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Veröffentlicht am 05.07.2023

Ein phantastischer Führer in die Vergangenheit

Lost & Dark Places Sachsen
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Lost Places sind nicht nur ein Magnet für Abenteurer und „Grufties“, auch Wanderer, Urlauber, Ahnenforscher oder Geschichtsliebhaber machen sich heutzutage auf den Weg zu dunklen Gefilden. Cornelia Lohs ...

Lost Places sind nicht nur ein Magnet für Abenteurer und „Grufties“, auch Wanderer, Urlauber, Ahnenforscher oder Geschichtsliebhaber machen sich heutzutage auf den Weg zu dunklen Gefilden. Cornelia Lohs legt mit ihrem Buch über 33 vergessene, verlassene und unheimliche Orte einen kleinen Wegweiser für Sachsen vor, der es in sich hat. Die Autorin kann nicht nur fantastisch fotografieren, sie hat auch – es muss schon eine Weile gedauert haben, die Menge an Material zusammenzutragen und zu einem Buch zu verdichten – zu jedem der verwunschenen Orte die Geschichte beschrieben sowie sich dem heutigen Zustand gewidmet. Ihre Informationen gehen von der Anschrift bis zu GPS-Koordinaten und soweit möglich, Öffnungszeiten oder Zutrittsmöglichkeiten. Einfach bewundernswert, diese Arbeit, die Liebe und die Akribie, die sie in jeden einzelnen Beitrag gesteckt hat.
Abgerundet wird alles mit einer Übersichtskarte innen auf der 2. Umschlagseite/Klappe, auf der man die Objekte der Begierde per Kapitelnummer sofort findet. Wer also irgendwo in Sachsen unterwegs ist, sollte dieses Buch im Gepäck haben und schauen, ob er einen der beschriebenen Orte findet. Sehr schade, ich war bereits zwei Mal in den letzten Jahren in Görlitz, aber nichts von den sechs Lost Places habe ich bei meinen Stippvisiten gesehen. Nach Görlitz muss ich also noch einmal mit diesem Buch reisen.
Für mich der überraschendste Fund in diesem Buch war die Beschreibung des Alten Israelitischen Friedhofs in Leipzig. Einige meiner Verwandten wurden wahrscheinlich dort Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts beerdigt. Für mich war völlig neu, dass dieser Friedhof noch so existiert.
Die typografische Gestaltung hat der BRUCKMANN Verlag in offenbar bewährte und goldene Hände gelegt, auch Lektorat, Korrektor etc. arbeiteten auf höchstem Niveau. Mich freut so etwas ganz besonders, ich komme aus der Buchbranche.
Auf der 3. Umschlagseite bzw. der Umschlagklappe hat der Verlag eine ansehnliche Anzahl Lost & Dark Places-Bücher vorgestellt, ich werde mir als nächstes das Ruhrgebiet vornehmen, Geburtsort meines Vaters.
Ich empfehle dieses Buch sehr, es bietet mehr als nur Lost Places, es bietet Einblicke in eine vergangene Welt und lässt mit Fantasie vielleicht etwas Neues entstehen. Danke, liebe Cornelia Lohs. Fünf Sterne plus!

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Veröffentlicht am 27.02.2023

Abschied vom Münsterlandkrimi?

Schattenbruch
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Nachdem ich anfangs dachte, es wäre ganz gut, dass die Serie endet, bin ich mir nun nicht mehr so sicher. Schattenbruch hat es im Gegensatz zum letzten Teil, Finsterbusch, doch geschafft, mich bis zum ...

Nachdem ich anfangs dachte, es wäre ganz gut, dass die Serie endet, bin ich mir nun nicht mehr so sicher. Schattenbruch hat es im Gegensatz zum letzten Teil, Finsterbusch, doch geschafft, mich bis zum Schluss bestens zu unterhalten.

Die Protagonisten kennt man ja nun gut genug, denkt man, aber es tun sich auch in diesem Buch Abgründe auf, die man anfangs nicht vermutet. Ob es der pensionierte Tenbrink ist oder Isa, die echt was drauf hat in diesem verzwickten Fall, man kann sich das „Krimipersonal“ gut vorstellen. Was mich beim Lesen etwas stört, ist aber die ständige Wiederholung bestimmter Charaktereigenschaften, was beim ersten und zweiten Erwähnen noch lustig rüberkommt, wird ab dem dritten Mal lästig. Die nörgelnde Ella sei nur als Beispiel genannt.
Wie sich der Fall entwickelt und wie er aufgeklärt wird, das schreibe ich hier natürlich nicht, es ist jedenfalls nicht langweilig.

