Profilbild von Kapitel94

Kapitel94

Lesejury Profi
offline

Kapitel94 ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Kapitel94 über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 19.08.2018

Wo ist Margo?

Margos Spuren
0

Margo wäre wohl eines der Mädchen gewesen, das ich zum einen verehrt, zum anderen aber auch ziemlich verabscheut hätte. Sie ist eine der coolen; sie ist genauso wie ich schon immer sein wollte: hübsch, ...

Margo wäre wohl eines der Mädchen gewesen, das ich zum einen verehrt, zum anderen aber auch ziemlich verabscheut hätte. Sie ist eine der coolen; sie ist genauso wie ich schon immer sein wollte: hübsch, beliebt und geheimnisvoll. Deswegen würde ich sie anhimmeln – ich will genauso gut aussehen, genauso viele Freunde haben – aber ich wüsste auch, dass ich niemals so sein könnte wie sie, denn Margo ist eben Margo. Und das würde ziemlich an mir nagen.

Quentin ist ihr allerdings sofort verfallen. Schon seit die beiden Kinder waren, ist er unsterblich in Margo verliebt. Doch als sie einen Toten ganz in der Nähe ihrer Häuser finden, zeigen sich ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten – Margo ist von dem Mann, der sich das Leben genommen hat, fasziniert; Quentin will so schnell wie möglich zu seinen Eltern (in Sicherheit) und die Polizei rufen – und noch am selben Abend trennen sich die Wege der beiden. Jahrelang sind sie nichts mehr als Nachbarn. Q bewundert Margo in der Schule von weitem; sprechen tun sie nie ein Wort miteinander. Bis Margo eines Nachts vor seinem Fenster auftaucht und ihn auf ein Abenteuer mitnimmt.
Margos Freund hat sie mit ihrer besten Freundin betrogen und niemand hat ihr etwas davon erzählt. Also hat sie sich einen Racheplan überlegt: Sie will allen „Beteiligten“ einen Denkzettel verpassen, sich von schlechten Beziehungen lösen und lange Freundschaften beenden. Quentin spielt dabei ihren Komplizen und die beiden harmonieren so gut miteinander, dass man beinahe vergisst, wie viel Zeit ihnen doch eigentlich verloren gegangen ist.

Nach dieser Nacht schwebt Q im siebten Himmel. Endlich hat er sich seiner großen Liebe wieder angenähert und es scheint, als hätten die beiden eine Zukunft. Doch Margo taucht am nächsten Tag nicht in der Schule auf und auch eine Woche später bleibt sie verschwunden. Quentin ist davon überzeugt, dass ihr nichts schlimmes zugestoßen ist; sie hatte einfach nur keine Lust mehr auf ihr langweiliges Leben und hat sich deswegen ein neues gesucht. Doch wo ist Margo? Nun, das wird Q bald herausfinden, denn sie hat ihm Rätsel hinterlassen, die nicht so leicht zu knacken sind. Und ehe er sich versieht, befindet sich Quentin auf einer Reise durch halb Amerika – doch folgt er der richtigen Spur?

Von John Green kannte ich bisher nur Das Schicksal ist ein mieser Verräter und ich war begeistert, als ich einen weiteren Roman von ihm in meinen Händen hielt. Ich persönlich bin der Meinung, dass Margos Spuren nicht an die Geschichte von Hazel und Gus herankommt, aber vielleicht muss sie das auch gar nicht. Margo und Quentin sind ganz anders und trotzdem ähneln sie den Hauptcharakteren aus Das Schicksal ist ein mieser Verräter: sie sind Freunde, entfernte Liebhaber und können doch nicht ewig zusammen bleiben. Sich mit Q auf ein Abenteuer einzulassen, hat mir unglaublich viel Spaß bereitet und das Buch ließ sich sehr schnell lesen. Quentin stellte einen wahnsinnig guten Geschichtenerzähler dar; selbst seinen wirren Gedanken konnte ich noch mit Freude und Spannung folgen. Jedem, der auf ein bisschen Spannung, Liebe, Abenteuer und Rätsel steht, kann ich dieses Buch wärmstens empfehlen. John Green hat mit Quentin einen tollpatischigen, humorvollen und sehr liebenswürdigen Charakter geschaffen, dem man schon zu Beginn der Geschichte verfallen wird.

