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Veröffentlicht am 05.07.2023

Ein phantastischer Führer in die Vergangenheit

Lost & Dark Places Sachsen
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Lost Places sind nicht nur ein Magnet für Abenteurer und „Grufties“, auch Wanderer, Urlauber, Ahnenforscher oder Geschichtsliebhaber machen sich heutzutage auf den Weg zu dunklen Gefilden. Cornelia Lohs ...

Lost Places sind nicht nur ein Magnet für Abenteurer und „Grufties“, auch Wanderer, Urlauber, Ahnenforscher oder Geschichtsliebhaber machen sich heutzutage auf den Weg zu dunklen Gefilden. Cornelia Lohs legt mit ihrem Buch über 33 vergessene, verlassene und unheimliche Orte einen kleinen Wegweiser für Sachsen vor, der es in sich hat. Die Autorin kann nicht nur fantastisch fotografieren, sie hat auch – es muss schon eine Weile gedauert haben, die Menge an Material zusammenzutragen und zu einem Buch zu verdichten – zu jedem der verwunschenen Orte die Geschichte beschrieben sowie sich dem heutigen Zustand gewidmet. Ihre Informationen gehen von der Anschrift bis zu GPS-Koordinaten und soweit möglich, Öffnungszeiten oder Zutrittsmöglichkeiten. Einfach bewundernswert, diese Arbeit, die Liebe und die Akribie, die sie in jeden einzelnen Beitrag gesteckt hat.
Abgerundet wird alles mit einer Übersichtskarte innen auf der 2. Umschlagseite/Klappe, auf der man die Objekte der Begierde per Kapitelnummer sofort findet. Wer also irgendwo in Sachsen unterwegs ist, sollte dieses Buch im Gepäck haben und schauen, ob er einen der beschriebenen Orte findet. Sehr schade, ich war bereits zwei Mal in den letzten Jahren in Görlitz, aber nichts von den sechs Lost Places habe ich bei meinen Stippvisiten gesehen. Nach Görlitz muss ich also noch einmal mit diesem Buch reisen.
Für mich der überraschendste Fund in diesem Buch war die Beschreibung des Alten Israelitischen Friedhofs in Leipzig. Einige meiner Verwandten wurden wahrscheinlich dort Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts beerdigt. Für mich war völlig neu, dass dieser Friedhof noch so existiert.
Die typografische Gestaltung hat der BRUCKMANN Verlag in offenbar bewährte und goldene Hände gelegt, auch Lektorat, Korrektor etc. arbeiteten auf höchstem Niveau. Mich freut so etwas ganz besonders, ich komme aus der Buchbranche.
Auf der 3. Umschlagseite bzw. der Umschlagklappe hat der Verlag eine ansehnliche Anzahl Lost & Dark Places-Bücher vorgestellt, ich werde mir als nächstes das Ruhrgebiet vornehmen, Geburtsort meines Vaters.
Ich empfehle dieses Buch sehr, es bietet mehr als nur Lost Places, es bietet Einblicke in eine vergangene Welt und lässt mit Fantasie vielleicht etwas Neues entstehen. Danke, liebe Cornelia Lohs. Fünf Sterne plus!

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Veröffentlicht am 01.08.2022

Zutiefst berührendes Schicksal einer ukrainischen Familie

Denk ich an Kiew
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Der deutsche Titel erinnerte mich beim ersten Hinschauen an Heinrich Heine, Denk ich an Deutschland in der Nacht…, ich las den Klappentext und wusste, dieses Buch muss ich lesen. Ich habe es nicht bereut, ...