Tom Finnek hat eine lockere Art, seine Geschichte zu entwickeln, der regionale Bezug zum Münsterland ist da, aber wird weder übertrieben noch in den Vordergrund gestellt. Die Ermittler, allen voran der arg gebeutelte Maik Bertram, bewegen sich des Öfteren auf dünnem Eis, wenn man das so nennen darf. Ob es bei der Kripo tatsächlich zugeht, wie beschrieben, weiß ich nicht, ein bisschen lockerer als im echten Leben nehmen es die Leute im Münsterlandkrimi auf jeden Fall. Gewürzt wird das Ganze dann noch mit Außenstehenden, die auch nicht ganz koscher sind. Da zwinkert uns der Schalk des Autors immer mal zu.

Ich kann das Buch allen Krimifans empfehlen, denke aber, es ist ratsam die anderen Teile zu kennen, um mit vorangegangenen Ereignissen, insbesondere den Erlebnissen von Maik Bertram, klarzukommen.

Fürs Lektorat:
Einige Fehler haben sich eingeschlichen, da das epub keine echten Seitenzahlen anzeigt, hier nur einige Wörter, die korrigiert werden müssen: Gegen muss Gegend heißen; er schreitete gibt es nicht, nur er schritt; Dränage ist immer noch Drainage; der Satz „Diesmal trug er keinen bunten Kaftan, sondern ein seidig glänzender, schwarzer Dress, der an fernöstliche Kampfanzüge erinnerte.“ muss heißen „ Diesmal trug er keinen bunten Kaftan, sondern einen seidig glänzenden, schwarzen Dress, der an fernöstliche Kampfanzüge erinnerte.“; einen SchuPo gibt es nicht, nur einen Schupo; und man bringt jemanden hinter Gitter, nicht hinter Ginter.
Diese Anmerkungen erscheinen in meiner öffentlichen Rezension aber nicht, hier sollen sie nur helfen, die Fehler zu beseitigen. Ich erhebe aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit!




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Veröffentlicht am 01.08.2022

Zutiefst berührendes Schicksal einer ukrainischen Familie

Denk ich an Kiew
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Der deutsche Titel erinnerte mich beim ersten Hinschauen an Heinrich Heine, Denk ich an Deutschland in der Nacht…, ich las den Klappentext und wusste, dieses Buch muss ich lesen. Ich habe es nicht bereut, ...

