oolkert, Jos rauer irischer Freund Charlie, der immer wieder in Schwierigkeiten gerät, Lilys Vater, der für seine Familie doch nur das Beste will oder Lilys kleiner, lebensfroher Bruder, der niemals mit anderen Kinder Kontakt haben darf. Viele Personen haben besondere Geheimnisse, die unter keinen Umständen publik werden sollten. Eine bunte Mischung aus Figuren aus ganz verschiedenen Gesellschaftsschichten.
Dramatisch, was sich in Lilys Leben abspielt, je tiefer sie in die zwielichtigen, dunklen Ecken Hamburgs gerät. Sie stellt ihr ganzes Leben auf den Prüfstand. So begütert und angenehm ihre Familie lebt, so entsetzlich sind die Zustände in den ärmlichen Gegenden. Hautnah bekommen die Leser die zwei Gesichter einer Stadt mit.
Gegen Ende entwickelt sich alles derart rasant, dass weder Lily noch die Leser zur Ruhe kommen.
Elbleuchten hat alles, was ein richtiger Schmöker braucht: eine Liebe, die nicht sein soll, eine tragische Familiengeschichte, eine Heldin, die die Welt verbessern möchte, düstere Charaktere mit Geheimnissen und einen so vielfältigen Schauplatz. Mit „ Elbleuchten“ reisen die Leser gemeinsam mit Lily in die Vergangenheit, tauchen in die Atmosphäre Hamburgs des Jahres 1886 ein, blicken genauso in die glanzvollen Ecken wie in die düstersten Winkel, in den Abgrund. Für mich ein rundum unterhaltsamer, mitreißender Roman mit dramatischem Ende, auf dessen Fortsetzung ich mich schon jetzt freue.