Der deutsche Titel erinnerte mich beim ersten Hinschauen an Heinrich Heine, Denk ich an Deutschland in der Nacht…, ich las den Klappentext und wusste, dieses Buch muss ich lesen. Ich habe es nicht bereut, aber es hat mich tief betroffen gemacht.
Die amerikanische Originalausgabe hat den Titel The Memory Keeper of Kyiv, der Roman bewahrt tatsächlich die Erinnerung an die schändliche russische Aushungerungspolitik von Anfang der 1930er Jahre. Vor den Augen des Lesers entsteht eine für menschliche Dimensionen eigentlich nicht vorstellbare, katastrophale Situation. Stalin beschließt die Vernichtung des ukrainischen Volkes auf die perfideste Weise, der Holodomor wird in der Ukraine als Genozid betrachtet. Wer dieses Buch gelesen hat, wird eher verstehen, warum noch heute, 90 Jahre nach dieser menschengemachten Hungersnot und den Millionen Toten abgrundtiefer Hass zwischen Ukrainern und Russen besteht. Wer dieses Buch gelesen hat, weiß dann auch, dass der Ausspruch „Die Zeit heilt alle Wunden“ nur eine leere Phrase ist.
Der Roman beginnt 2004, wir lernen Cassie kennen, eine junge Frau am seelischen Abgrund, die versucht, sich und ihr Töchterchen Birdie über die Runden zu bringen. Ein Jahr zuvor verlor Cassie ihren Ehemann und Birdie den Vater durch einen Autounfall. Birdie überlebt nur knapp, spricht seitdem kein einziges Wort. Cassie ist nicht in der Lage, zu arbeiten, sie ist Journalistin und findet keinen Zugang mehr zum Schreiben. In diese Situation platzt ihre Mutter mit der Nachricht, dass die Oma, genannt Bobby, Hilfe braucht. Cassie und Birdie ziehen also kurzerhand zur Großmutter. Für Cassie beginnt eine neue Zeitrechnung. Es wird noch eine Weile dauern, bis sie sich öffnet, sie lernt den Feuerwehrmann Nick kennen, es beginnt eine Freundschaft, die sich auf sehr subtile Weise entwickelt. Beide haben etwas gemeinsam: ihre Vorfahren kamen aus der Ukraine nach Amerika. Nick jedoch ist derjenige, der die Sprache spricht und auch über die Vergangenheit und die Geschichte der Ukraine einiges weiß. Cassie hat zwar ab und an versucht, der Großmutter einige Erinnerungen zu entlocken, aber diese verschloss sich wie eine Auster.
Nun ist die Großmutter nicht nur alt, sie ist auch krank, es macht sich eine Art Verwirrtheit und beginnender Demenz bemerkbar. Cassie findet merkwürdige Zettel, entdeckt ein Tagebuch, alles Ukrainisch, und sie entdeckt Lebensmittel an den merkwürdigsten Stellen. Nick hilft ihr, zuerst die Zettel und später die Tagebuchaufzeichnungen zu entschlüsseln. Es wird langsam deutlich, was die Großmutter – als Katja – in ihrer Jugend erleiden musste.