Der deutsche Titel erinnerte mich beim ersten Hinschauen an Heinrich Heine, Denk ich an Deutschland in der Nacht…, ich las den Klappentext und wusste, dieses Buch muss ich lesen. Ich habe es nicht bereut, aber es hat mich tief betroffen gemacht.
Die amerikanische Originalausgabe hat den Titel The Memory Keeper of Kyiv, der Roman bewahrt tatsächlich die Erinnerung an die schändliche russische Aushungerungspolitik von Anfang der 1930er Jahre. Vor den Augen des Lesers entsteht eine für menschliche Dimensionen eigentlich nicht vorstellbare, katastrophale Situation. Stalin beschließt die Vernichtung des ukrainischen Volkes auf die perfideste Weise, der Holodomor wird in der Ukraine als Genozid betrachtet. Wer dieses Buch gelesen hat, wird eher verstehen, warum noch heute, 90 Jahre nach dieser menschengemachten Hungersnot und den Millionen Toten abgrundtiefer Hass zwischen Ukrainern und Russen besteht. Wer dieses Buch gelesen hat, weiß dann auch, dass der Ausspruch „Die Zeit heilt alle Wunden“ nur eine leere Phrase ist.
Der Roman beginnt 2004, wir lernen Cassie kennen, eine junge Frau am seelischen Abgrund, die versucht, sich und ihr Töchterchen Birdie über die Runden zu bringen. Ein Jahr zuvor verlor Cassie ihren Ehemann und Birdie den Vater durch einen Autounfall. Birdie überlebt nur knapp, spricht seitdem kein einziges Wort. Cassie ist nicht in der Lage, zu arbeiten, sie ist Journalistin und findet keinen Zugang mehr zum Schreiben. In diese Situation platzt ihre Mutter mit der Nachricht, dass die Oma, genannt Bobby, Hilfe braucht. Cassie und Birdie ziehen also kurzerhand zur Großmutter. Für Cassie beginnt eine neue Zeitrechnung. Es wird noch eine Weile dauern, bis sie sich öffnet, sie lernt den Feuerwehrmann Nick kennen, es beginnt eine Freundschaft, die sich auf sehr subtile Weise entwickelt. Beide haben etwas gemeinsam: ihre Vorfahren kamen aus der Ukraine nach Amerika. Nick jedoch ist derjenige, der die Sprache spricht und auch über die Vergangenheit und die Geschichte der Ukraine einiges weiß. Cassie hat zwar ab und an versucht, der Großmutter einige Erinnerungen zu entlocken, aber diese verschloss sich wie eine Auster.
Nun ist die Großmutter nicht nur alt, sie ist auch krank, es macht sich eine Art Verwirrtheit und beginnender Demenz bemerkbar. Cassie findet merkwürdige Zettel, entdeckt ein Tagebuch, alles Ukrainisch, und sie entdeckt Lebensmittel an den merkwürdigsten Stellen. Nick hilft ihr, zuerst die Zettel und später die Tagebuchaufzeichnungen zu entschlüsseln. Es wird langsam deutlich, was die Großmutter – als Katja – in ihrer Jugend erleiden musste.
Die zweite Ebene des Romans geht zurück in die Ukraine der frühen 1930er Jahre. Der Leser lernt ein fröhliche, funktionierende Bauernfamilie kennen: Katja, ihre Eltern, ihre Schwester Alina, die Nachbarn und deren Söhne Pawlo und Kolja. Die Schwestern werden die beiden Brüder heiraten, aber das Leben steht schon unter einem schlechten Stern. Stalin hat seine „Aktivisten“ in die Ukraine geschickt, um insbesondere Getreide zu requirieren, er will eine Kollektivierung durchsetzen, die auf Widerstand stößt. Aber Widerstand erweist sich als tödlich, viele Menschen werden deportiert, die verbleibenden Bauern müssen für die Kolchosen schuften und erhalten von Monat zu Monat weniger zu essen. Sie werden einfach ausgehungert. Das von Cassie und Nick entzifferte Tagebuch bringt diese Perfidie zu Tage. Cassie ist kaum in der Lage, diese Enthüllungen zu ertragen. Hinzu kommt ihre selbstauferlegte Schuld ihrem verstorbenen Ehemann gegenüber, sie wagt nicht, sich neu zu verlieben und einem neuen Leben zu öffnen. Es ist ein schwieriger Prozess, den sie durchläuft, Nick versucht ihr diesen Weg zu erleichtern, aber er braucht viel Geduld. Fast nebenbei gelingt es ihm, Birdie zum Sprechen zu bringen. Die Kleine blüht auf in seiner Gegenwart, aber sie entwickelt auch zur Uroma Bobby ein liebevolles Verhältnis.
Der Roman wechselt von Kapitel zu Kapitel Ort und Zeit, in jedes Kapitel findet man sofort hinein, die Autorin bringt den Leser dazu, mitzudenken, mitzufiebern, mitzuleiden. Je mehr Katja erleiden muss, umso schwerer fiel mir das Lesen, die schrecklichen Schilderungen der Hungersnot und ihre Auswirkungen auf jeden Menschen sind schwer zu ertragen. Die Verluste, die Katja erträgt und die trotz allem nicht aufgibt, mit der selbst auferlegten Pflicht, Halya, die Tochter ihrer ermordeten Schwester, zu retten, durchzieht das Buch.
Das Buch hat einen klaren, gut lesbaren Stil, aus meiner Sicht eine sehr gute adäquate Übersetzung. Ich habe das Buch auch in der Originalausgabe, der Stil, das Gefühl und die immer spürbare Trauer sind wunderbar wiedergegeben im Deutschen. Die beiden Übersetzer Dietmar Schmidt und Rainer Schumacher haben einen tollen Job gemacht.
Über die vielen geschilderten Ereignisse und den Fortgang der Geschichte muss sich jeder Leser selbst ein Bild machen, für mich waren die letzten Seiten sehr emotional, das möchte ich niemandem vorher erzählen.
Ich würde mir wünschen, dass dieses Buch auch als Warnung gelesen wird, welche Grausamkeiten in der Ukraine durch den russischen Krieg heute verübt werden oder noch geplant sind. Wer dieses Buch gelesen und verstanden hat, kann die Parallelen deutlich sehen: die Ukraine soll wieder unterworfen werden.
Ein wichtiges Buch zur richtigen Zeit! Danke an Erin Litteken.