Veröffentlicht am 19.08.2018

Abenteuer, Fantasy und Humor

Tintenwelt 1. Tintenherz
0

Es gibt Momente, in denen ich mir wünsche, meine Buchhelden näher kennenlernen zu können. Während man den Roman in der Hand hält und Seite um Seite mit den Charakteren lacht und weint, baut man ein so ...

Es gibt Momente, in denen ich mir wünsche, meine Buchhelden näher kennenlernen zu können. Während man den Roman in der Hand hält und Seite um Seite mit den Charakteren lacht und weint, baut man ein so inniges Verhältnis zu ihnen auf, dass der Abschied im letzten Kapitel oft schwer fällt. Doch wie wäre es, wenn deine Lieblingsgeschichte niemals enden würde? Wenn das Abenteuer direkt vor deinen Augen eine Wendung nimmt und du plötzlich im Mittelpunkt stehst? Genau so erging es Meggie.

Die Zwölfjährige lebt mit ihrem Vater Mo allein und teilt sich mit ihm die Liebe zum geschriebenen Wort. Beide sind ganz gewöhnliche Menschen, die ein ganz gewöhnliches Leben führen – zumindest hatte Meggie das gedacht, bis eines Nachts ein Fremder vor ihrem Haus auftaucht. Er entpuppt sich als ein alter Bekannter ihres Vaters, nennt sich Staubfinger und ihm brennt nur ein Wunsch auf der Seele: er braucht ein Buch. Ein Buch, das nur Mo besitzt und noch viel schrecklichere Menschen in ihrem Besitz wissen möchten. Menschen, die über Leichen gehen, um das zu bekommen, was sie wollen und ihr Anführer heißt Capricorn. Als Mo diese Gefahr erkennt, reist er mit seiner Tochter überstürzt zu ihrer Großtante Elinor.

Das Böse lässt allerdings nicht lang auf sich warten, denn Staubfinger hat Capricorn verraten, wo sich Mo und mit ihm das geheimnisvolle Buch Tintenherz verstecken. Capricorns Männer entführen den Buchbinder, seine Tochter und ihre Großtante und sperren sie in einem weit abgelegenen Dorf in einen Stall. Nach und nach kommen immer mehr Geheimnisse ans Licht und Meggie kann kaum glauben, was sie erfährt: vor etwa neun Jahren las ihr Vater aus Tintenherz vor, als plötzlich drei Charaktere aus dem Buch in ihrem Wohnzimmer standen. Drei Menschen sind in ihre Welt gekommen, drei Lebewesen mussten dafür gehen. Seit neun Jahren versuchen diese Charaktere, den geheimnisvollen Roman, welcher nur in begrenzter Auflage erschien, zu finden und ihn für ihre eigenen Zwecke zu verwenden: Staubfinger sehnt sich nach seiner Heimat und sucht nach einem Weg, um wieder in die Welt von Tintenherz einzutauchen. Capricorn möchte mithilfe des Buches die ihm fremde Welt besitzen, doch Mo kann trotz der Drohungen keinem von ihnen helfen. Er braucht Tintenherz mehr als alles andere, denn in jener Nacht vor neun Jahren, wurde seine Frau, Meggies Mutter, in das Buch gesogen, als Ersatz für einen der Charaktere, die herausgelesen wurden…

Bevor ich mit der Tintenwelt-Reihe begann, habe ich den Film zum ersten Band gesehen und war begeistert. Schnell war danach für mich klar, dass ich die Bücher lesen muss, denn ich wollte unbedingt wissen, wie es mit Meggie, Mo und Staubfinger weiter geht.
Da ich zuerst nur den Film kannte, überforderten mich anfangs einige Stellen im Buch, denn die Handlung dehnte sich hier natürlich aus und es kam die ein oder andere Nebenhandlung hinzu, die es im Film nicht gab. Es ist kurzzeitig vorgekommen, dass ich mit der Geschwindigkeit, in der eine Szene auf die nächste folgt, nicht ganz mithalten konnte und ich noch einmal genau überlegen musste, wer denn gerade vor wem davonläuft und wieso. Dies ist allerdings Kritik auf hohem Niveau. Insgesamt hat mir das Buch ausgesprochen gut gefallen. Der Leser lernt eine unglaublich große Bandbreite an Charakteren kennen, was dazu führt, dass der Spannungsbogen nicht abfällt. In Tintenherz trifft man auf Abenteuer, Humor und Fantasy und ich war erstaunt wie flüssig diese Elemente ineinander übergehen. Cornelia Funke hat mit dieser Geschichte ein interessantes und aufregendes Jugendbuch geschaffen, an das ich mich noch lange zurückerinnern werde.