Die zweite Ebene des Romans geht zurück in die Ukraine der frühen 1930er Jahre. Der Leser lernt ein fröhliche, funktionierende Bauernfamilie kennen: Katja, ihre Eltern, ihre Schwester Alina, die Nachbarn und deren Söhne Pawlo und Kolja. Die Schwestern werden die beiden Brüder heiraten, aber das Leben steht schon unter einem schlechten Stern. Stalin hat seine „Aktivisten“ in die Ukraine geschickt, um insbesondere Getreide zu requirieren, er will eine Kollektivierung durchsetzen, die auf Widerstand stößt. Aber Widerstand erweist sich als tödlich, viele Menschen werden deportiert, die verbleibenden Bauern müssen für die Kolchosen schuften und erhalten von Monat zu Monat weniger zu essen. Sie werden einfach ausgehungert. Das von Cassie und Nick entzifferte Tagebuch bringt diese Perfidie zu Tage. Cassie ist kaum in der Lage, diese Enthüllungen zu ertragen. Hinzu kommt ihre selbstauferlegte Schuld ihrem verstorbenen Ehemann gegenüber, sie wagt nicht, sich neu zu verlieben und einem neuen Leben zu öffnen. Es ist ein schwieriger Prozess, den sie durchläuft, Nick versucht ihr diesen Weg zu erleichtern, aber er braucht viel Geduld. Fast nebenbei gelingt es ihm, Birdie zum Sprechen zu bringen. Die Kleine blüht auf in seiner Gegenwart, aber sie entwickelt auch zur Uroma Bobby ein liebevolles Verhältnis.
Der Roman wechselt von Kapitel zu Kapitel Ort und Zeit, in jedes Kapitel findet man sofort hinein, die Autorin bringt den Leser dazu, mitzudenken, mitzufiebern, mitzuleiden. Je mehr Katja erleiden muss, umso schwerer fiel mir das Lesen, die schrecklichen Schilderungen der Hungersnot und ihre Auswirkungen auf jeden Menschen sind schwer zu ertragen. Die Verluste, die Katja erträgt und die trotz allem nicht aufgibt, mit der selbst auferlegten Pflicht, Halya, die Tochter ihrer ermordeten Schwester, zu retten, durchzieht das Buch.
Das Buch hat einen klaren, gut lesbaren Stil, aus meiner Sicht eine sehr gute adäquate Übersetzung. Ich habe das Buch auch in der Originalausgabe, der Stil, das Gefühl und die immer spürbare Trauer sind wunderbar wiedergegeben im Deutschen. Die beiden Übersetzer Dietmar Schmidt und Rainer Schumacher haben einen tollen Job gemacht.
Über die vielen geschilderten Ereignisse und den Fortgang der Geschichte muss sich jeder Leser selbst ein Bild machen, für mich waren die letzten Seiten sehr emotional, das möchte ich niemandem vorher erzählen.
Ich würde mir wünschen, dass dieses Buch auch als Warnung gelesen wird, welche Grausamkeiten in der Ukraine durch den russischen Krieg heute verübt werden oder noch geplant sind. Wer dieses Buch gelesen und verstanden hat, kann die Parallelen deutlich sehen: die Ukraine soll wieder unterworfen werden.
Ein wichtiges Buch zur richtigen Zeit! Danke an Erin Litteken.