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Veröffentlicht am 01.08.2022

Sag mir, wo die Spiegel sind, wo sind sie geblieben?

Die Kommissarin und die blutigen Spiegel
4

Die Krimireihe war mir bisher nicht bekannt, so dass ich Antje Servatius, ihr Team und auch die Tochter Kira nicht kannte. Aus meiner Sicht wäre das Lesen des ersten Bandes vielleicht hilfreich gewesen, ...

Die Krimireihe war mir bisher nicht bekannt, so dass ich Antje Servatius, ihr Team und auch die Tochter Kira nicht kannte. Aus meiner Sicht wäre das Lesen des ersten Bandes vielleicht hilfreich gewesen, um sich in die Figuren hineinversetzen bzw. sie wiedererkennen zu können. So rätselt man am Anfang doch ein bisschen viel herum. Die Tochter Kira leidet an Zerebralparese, war das Leben für sie beschwerlich macht und die Mutter Antje doch sehr fordert. Dass es da einen Vater Kirill gibt, der sich mit der Situation nicht anfreunden konnte und sang- und klanglos verschwand, wird im Laufe der Geschichte klar. Er taucht dann unvermittelt auf und nimmt Kontakt zu Kira auf, was die Beziehung zwischen Mutter und 14jähriger Tochter belastet. Das alles liest man zwischen den brutalen Mordschilderungen und den Ermittlungsbemühungen der Kriminalisten. Es geschehen in kurzem zeitlichen Abstand nämlich zwei Morde unterschiedlichster Art. Eine Frau wird regelrecht „geschlachtet“, bei einer zweiten wird zuerst Suizid vermutet, aber auch sie fiel einem einfallsreichen Mörder zum Opfer. Es gibt ausreichend Verdächtige und die Ermittlungen treffen auf ähnliche Verbrechen in der Vergangenheit. Copy kill? Warum? Da die recht spannenden Ermittlungen durch die privaten Probleme von Antje Servatius immer wieder in den Hintergrund rücken, fand ich den Fortgang ab und an etwas schleppend und langatmig. Diese Art, Persönliches der Ermittler in den Vordergrund zu stellen, kenne ich zu Genüge von skandinavischen Krimis. Das kann man gut finden, muss man aber nicht. Hier in diesem Buch hat es mich jedenfalls beim „Ermitteln“ etwas gestört.
Die Story bekommt ein ordentliches Finale mit jeder Menge Schockmomente. Der Mörder war zwar nicht der Gärtner, aber einer der am Anfang verdächtigten Männer war es auch nicht.
Mit dem Titel des Buches konnte ich nicht viel anfangen, vielleicht habe ich den entscheidenden Hinweis auf die blutigen Spiegel auch einfach überlesen.
Für Krimifans ein gut lesbares Buch, ein angenehmer, nicht abgehobener Stil. Sehr unterschiedliche Charaktere in Form von Ermittlern und Verdächtigen werden dem Leser präsentiert, die Geschichte bleibt bis zum Schluss recht spannend, die brutale Phantasie ist schon ziemlich heftig. Das Finale tröstet über ein paar langweilige Passagen gut hinweg.

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Veröffentlicht am 03.07.2022

Ein wunderbarer Liebes- und Gesellschaftsroman

Was ich nie gesagt habe
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Vor gut einem Jahr habe ich "Stay away from Gretchen" als Hörbuch gehört und war total begeistert von der frischen Art, wie Susanne Abel schicksalhafte Ereignisse zu einem tollen Roman verflocht. Seitdem ...

