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Veröffentlicht am 26.04.2018

Der afrikanischen Kultur ganz nah

Alles zerfällt
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Chinua Achebes Alles zerfällt habe ich im Rahmen eines Seminars an der Uni gelesen. Ich bin ohne genaue Vorstellungen an den Roman herangegangen, da ich absolut keine Ahnung hatte, was mich erwarten würde. ...

Chinua Achebes Alles zerfällt habe ich im Rahmen eines Seminars an der Uni gelesen. Ich bin ohne genaue Vorstellungen an den Roman herangegangen, da ich absolut keine Ahnung hatte, was mich erwarten würde. Letztendlich muss ich sagen, dass mich das Buch wirklich überrascht hat. Alles zerfällt gehört zur „Weltliteratur“, denn die Beschreibung des Kolonialismus, der Anpassung, aber auch des Widerstandes bietet vielen Ländern einen literarischen Mehrwert. Dank Chinua Achebes Roman können wirtschaftliche und politische Konflikte in der afrikanischen Kultur literarisch aufgearbeitet und einem breiten Publikum zur Verfügung gestellt werden.

Okonkwos Vater, Unoka, war zu seiner Zeit kein angesehener Mann: als Musiker und hoch verschuldet hatte er die Lacher der Dorfbewohner auf seiner Seite. Da er auch seinem Sohn nichts vererben konnte, wird Okonkwo oft auf das Versagen seines Vaters angesprochen und verspricht sich, niemals so zu werden wie er. Seit seiner Kindheit versucht der Protagonist, Anzeichen von Schwäche zu unterdrücken und arbeitet hart daran, sich den Respekt zu verdienen, den Unoka nie erhalten hat. Okonkwo muss sich sein Leben selbst aufbauen; als junger Mann schuftet er sich fast zu Tode, doch sein Ehrgeiz zahlt sich aus: zu Beginn des Romans ist er ein angesehener Wrestler, Ehemann von drei Frauen und Vater von acht Kindern. Er hat all das erreicht, was sein Vater niemals geschafft hätte, aber sein Erfolg hinterlässt Spuren. Im Dorf ist Okonkwo für seine strenge, aggressive und temperamentvolle Art bekannt. Regelmäßig schlägt er seine Ehegattinnen und Kinder, denn er will zum einen den Respekt seiner Familie gewinnen, zum anderen möchte er, dass vor allem sein ältester Sohn Nwoye nicht so aufwachsen muss wie er.

Als der junge Ikemefuna als Ausgleich für ein Mordopfer nach Umuoafia gelangt, nimmt Okonkwo ihn in seinem Haushalt auf und erfreut sich daran, dass sich der Junge mit seinem Sohn Nwoye anfreundet. Der älteste Sohn des Wrestlers gleicht in seiner Art seinem Großvater, der allen als Versager bekannt ist, doch durch Ikemefuna wird Nwoye selbstbewusster. Schon bald aber droht Okonkwos erfolgreiches Leben zu scheitern, denn das Orakel bestimmt, dass Ikemefuna sterben muss. Obwohl dem Protagonisten geraten wird, sich aus dieser Angelegenheit herauszuhalten, übt er sogar den tödlichen Schlag aus, denn sein Volk sollte niemals annehmen, dass er schwach sei.
Von diesem Zeitpunkt an scheint ein Unheil nach dem nächsten Okonkwos Familie zu überfallen. Bei einer Beerdigung löst sich aus Versehen ein Schuss aus seiner Waffe, der einen Jungen tödlich verletzt. Mit dem Mord an einem Stammesmitglied verstößt er gegen eine der höchsten Regeln seines Klans und wird somit für sieben Jahre aus seiner Heimat verwiesen. Noch dazu dringen nach Okonkwos Abwesenheit weiße Männer in das Land ein, zerstören ganze Dörfer und zwingen den Bewohnern einen fremden Glauben auf …