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Veröffentlicht am 15.08.2024

Erinnerungen eines unterforderten Fötus

Pi mal Daumen
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Alina Bronsky reizt mich generell, wenn ein neues Buch von ihr erscheint, muss ich es auch lesen. Gut in Erinnerung sind mir Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche, Baba Dunjas letzte Liebe, Der ...

Alina Bronsky reizt mich generell, wenn ein neues Buch von ihr erscheint, muss ich es auch lesen. Gut in Erinnerung sind mir Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche, Baba Dunjas letzte Liebe, Der Zopf meiner Großmutter, Barbara stirbt nicht und zuletzt Schallplattensommer. Da hängt die Latte fürs neue Buch gleich immer noch ein bisschen höher.
Alina Bronsky hat einen wunderbar lockeren und ironischen Tonfall, auch wenn die Dinge wirklich tragisch, problematisch oder außergewöhnlich sind. Sie hat immer einen Blick fürs Unangepasste, für die, die „aus der Reihe tanzen“. In "Pi mal Daumen" tun sie letzteres ganz bestimmt. Wenn man sich auf ein modernes Märchen einlassen will, ist man bei Moni und Oscar goldrichtig. Leider ist gerade Mathematik nie mein Lieblingsfach gewesen, so dass ich bei bestimmten Begriffen nur Bahnhof verstehe, aber das tut der Geschichte im Mathematikprofessoren- und Studentenmilieu wenig Abbruch.
Die Protagonisten: Oscar ist nicht nur ein hochbegabter Schüler, der bereits mit fast 17 Mathematik studieren kann/will/soll. Er ist gleichzeitig in seinem alltäglichen Denken und Handeln eingeschränkt wie ein kleines Kind, hat Zwangsneurosen, kapselt sich ab wie ein Mensch mit Asperger-Syndrom und versucht seine Sicht der Dinge unangetastet zu erhalten. Moni hingegen ist tatsächlich eine irre Nummer, offensichtlich auch sehr selbstbewusst, außer wenn es um ihren Lebensabschnittspartner und ihre Familie geht. Aber das kann man verstehen, wenn man ihn und die anderen kennengelernt hat. Pit ist nun nicht gerade mathematikaffin und auch sonst nicht der Hellste, da kann der Oscar froh sein, wenn er nur an ihm vorbei geht. Wobei aber Justin, der älteste Enkel von Moni, bei Oscar für ihn merkwürdige und unerwartete Gefühle auslöst. Zum mittleren Enkel Quentin entwickelt sich hingegen eine fast brüderliche und enge Beziehung, die wiederum sehr stark auf der mathematischen Ebene wächst.
Ich las gespannt, wie das weiterging mit dem ungleichen Paar, das ja definitiv kein Liebes-Paar ist. Moni (53) könnte auch die Oma von Oscar sein, so behandelt sie ihn dann auch. „Kleiner“! Ob zwischen Oscar und Moni Mutter-(Oma)-Kind-Gefühle entstehen, bleibt ein Geheimnis. Aber ein paar Gefühle hat Oscar schon, am Anfang vor allem aber Angst. Ein Betreuer- und Beschützersyndrom entwickeln beide, das ist schon recht witzig.
Im Mittelteil überkam mich von Zeit zu Zeit trotz der flotten, mit Ironie und Witz gespickten Geschichte echte Langeweile, die mathematiktheoretischen Ausführungen (inklusive der nie gehörten Fachbegriffe) und auch die Beschreibung mancher Familiensituationen, in die Oscar bei Moni hineingerät, sind etwas breit ausgewalzt. Oscars Mutter bekommt auch eine Nebenrolle, aber irgendwie erscheinen mir die Eltern etwas steril in der ansonsten lebhaften Romanszenerie. Da hatte die Geschichte, oder auch die Autorin, aus meiner Sicht einen Durchhänger.
Im letzten Drittel macht sie das dann mehr als wett, hier hatte ich endlich nicht mehr das Gefühl, als Oma in einem Jugendroman gestrandet zu sein. Die Mathematik und das Studium spielten zwar immer noch eine Rolle, aber die Psychologie gewinnt die Oberhand.
Der unseren Helden Oscar begleitende Mister Brown ist eine wunderbar real-unreale Persönlichkeit, die Oscar nicht nur bei der Mathematik, sondern auch beim Denken hilft. Fast wie die gute Fee im Märchen.
Alina Bronsky nutzt in ihrem Buch das eigentlich für Sachbücher prädestinierte Fußnotenschreiben. Man sollte sie nie unbeachtet überlesen, man würde einiges an Unterhaltung einbüßen.
Warum das Buch den Titel Pi mal Daumen trägt, erfährt man natürlich auch ganz konkret. Aber der Titel ist sicher viel mehr auch eine Metapher für Monis Art, sich der Mathematik zu nähern und gibt einen Vorgeschmack auf ein zumindest für mich einfach unvorstellbares Mathematikstudium.
Mein Lieblingszitate: „Wir studieren keine Gnade, sondern Mathematik.“ und „Menschen, die gerade ernsthaft über Mathematik nachdachten, sollten weder Auto fahren noch mit scharfen Gegenständen hantieren.“
Fazit: Das Buch liest sich locker und leicht, man denkt sich seinen Teil und schmunzelt als Leser. Ich habe meine Mathematikaversion erfolgreich bekämpft und dieses Buch gut unterhalten bis zum Ende gelesen. Da kann ich es auch guten Gewissens weiterempfehlen.
Gerne 4 Sterne

PimalDaumen

NetGalleyDE

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Veröffentlicht am 13.08.2024

Und es geht weiter, weiter, weiter …

Die Welt zwischen den Nachrichten
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Das Rezensieren dieses Buches, das das Genre Roman hat, aber sich nicht wie ein Roman flüssig und schon gar nicht leicht gelesen. Zu Beginn war ich unsicher, ober ich überhaupt weiterlesen möchte, aber ...