Veröffentlicht am 08.07.2018

Tom Hanks' Liebeserklärung an die Schreibmaschine

Schräge Typen
0

Schräge Typen ist eine Hommage an Jim Lovell und seine Raumfahrt-Kollegen, an den Soldaten James Ryan und in einigen Passagen auch an Forrest Gump. In den siebzehn Kurzgeschichten erweckt Tom Hanks seine ...

Schräge Typen ist eine Hommage an Jim Lovell und seine Raumfahrt-Kollegen, an den Soldaten James Ryan und in einigen Passagen auch an Forrest Gump. In den siebzehn Kurzgeschichten erweckt Tom Hanks seine beliebtesten Filmrollen noch einmal zum Leben und lässt seine eigenen Ideen und Leidenschaften in die Texte einfließen. Als Leser hält man somit ein fiktionales Werk in den Händen, hat aber auch gleichzeitig das Gefühl, dem berühmten Schauspieler auf persönlicher Ebenen näherzukommen.

In den verschiedenen Kurzgeschichten geht es um vor allem eins: Schreibmaschinen. Tom Hanks selbst ist ein leidenschaftlicher Sammler und lässt das ein oder andere Gerät geschickt in seine Texte einfließen. Schon auf der ersten Seite ist eine Schreibmaschine zu sehen und auch zwischen den Geschichten tauchen immer wieder Bilder auf. Doch wirklich faszinierend fand ich die Tatsache, dass in jedem Kapitel ein anderes Modell vorgestellt wird und der Schauspieler so die Möglichkeit bekommt, zu zeigen, wie vertraut er mit seinem Fachgebiet ist.

Über den Inhalt der Geschichten möchte ich nicht zu viel verraten, doch wie ich es oben schon angedeutet habe: Tom Hanks lässt in Schräge Typen seine Filmrollen noch einmal in neuem Glanz erscheinen. Egal ob es um Apollo-Astronauten oder pensionierte Army-Veteranen geht, der Oscar-Preisträger lässt seine Karriere immer ein bisschen durchschimmern. In seinen, wie ich sie gern nenne, „bodenständigen“ Kurzgeschichten geht es um Liebe, Neuanfänge und Träume, doch obwohl sie reine Fiktion sind, erzählt sie Tom Hanks unglaublich realistisch: nicht immer gibt es ein Happy End, manchmal wird aus einem Hobby kein Traumberuf – doch das ist okay. Das wahre Leben verläuft leider nicht immer so glamourös wie in Hollywood und genau darum geht es auch in Schräge Typen. Tom Hanks entwickelte Charaktere, die in seinen Geschichten mehrmals vorkommen; er baut eine Vertrautheit zwischen dem Leser und seinen fiktionalen Figuren auf und schafft es somit, dass man sich mit seinen Texten sehr gut identifizieren kann.

Die Übersetzung von Werner Löcher-Lawrence hat mir unglaublich gut gefallen. Im Internet stolpert man oft über die Behauptung, dass Tom Hanks‘ Stimme in seine Texte einfließt, dass wenn man seine Geschichten liest auch gleichzeitig hören kann, wie er sie einem vorliest und ich finde, es ist dem Übersetzer gelungen, dies auch ins Deutsche zu übertragen. Da ich viele Interviews mit dem Schauspieler gesehen habe, bin ich mit seiner Erzählweise recht vertraut und war erstaunt wie oft der Klang seiner Stimme in meinem Kopf nachhallte. Vor allem seinen Sinn für Humor hat er in Schräge Typen beibehalten.

Hier und da gab es Kleinigkeiten, die ich persönlich bei der Übersetzung anders gemacht hätte: Anstatt das deutsche „Oh ja“ zu verwenden, ließ Werner Löcher-Lawrence das englische „Oh yeah“ stehen, was meiner Meinung nach nicht wirklich zu unserem Ausdruck passt. Auf der anderen Seite verwendet es Tom Hanks sehr oft im Mündlichen und man könnte daher argumentieren, dass der Übersetzer es bewusst hat stehen lassen: um Tom Hanks‘ Persönlichkeit zu erhalten.