In seinem Roman Alles zerfällt berichtet Chinua Achebe von einem Leben, das größtenteils von Superstition beherrscht wird. Er erzählt von Macht, Anpassung, Kolonialismus und Gott in seinen unterschiedlichsten Formen. In den ersten Kapiteln hat Okonkwo mich ziemlich eingeschüchtert, aber zugleich war ich auch von seiner Kultur begeistert. Chinua Achebe beschreibt den Lebensstil in einem afrikanischen Dorf des 18. Jahrhunderts unglaublich realistisch und es macht Spaß, mit jeder Seite mehr über die Bewohner und ihren Glauben zu erfahren.
Das Thema der Kolonialisierung ist eigentlich Teil der Haupthandlung, doch entfaltet sich die Story hier erst weit am Schluss. Es war erschreckend zu bemerken, wie verheerend es sein kann, wenn zwei unterschiedliche Kulturen und Religionen aufeinander treffen. Die Anpassung, aber auch der Widerstand der Afrikaner wird fließend in den Verlauf des Romans eingebaut, sodass man ihre Entscheidungen und Verzweiflung über die Veränderungen nachvollziehen kann.

Mit verschiedenen Ereignissen gestaltet Chinua Achebe das Leben des afrikanischen Klans interessant und spannend. Okonkwos Leben, seine Eigenheiten und die Bräuche seines Dorfes sind im 21. Jahrhundert unvorstellbar und ich denke genau deswegen fand ich den Roman so gut – die Kultur sowie die Besetzung und die damit einhergenden wirtschaftlichen Veränderungen eines afrikanischen Stammes von vor dreihundert Jahren kann man noch heute erleben, man muss nur das Buch Alles zerfällt aufschlagen.

Veröffentlicht am 23.04.2018

Liebe, Freundschaft und Zusammenhalt

Now and Forever - Weil ich dich liebe
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Now and Forever – Weil ich dich liebe von Geneva Lee hat mich vom ersten Kapitel an gefesselt. Mit ihrem Roman wirft die Autorin alle typischen Klischees über den Haufen und sorgt somit für eine erfrischende ...

Now and Forever – Weil ich dich liebe von Geneva Lee hat mich vom ersten Kapitel an gefesselt. Mit ihrem Roman wirft die Autorin alle typischen Klischees über den Haufen und sorgt somit für eine erfrischende Liebesgeschichte: Jillian ist selbstbewusst, nicht auf den Mund gefallen, eine mehr oder weniger engagierte Studentin und weiß genau, was sie will – und das ist nicht Liam. Dieser ist allerdings ein wahrer Märchenprinz-Verschnitt. Er ist gutaussehend, clever, romantisch und vielleicht ein bisschen aufdringlich, doch vor allem letzteres ist der Grund, warum ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen konnte.

Mir sind bisher noch nicht viele Protagonistinnen begegnet, die so kompliziert und doch gleichzeitg sympathisch rüberkommen wie Jillian. Wegen einer Erkrankung ist ihre Zukunft genau bestimmt: sie wird nicht mehr lange selbstständig leben können, Tag ein und Tag aus wird sie auf eine andere Person angewiesen sein, und das ist etwas, das Jillian um jeden Preis vermeiden will. Sie hat sich schwer vorgenommen, niemandem jemals diese Last aufzubinden und somit hält sie an ihrem Plan fest: Sie hat ihren Spaß, aber auch nicht mehr. Kerle entfernen sich nach nur ein paar Stunden aus ihrem Sichtfeld und erfahren nichts von ihrem Schicksal. Ein paar Jahre geht alles gut, doch plötzlich wacht Jillian eines Morgens zu dem Geruch von frischgebackenen Waffeln auf.
Als Liam sich nach der gemeinsamen Nacht nicht abschütteln lässt, ist Jillian genervt, denn so gut er auch aussehen mag, in ihr Leben passt er keinesfalls. Doch die engstirnige, distanzierte und sture Unbekannte hat es Liam angetan und somit kämpft er als Gentleman um ihr Herz. Langsam aber sicher kommen sich die beiden näher und es entwickelt sich eine unglaublich tiefe und innige Liebe. Ihre Krankheit behält Jillian allerdings für sich, denn Liam wird so oder so nicht lange Teil ihres Lebens sein können. Und dann kommt doch alles ganz anders …

Mit Now and Forever – Weil ich dich liebe hat die Autorin einen unglaublich spannenden und gefühlvollen Liebesroman geschrieben, den ich innerhalb weniger Tage verschlungen habe. Mit jeder verflogenen Seite hat sich Jillian von Liams Charme einhüllen lassen und auch ich konnte ihm irgendwann nicht mehr widerstehen. An einigen Stellen erinnerte mich das Paar an Ana und Christian, an wiederum anderen glichen sie Bella und Edward und doch sind Jillian und Liam ganz anders. Die beiden Protagonisten streiten und vertragen sich, lieben einander und lernen den Wert des Lebens noch einmal ganz neu kennen.