Das Rezensieren dieses Buches, das das Genre Roman hat, aber sich nicht wie ein Roman flüssig und schon gar nicht leicht gelesen. Zu Beginn war ich unsicher, ober ich überhaupt weiterlesen möchte, aber Seite um Seite habe ich mich „dem Mittelpunkt der Erde“ genähert und es war tatsächlich spannend, Judith Kuckarts 12. Roman bis zur letzten Seite zu folgen. Dort findet sich dieses Gedicht „Telegramm – Nicht wichtig / ist / was man aus uns gemacht hat / wichtig ist / was wir aus dem machen / was man / aus uns gemacht hat. *“
Ich habe selbst im letzten Jahr versucht, für meine Tochter einige Erinnerungen aufzuschreiben, die einzelnen Kapitel nannte ich „Gedankensplitter“. Nun begegne ich einem Roman, der aus solchen Erinnerungen an Kindheit, Jugend, Liebe und anderes besteht, aus vielen Gedankensplittern eben. Das hat mich beim Lesen mehr und mehr fasziniert, obwohl der Beginn des Romans schon sehr holperig und sprunghaft erschien. Ja, man muss sich darauf einlassen, dass hier Gedanken, Träume, echte Erinnerungen und fliegende Ideen ineinandergreifen. Ich kenne den Begriff autofiktional, vielleicht trifft er ja zu. Beim Lesen jedenfalls hatte ich das Gefühl, in einen wolkigen Himmel zu schauen und je länger ich schaute und las, um so mehr erschienen Gesichter, Umrisse von Gebäuden, Tiere und Stadtsilhouetten vor meinem geistigen Auge.
Judith Kuckart ist fünf Jahre jünger als ich, aber wir gehören beide dieser ominösen sogenannten Babyboomergeneration an, habe Ähnliches und doch ganz Verschiedenes erlebt. Sie vor der Mauer im Ruhrgebiet, ich in Ostberlin. Oder war sie hinter der Mauer und ich davor? Eine Frage der Perspektive. Sie sagt Grenzübergang Moritzplatz, ich sage Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße. Ich kannte bis heute Judith Kuckarts Namen nicht, Tanz ist nicht unbedingt in meinem Fokus (gewesen) und ihre Romane sind leider alle ungelesen an mir vorbeigezogen. Umso froher bin ich, Judith Kuckart jetzt kennengelernt zu haben. In einer Zeit gesellschaftlicher Umbrüche, wie sie in der Bundesrepublik auch nur selten so sichtbar waren, stellt sie sich der Frage nach dem Woher und Wohin. Und sie beschreibt auf sehr eigene Art den Weg dazwischen. Vom Kind, vom Mädchen zur Frau, immer mit eigenem Kopf und eigenen Gedanken. Nur so konnte sie etwas werden, was sich von anderen abhebt und beachtet wird.
Der bruchstückhafte Erzählstil wird unterbrochen von den zwölf „Kantinen“-Kapiteln. Und mit diesen Kapiteln kommen die Begegnungen mit Eva K., geheimnisvoll, verwirrend, anziehend, ermunternd, wie auch immer, Eva K. bleibt beinahe bis zum Schluss. Mir hat diese Art, den (Lebens)-Kreis zu schließen dann doch sehr gefallen. Auch die anderen Protagonisten sind liebevoll und zugewandt beschrieben, selbst Methusalem, den älteren und jahrelangen Lebensgefährten kann ich mir hundertprozentig vorstellen. Einfach berührend, wie Judith Kuckart auf ihre Freunde, Bekannten und Zeitgenossen blickt. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es sehr schwer ist, über die eigenen Eltern oder Verwandten zu schreiben, das ist immer auch eine Gratwanderung. Der Autorin gelingt auch das gut, es gibt eben einfach nicht immer nur eitel Sonnenschein in den Erinnerungen an ein ganzes Leben.
Eingestreut in die Texte sind Fotos, bei manchen erschließt sich der Sinn, manche hätten vielleicht einen kleinen Bildtext benötig.
Das Cover kenne ich nur durch das E-Book, wie es gedruckt wirkt, weiß ich nicht, es ist nicht ganz mein Geschmack, aber der Buchtitel ließ mich bei der Ankündigung aufhorchen. Jeder kann da seine Empfindungen hineininterpretieren. Irgendwann ist die Mauer weg und es zieht um alle Ecken in Berlin, dazwischen eben das Leben, der aufgewirbelte Staub und die Liebe und der Tod.
Ich hoffe, Judith Kuckart, braucht noch keine Stützstrümpfe, und wenn, bringt sie das hoffentlich nicht um. Aber was ich mir wünsche, ist, dass sie niemals wieder eine Lehrerin verbessert und meint, es heiße nicht Lehrerzimmer, sondern LehrerInnenzimmer. Oder sollte das ein Witz sein? Da kann ich leider nicht drüber lachen. Auch Studierende und Tanzende muss ich nicht unbedingt haben, wenn es sich um schlichte Studenten oder Tänzer handelt.
Trotz Kritiken: Gern empfehle ich das Buch, es könnte aber sein, dass manche Leser es wieder weglegen, weil sie mit dieser Zeit zwischen Ost und West und den zwölf Kantinen nichts anfangen können. Bei mir hat das Buch jedenfalls viele Erinnerungen getriggert, Dinge, an die ich schon Jahre nicht mehr gedacht habe.
Gute vier Sterne

