Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm - oder doch?
Wir sitzen im Dickicht und weinenWir sitzen im Dickicht und weinen
Felicitas Prokopetz
Worum geht’s?
Zu ihrer Mutter Christina hatte Valerie noch nie ein sonderlich gutes Verhältnis. Die Vernachlässigung, die sie durch ihre eigene ...
Wir sitzen im Dickicht und weinen
Felicitas Prokopetz
Worum geht’s?
Zu ihrer Mutter Christina hatte Valerie noch nie ein sonderlich gutes Verhältnis. Die Vernachlässigung, die sie durch ihre eigene Mutter erlebt hat, gleicht sie bei ihrem Sohn Tobi aus, indem sie zu einer regelrechten Übermutter mutiert, die den Sechzehnjährigen nach Strich und Faden verwöhnt.
Als Christina an Krebs erkrankt, muss Val für sie da sein. Ganz egal, wie schwer ihr das fällt. Die langen Pausen zwischen den einzelnen Begegnungen mit der Mutter, in denen sie sonst Zeit hatte, ihre Wunden zu lecken und sich für den nächsten Kampf zu wappnen, fallen plötzlich weg. Val ist gefordert, überfordert. Als dann Sohn Tobi plötzlich unbedingt ein Auslandsjahr in England machen möchte, gerät ihre Welt vollends aus den Fugen. Val kann nicht loslassen. Zwischen den Konflikten zwischen Val und ihrer Mutter und Val und ihrem Sohn entspinnt sich in verschiedenen Handlungssträngen auch die Geschichte der Großeltern in verschiedenen Phasen ihres Lebens, und die Leserinnen und Leser verstehen plötzlich, warum Christa zu der Frau geworden ist, die sie eben ist. Ihre eigene Mutter Martha hatte ebenfalls kein einfaches Leben, erkrankte kurz nach ihrer Geburt an einer regelrechten Wochenbettdepression und hatte das Gefühl, ihr Leben sei mit der Geburt der kleinen Christa vorbei („Sie fühlte sich, als hätte man sie in Ketten gelegt, und grauste sich vor diesem Egerling, der sie aussaugte“). Dass es am Ende eben kein Happy End gibt, war zu erwarten, ist für mich stimmig und der Ausklang auf den letzten Seiten stimmt versöhnlich.
Wie war’s?
Wenn es an diesem Roman für mich einen Kritikpunkt gibt, dann eindeutig, dass ein Personenverzeichnis am Anfang des Buches fehlt. Immer wieder springt die Handlung zwischen den verschiedenen Personen und Epochen hin und her und häufig ging es mir so, dass ich hier ein wenig den Überblick verloren habe.
Ansonsten ist es ein stilles, tiefgründiges Buch, das ich gerne gelesen habe. Gefallen haben mir vor allem die kurzen Kapitel, sodass man immer mal ein paar Seiten zwischendurch lesen kann, und die bildhafte Sprache, insgesamt hatte ich den Eindruck, dass hier jedes Wort mit Bedacht gewählt wurde und genau an der richtigen Stelle steht. („Tobi stellt sich Anschreien wie ein reinigendes Gewitter vor, er weiß nicht, wie viel Verwüstung die Blitzeinschläge eines richtigen Krachs anrichten“).
Es geht um die großen Fragen, die wohl jede Familie, ob dysfunktional oder nicht, irgendwie beschäftigen. Wie funktioniert Abgrenzung, auch und gerade, wenn es um die eigenen Kinder und Eltern geht? Und ist ein Kind den Eltern „was schuldig“ fürs in die Welt setzen und großziehen? Und folgen wir den Verhaltensmustern unserer Eltern getreu dem Motto "der Apfel fällt nicht weit vom Stamm?" - oder versuchen wir, alles anders zu machen, ohne genau zu wissen, ob das nun besser oder noch schlimmer ist?
Gerne hätte der eine oder andere Handlungsstrang etwas ausführlicher in die Tiefe gehen dürfen, ich hatte ein bisschen den Eindruck, als hätte die Autorin versucht, hier sehr viel Handlung auf wenige Seiten zu packen.
Fazit
Als Tochter (einer schwierigen Mutter, bei der eine Abgrenzung leider nur mit völligem Kontaktabbruch gelungen ist) hat mich dieser Roman sehr nachdenklich gemacht. Trotzdem würde ich ihn uneingeschränkt empfehlen, denn letzten Endes ist es ja genau das, was Literatur ausmacht: dass sie den Leserinnen und Lesern ans Herz geht und sie berührt.