Geneva Lees Buch spannt den Leser von Beginn an ein. Die vielen und teilweise auch langwierigen Liebesszenen zwischen Liam und Jillian werden durch eine gute Mischung aus Humor und Dramatik wieder wett gemacht. Ich habe an manchen Stellen laut losgelacht, an anderen habe ich mit Jillian gelitten – alles in allem ist es ein für mich rundum gelungener Roman. Es geht um Liebe, Zusammenhalt, Krankheit, aber auch um Erfolg, Freundschaft und die Wichtigkeit von zwischenmenschlicher Kommunikation.

Veröffentlicht am 09.04.2018

Verwirrender Körpertausch

Das Bild der Zeit
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Nach Freaky Friday und anderen diversen Disney-Filmen, in denen Mutter und Tochter oder Freund und Freundin die Körper tauschen und die komplette Handlung eher einer Komödie gleicht, fand ich es sehr spannend, ...

Nach Freaky Friday und anderen diversen Disney-Filmen, in denen Mutter und Tochter oder Freund und Freundin die Körper tauschen und die komplette Handlung eher einer Komödie gleicht, fand ich es sehr spannend, einmal eine ernstere Auffassung dieser Zauberei zu lesen. Das Bild der Zeit beinhaltet zwar nur wenige lustige Szenen, fokussiert dafür aber eher auf die Frage nach Identität (Kann ich trotzdem ich selbst sein, obwohl ich in dem Körper eines anderen stecke?) und wahrer Kunst (kann man den Wind, die Macht, die Zeit malen?).

Es ist das Jahr 2010: Sigi, ein begabter, aber weniger erfolgreicher Maler, und sein Freund Karl-Heinz, ein Antiquitätenhändler, tauschen ihre Körper nachdem sie sich über ihr eigenes Leben beklagt haben: wie viel schöner wäre es doch, wenn sie einmal in die Haut des anderen schlüpfen könnten? Ein Zaubererassistent hört diesen Wunsch und führt sie in einen abgelegenen Keller. Dort ergreift Maria Mulambo, der Geist einer früheren Hexe, Besitz von seinem Körper und tauscht die Seelen der beiden Freunde aus. Eine Woche müssen sie unter der Identität des anderen auskommen, erst dann können sie sich zurückverwandeln.

Am Anfang sind Sigi und Karl-Heinz etwas geschockt und finden sich nur schwer in ihr neues Leben ein, doch je mehr Zeit verstreicht, desto einfacher fällt es ihnen. Nach nur wenigen Tagen gehen sie in ihren neuen Rollen förmlich auf: Karl-Heinz verkauft Sigis Bilder für eine Unmenge an Geld; für die Summe, die die Bilder auch wirklich wert sind, aber die Sigi nie gefordert hat, und sein Freund macht dafür in seinem Antiquitätenladen bessere Geschäfte als Karl-Heinz selbst schaffte. Während Sigi jedoch anfängt seine Frau und sein altes Leben zu vermissen, findet sein Tauschpartner immer mehr Gefallen am Leben des Malers – endlich hat er eine Frau, die ihn scheinbar liebt, an seiner Seite und kann mit den Bildern seines Freundes ein Vermögen machen. Die Woche nähert sich dem Ende, doch nur noch einer möchte in seinen alten Körper zurück. Könnten Sigi und Karl-Heinz auch in ihren neuen Leben glücklich werden?

Zur gleichen Zeit im Jahr 1941 steht Kamila im Mittelpunkt der Geschichte. Sie ist eine Polin, die als Arbeiterin in einer deutschen Fabrik Feldstechergehäuse für die Soldaten anfertigen muss. Zwischenzeitlich muss sie außerdem als Begleitung und vielleicht sogar Inspiration für den anwesenden Doktor dienen, in dem sie ihm, während er seiner Arbeit nachgeht, Gesellschaft leistet.