dumontbuchverlag

NetGalleyDE

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Veröffentlicht am 21.07.2024

Voller Liebe und Mut

Der Blick einer Frau
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Ich lese gern Romane, die sich auf historische Personen und Ereignisse beziehen. Hier geht es um das (Kriegs-)Fotografenpaar Gerda Taro und Robert Capa und vorrangig um deren Engagement im Spanischen Bürgerkrieg. ...

Ich lese gern Romane, die sich auf historische Personen und Ereignisse beziehen. Hier geht es um das (Kriegs-)Fotografenpaar Gerda Taro und Robert Capa und vorrangig um deren Engagement im Spanischen Bürgerkrieg. Meine Kenntnisse über diesen Krieg sind nicht besonders ausgeprägt, aber doch so gefestigt, dass ich auch über die Rolle der beiden Fotografen bereits seit Jahren viel erfahren, besonders gelesen habe. Schon 1994 veröffentlichte Irme Schaber, die auch im Nachwort erwähnt wird, die erste große Biografie über Gerda Taro, 2013 erschien eine Neuauflage, die den Fund, der hier im Roman eine Hauptrolle spielenden 800 Taro-Fotos beinhaltete. Jetzt, 2024, erscheint von Schaber bei Hentrich & Hentrich „Freiheit im Fokus“ über die beiden Fotografen in Leipzig. Das ist eine interessante Parallele, denn Gerda Taro floh 1933 aus Leipzig vor den Nazis nach Paris. Es gibt unzählige Zeitschriftenbeiträge, Fotobücher, es gab berühmte Ausstellungen, besonders die in New York. Taro und Capa waren und bleiben ikonische Figuren der Fotografiegeschichte. Taro und Capa waren mir also keine Unbekannten. Belletristische Werke über beide sind aber eher selten. Hier füllt nun Caroline Bernard eine Lücke. Diese Autorin hat sich auch bisher sehr der weiblichen Seite der Geschichte zugewendet, seien es die Malerin Frida Kahlo, die Schriftstellerin Simone de Beauvoir, oder zuletzt auch die Fluchthelferin Lisa Fittko in „Die Wagemutige“. Immer stellt sie die feministische und zugleich aktive und mutige Seite der Frauen in den Mittelpunkt ihrer Romane.
Dieses Buch und das Buch über Lisa Fittko heben sich übrigens durch ein eher realistisches Fotocover von den anderen Romanen der Autorin ab. Bei so romantisierten Covern, wie sie für die Reihe Mutige Frauen zwischen Kunst und Liebe verwendet wurden, hätte ich wahrscheinlich gar nicht zugegriffen.
Bernard fixiert ihre Romane – wie hier über Gerda Taro – sehr auf das ganz Private, Persönliche und Intime ihrer Protagonistinnen. Damit erreicht sie wahrscheinlich auch ein Publikum, das ansonsten Biografien aus dem Sachbuchgenre nicht so sehr mag. Bernard identifiziert sich total mit ihrer Heldin, steht auf ihrer Seite und verteidigt sie gegen Kritik (auch im übertragenen Sinne). Wer sich mehr für die rein biografischen, knallharten, belegten Fakten interessiert, wird aber auch hier im Buch recht gut versorgt, auch wenn die Geschichte teilweise zur Liebesromanze oder -tragödie tendiert. Insbesondere auch die historischen Informationen zum Spanischen Bürgerkrieg sind aufschlussreich, bleiben aber natürlich begrenzt.