Alles in allem lässt sich Schräge Typen unglaublich gut lesen und die Seiten fliegen nur so dahin. Man stolpert nicht über verschachtelte Satzkonstruktionen und der ein oder andere eingeschobene Witz lässt das Buch lebhaft erscheinen. Einmal mit dem Lesen angefangen, konnte ich es nur schwer aus der Hand legen.

Veröffentlicht am 08.06.2018

Das Buch der kniffligen Zusammenhänge

Der Gott der kleinen Dinge
0

Der Gott der kleinen Dinge war für mich keine einfache Lektüre. Das Buch spielt auf zwei Zeitebenen und oft war am Anfang eines Kapitels nicht klar, in welcher ich mich befinde. Die Geschichte an sich ...

Der Gott der kleinen Dinge war für mich keine einfache Lektüre. Das Buch spielt auf zwei Zeitebenen und oft war am Anfang eines Kapitels nicht klar, in welcher ich mich befinde. Die Geschichte an sich war spannend, doch hat sie erst recht spät angefangen einen Sinn zu ergeben. Außerdem gibt es sehr viele handelnde Personen und Zwischenereignisse, die für den Leser verwirrend sein können.

Die Geschichte der zweieiigen Zwillinge Rahel und Estha spielt in Ayemenem, Indien im Jahr 1969, als die Geschwister sieben Jahre alt waren und 1993, dem Jahr, in dem sie mit 31 Jahren wieder zueinander finden. Ihre Mutter Ammu wuchs in gewalttätigen Verhältnissen auf. Ihr Vater, Pappachi, war bekannt dafür, dass er seine Frau und teilweise auch Tochter regelmäßig schlug. Als Ammu einen Sommer bei ihrer Tante in Calcutta verbringt, lernt sie einen Mann kennen, den sie kurz darauf heiratet, um zu verhindern, dass sie zu ihren Eltern zurück nach Ayemenem muss. Sie wird schwanger, findet heraus, dass ihr Ehemann Alkoholiker ist und sie für Sex an seinen Boss verkaufen wollte, reicht die Scheidung ein und kehrt mit zwei Babys und einem gebrochenem Herzen zu Pappachi und Mammachi zurück.

Wichtig für die Geschichte sind außerdem Ammus Bruder Chacko und ihre Tante Baby Kochamma. Chacko studierte in England, lernte dort seine zukünftige Frau Margaret kennen, die ihn aber wenig später für einen anderen Mann verließ. Die beiden haben eine Tochter, Sophie. Baby Kochamma ist, was das Thema Liebe angeht, ebenfalls sehr verbittert, denn als junges Mädchen verliebte sie sich in einen irischen Priester. Um ihm näher zu sein, konvertierte sie zur römisch-katholischen Kirche und trat einem Kloster bei, doch ihre Taten waren vergebens. Der Mann, den sie liebte, würdigte sie keines Blickes und sie blieb für den Rest ihres Lebens unverheiratet.

Als Margarets zweiter Ehemann bei einem Autounfall ums Leben kommt, lädt Chacko sie und ihre gemeinsame Tochter Sophie ein, Weihnachten bei ihm in Ayemenem zu verbringen. Eines Tages ist die ganze Familie unterwegs ins Theater, als kommunistische Demonstranten das Auto umzingeln und Baby Kochamma auffordern, eine rote Flagge zu schwenken und einen kommunistischen Slogan zu singen. Als kurz darauf Sophie bei einem targischen Unfall ums Leben kommt, wird Baby Kochamma klar, dass der Demonstrant, der sie in aller Öffentlichkeit gedemütigt hat, dafür verantwortlich sein muss. Somit geht sie zur Polizei und wirft einem unschuldigen Mann die wohl grausamsten Taten vor.