Vor gut einem Jahr habe ich "Stay away from Gretchen" als Hörbuch gehört und war total begeistert von der frischen Art, wie Susanne Abel schicksalhafte Ereignisse zu einem tollen Roman verflocht. Seitdem wartete ich sehnsüchtig auf den zweiten Teil der Geschichte. Gretchen, in den Kriegswirren aus Ostpreußen geflohen und im unzerstörten Heidelberg gelandet, lernte den schwarzen Besatzungssoldaten Bob Cooper kennen und lieben, aus dieser Liebe ging Marie hervor. Aber die Zeiten nach dem Krieg waren noch nicht so weit gediehen, als dass eine solche Liebe Bestand haben konnte. Marie kommt in ein Kinderheim, wird nach Amerika zwangsadoptiert und Bob verschwindet von der Bildfläche. Zurück bleibt Gretchen, die psychisch krank wird, aber durch das Kennenlernen von Konrad vor dem Schlimmsten bewahrt. Am Ende des ersten Teils ist es Gretchens Sohn Tom, der der unterdessen dementen Mutter Marie "wiedergibt". Tom ist Fernsehmann, bekannt wie ein bunter Hund, aber irgendwann am Ende seiner Kräfte. Im vorliegenden zweiten Band lernen wir die Familie von Konrad kennen, erfahren viel über Konrads Kindheit und Jugend, seine Kriegserlebnisse und über seine Gefangenschaft. Konrad hat im Krieg die gesamte Familie verloren, einschließlich seiner Schwester Lizzy, die der Euthanasie zum Opfer fiel. Konrad ist sehr hellhörig bei allem, was er erfährt. Einzig sein Onkel Drickes (Heinrich Pütz) lebt noch. Mit Hilfe dieses Onkels, der in russischer Gefangenschaft ist, landet er in Heidelberg, macht ein Medizinstudium und wird Arzt. Hier kreuzen sich die Wege von Konrad und Gretchen. Sie heiraten, beide gehen nach Köln, dort ist unterdessen der Onkel mit Adenauers Hilfe 1956 endlich aus der Gefangenschaft zurück und richtet eine Frauenarztpraxis ein. Konrad wird Teilhaber. Onkel Drickes beschäftigt sich intensiv und gewinnbringend mit der künstlichen Befruchtung gut betuchter Patienten.
Das Buch wird über verschiedene Zeiträume und Handlungsebenen geführt, Konrad und Gretchen haben endlich einen Sohn bekommen und Thomas, auch Tömmes und später Tom genannt, agiert in der Jetztzeit und wird auf verschiedenste Weise mit der Vergangenheit seiner Eltern und seines Onkels konfrontiert. Toms Leben, seine Entwicklung wird dabei in der Rückblende erzählt. Im Jetzt hat er sich in Jenny, eine Kollegin verliebt, die gerade ein Baby bekommen hat. Tom hat das erste Mal im Leben das Gefühl, an der richtigen Stelle angekommen zu sein. Er will mit Jenny leben, fürs kleine Carlchen da sein, sich nach seinem Zusammenbruch wieder an die Arbeit machen und eine wöchentliche Talkshow soll sein Comeback fördern. Bald zieht er mit Jenny ins Haus seiner Mutter, deren Freundin kümmert sich um die demente Mutter nun ebenso wie um den kleinen Carl. Fast perfekt das Ganze. Dass das Leben nie so geradlinig verläuft, weiß man aus Erfahrung, und so kommt es zu vielen Verwicklungen und Missverständnissen, die ich hier natürlich nicht offenbare. Zukünftige Leser sollen gespannt bleiben, was in Toms Leben noch alles geschieht.
Sehr anrührend wird Gretchens Leben als demente Mutter beschrieben, wer in seiner Familie ähnliche Fälle kennt, wird hier auf sanfte Weise "geschult", denn im Alltag eines Demenzkranken gibt es unzählige Momente, in denen Erinnern, Erkennen und Wissen durchschimmern. Das hat mir gut gefallen.
Ich habe auch dieses Buch sehr gern gelesen, aber die überzeugende Wirkung des ersten Bandes hat es bei mir nicht erreicht. Der Stil war teilweise etwas stakkatoartig, viele, oft zu viele Details sollen den Leser erreichen und berühren. Ich habe viele Kenntnisse über den 2. Weltkrieg, Euthanasie, Holocaust, Vertriebene, Gefangenschaft usw., da kam mir der Buchtext manchmal wie eine verstärkende Wiederholung im Geschichtsunterricht vor. Einerseits sind viele geschichtliche Details nur angerissen, andererseits springt die Autorin in den Abläufen oft hin und her. Manchmal wäre mir ein ruhiger Erzählfluss lieber gewesen, als dieses nervöse Gedankenkarussell. Im Laufe der Geschichte gibt es dann auch immer wieder Rückblicke auf den ersten Band. Eigentlich wäre es wohl besser, jeder der dieses Buch lesen möchte, liest zuerst "Stay away from Gretchen", das Wissen um die Hintergründe erleichtert einem das Verständnis für die Geschehnisse im zweiten Teil sehr.
Das Nachwort habe ich dann mit Interesse gelesen, hier werden die Quellen und Inspirationen beschrieben, die für die Autorin wichtig und ermutigend waren. Ich empfehle das Buch gern allen, die sich für deutsche Geschichte und den Umgang damit interessieren. Sie bekommen einen wunderbaren Liebes- und Gesellschaftsroman.
Und sogar mit Lesebändchen!

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