Der Roman umfasst die Jahre 1931 bis 1937, 1933 wird Gerta Pohorylle von der Gestapo in Leipzig in Schutzhaft genommen und entkommt nach der Entlassung über die Grenze nach Frankreich, sucht wie die meisten jüdischen und nichtjüdischen Flüchtlinge in Paris nach einer neuen Bleibe. Die Situation der Flüchtlinge beschreibt die Autorin sehr lebensecht und es hinterlässt bei mir einen bitteren Nachgeschmack, wie herabwürdigend die Situation für Menschen wie Gerta war. Aber sie gibt nicht auf und beißt sich jeden Tag aufs Neue durch. Das Geschick, noch aus weniger als nichts etwas zu machen, durchzieht das ganze Buch. Als sie Endre Friedmann, auch Flüchtling, auch jüdisch, kennenlernt, da entbrennt eine große Liebe, deren Feuer bis zur letzten Seite des Romans nicht enden wird. Beide ändern ihre Vornamen gleich nach der Ankunft, weil die Namen in Frankreich so ungewöhnlich klingen, sie sind zusammen: Gerda und André. Gerda wird bei André das Fotografieren lernen, und sie wird ihn später beinahe in den Schatten stellen.
Der zweite Handlungsstrang ist eine fiktive Erzählung über eine mexikanische Fotografin, die ihren Lebensunterhalt u. a. mit dem Entrümpeln von Wohnungen bestreitet. Als sie auf einen Koffer mit Hunderten Fotos stößt, ist ihr Spürsinn gefragt und sie begibt sich auf einen Weg, der die Wahrheit über die Fotos, aber auch über die ihrer Mutter und Familie preisgeben wird.
Der Schreibstil ist manchmal etwas langatmig, sich wiederholende Sequenzen von Gedanken, die Gerda durch den Kopf gehen, und auch die Geschichte der Mexikanerin Christina wirken ein wenig gewollt. Die Charaktere werden aber recht anschaulich beschrieben, auch die Nebendarsteller sind interessant gestaltet, sei es Willy Brandt oder Hemingway, spanische Kraftfahrer oder französische Kinder, alle werden gekonnt skizziert.
Gerda Taro wird als die „Erfinderin“ von Robert Capa gerühmt, zuerst aber wählt sie ihren eigenen Künstlernamen „Taro“, dann fällt ihr spontan der „Robert Capa“ ein, dem sie auch gleich noch eine neue Biografie verpasst. Dass sich André bisweilen beschwert, dass sie Robert lieber mag als ihn, kann nicht verwundern, denn mit dem neuen Namen gibt sie ihm auch einen anderen äußeren Anstrich, vom Landstreicher zum Gentleman. André, der ein paar Jahre jünger ist als Gerda, ist aus meiner Sicht zu Recht etwas ungehalten über die Veränderung seines Selbst. Auch wenn sie ihm geschäftlich sehr guttut.
Ich will nicht zu viel vom Inhalt preisgeben, die Fakten kann jeder bei Wikipedia etc. im Internet googeln, wie die Autorin die Geschehnisse und insbesondere die Erlebnisse im Spanischen Bürgerkrieg beschreibt, das geht aber mehr unter die Haut, als es die puren Fakten tun. Dass die Erlebnisse, die Gerda als Kriegsfotografin hat, schrecklich und ernüchternd sind, ist wohl jedem klar. Dass eine Frau sich dem freiwillig und mit Enthusiasmus und Todesmut aussetzt, das ist für uns Heutige schwer nachzuvollziehen.
Empfehlenswert ist das Nachwort, dass einige Unklarheiten beseitigt.
Dieser Roman über Gerda Taro hat es mir sehr angetan, auch wenn der Feminismus manchmal etwas dick aufgetragen wird. Ich gebe gern vier Sterne und eine Leseempfehlung.

DerBlickeinerFrau

NetGalleyDE

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