Wenn man sich die Geschichte einmal von Anfang bis Ende zusammen bastelt, klingt sie wahnsinnig spannend, doch der Handlungsstrang war für mich nur schwer zu erkennen. Vielleicht lag das aber auch daran, dass ich die englische Version gelesen habe – der Übersetzer hat es für die deutsche Fassung möglicherweise etwas leichter formuliert, damit auch alles ersichtlich ist. Oft habe ich die Zeitsprünge verpasst und dann mitten im Kapitel erst verstanden, dass ich mich im Jahr 1993 und nicht 1969 befinde.
Die letzten einhundert Seiten haben mir dann aber doch noch gut gefallen, da sich die Autorin hier nur auf die Haupthandlung konzentriert hat und diverse Nebenhandlungen außen vor ließ. Das Ende des Buches hat mich dann regelrecht schockiert und war auch nicht vorherzusehen. Wer also etwas Zeit hat, sich durch die einzelnen Kapitel zu kämpfen, dem kann ich Der Gott der kleinen Dinge empfehlen. Es ist kein Roman für zwischendurch, die Geschichte wird einem dafür aber länger in Erinnerung bleiben.

Veröffentlicht am 24.05.2018

Ein lehrreicher Spaziergang durch New York

Open City
0

Open City ist der erste Roman, bei dem es mir schwer fällt, eine Rezension zu schreiben. In einem Uni-Seminar über Weltliteratur war Teju Coles Buch Teil einer Diskussion, aber ich denke nicht, dass ich ...

Open City ist der erste Roman, bei dem es mir schwer fällt, eine Rezension zu schreiben. In einem Uni-Seminar über Weltliteratur war Teju Coles Buch Teil einer Diskussion, aber ich denke nicht, dass ich es auch aus persönlichem Interesse gelesen hätte. Open City hat mich überrascht, zum Nachdenken gebracht und meine Offenheit gegenüber anderen literarischen Werken erweitert.

Als Psychiater muss man sich oft die verrücktesten Geschichten anhören. Man muss sich in Geduld üben, Menschen Rat geben und vor allem dürfen ihre Erlebnisse einen nie nach Hause begleiten. Um einen Ausgleich zu seiner Arbeit zu schaffen, geht Julius spazieren. Während er durch die Straßen New Yorks zieht, befreit er seinen Kopf von lästigen Gedanken und findet Zeit zum Durchatmen. Als Julius aber eines Abends seinem Nachbar begegnet und vom Tod dessen Frau vor mehreren Monaten erfährt, ist er schockiert, denn ihm wird bewusst, wie ignorant Menschen heutzutage leben: Weder die Abwesenheit seiner Nachbarin noch die Stimmungsveränderung ihres Mannes hat der junge Psychiater mitbekommen. Somit durchstreift er die Straßen nicht mehr nur, um seelischen Ballast abzuwerfen, Julius beginnt außerdem, ein offenes Ohr für seine Mitmenschen zu haben.

Teju Cole schrieb den Roman aus der Ich-Perspektive und lässt Elemente des inneren Monologs in seine Erzählweise einfließen. Daher stolpert man oft über abrupte Gedankensprünge des Protagonisten und auch einen roten Faden erkennt man nur schwierig: Das Buch zeichnet sich nicht durch eine zusammenhängende Handlung aus, sondern ist eher eine Sammlung von Julius‘ Erfahrungen. Auf seinen Reisen, die ihn von New York bis nach Brüssel bringen, begegnet er Rassismus, er denkt über eine verlorene Liebe nach, schließt neue Freundschaften und hinterfragt die Herkunft seiner Familie. Der Schreibstil gefiel mir unglaublich gut. Ich bin ein großer Fan von Romanhelden, die ihre Geschichten in der ersten Person erzählen und Teju Cole wählte seine Worte dabei so, dass sich sein Buch unglaublich schnell lesen lässt. Man hält sich nicht lange an ungewöhnlichen Textkonstruktionen auf oder verliert sich in langen, verschachtelten Sätzen. Man kann den Gedanken von Julius so leicht folgen, als erzählte er uns die Geschichte persönlich.

Ich sagte schon am Anfang, dass ich Open City wahrscheinlich nie aus persönlichem Interesse gelesen hätte, aber ich bin froh, dass ich es doch getan habe. Der Roman ist belehrend, aufschlussreich und sehr gut recherchiert. Das Allgemeinwissen des Protagonisten hat mich regelrecht umgehauen und ich denke, jeder sollte sich einmal von Julius‘ Wesen verzaubern lassen.