Die Geschichte, die hinter Das Bild der Zeit steckt, fand ich sehr spannend, doch war es teilweise etwas schwer zu durchschauen, in welchem Verhältnis die Charaktere zueinander stehen. Auch der Spannungsbogen beginnt erst recht spät im Buch, sodass alle offenen Verknüpfungen auf nur ein paar Seiten erklärt werden. Hier habe ich mich dabei ertappt, wie ich die ein oder andere Seite noch einmal lesen musste, um die verschiedenen Beziehungen der Charaktere untereinander auch richtig zu verstehen. Für mich hätte das Buch ruhig noch fünfzig Seiten länger sein können, auf denen der Autor die unterschiedlichen Verbindungen mehr im Detail beschreibt.

Die Darstellung der Charaktere und die der Magie fand ich allerdings sehr gut gelungen. Keine Person im Buch glich einer anderen – jede hatte seine eigenen Wesenszüge und Eigenheiten. Auch wie der Autor das Thema Zauberei im Buch eingebunden hat, fand ich gelungen. Hier und da habe ich beim Lesen überlegt, ob es diesen geheimnisvollen Keller wirklich gibt oder ob nicht doch irgendwo auf der Welt eine Person lebt, die solch einen Zauber vollführen könnte. Das Bild der Zeit ist ein Drama, aber auch Fantasy-Roman, der seine Leser fordert und an bestimmten Stellen zum Nachdenken anregt.

Veröffentlicht am 02.04.2018

Mehr Mystery, weniger Liebe

Die Zwillinge von Highgate
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Nach Die Frau des Zeitreisenden bin ich mit großen Erwartungen an dieses Buch herangegangen, doch leider konnte Audrey Niffenegger mit Die Zwillinge von Highgate nicht wirklich bei mir punkten. Angepriesen ...

Nach Die Frau des Zeitreisenden bin ich mit großen Erwartungen an dieses Buch herangegangen, doch leider konnte Audrey Niffenegger mit Die Zwillinge von Highgate nicht wirklich bei mir punkten. Angepriesen wird der Roman als „unheimliche Liebesgeschichte“, doch die Ereignisse sind weder Furcht erregend, noch handelt es sich wirklich um eine Romanze.

Die Haupthandlung dreht sich um zwei Zwillingspaare: Elspeth und Edie sowie Edies Töchter Julia und Valentina. Elspeth und ihre Schwester sind schon seit mehreren Jahrzehnten zerstritten und als sie an Leukämie stirbt, erben nur ihre Nichten – Edie geht leer aus. Den 21-jährigen Mädchen wird Elspeths Wohnung mitsamt ihrem Vermögen überschrieben. Im Testament hat sie außerdem ein paar Regeln aufgestellt: Julia und Valentina müssen ein Jahr in ihrem Apartment gewohnt haben, bevor sie es verkaufen dürfen. Und: Edie und ihr Mann Jack haben keinen Zutritt. Obwohl die beiden Spiegelbild-Zwillinge noch nie für einen längeren Zeitraum ihr Zuhause verlassen haben, lassen sie sich auf das Abenteuer ein und fliegen von Chicago nach London – ihrer neuen Heimat.

Julia und Valentina sehen sich zum Verwechseln ähnlich und doch sind sie komlpett verschieden. Während Julia ein normales Mädchen ist, ist bei ihrer Schwester alles spiegelverkehrt – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Alle Organe und Muttermale, sogar der Haarscheitel sind bei Valentina auf der anderen Seite des Körpers angeordnet. Es scheint so, als ergänzten sie sich perfekt: Julia ist selbstbewusst und gibt gern den Ton an, Valentina ist zurückhaltend und folgt meistens nur den Anweisungen ihrer Schwester.
In London leben sich die Zwillinge recht schnell ein. Gemeinsam lernen sie die Stadt kennen und schließen Bekanntschaft mit ihren Nachbarn. Doch schon bald soll sich das harmonische Miteinander der Mädchen ändern, denn was sie nicht wissen, ist, dass ihre Tante Elspeth als Geist anwesend ist, jeden ihrer Schritte beobachtet und schon bald Kontakt zu ihnen aufnehmen wird.

Was mir an Die Zwillinge von Highgate gut gefallen hat, ist, dass sich jeder Charakter, der vorgestellt wird, mit einem Neuanfang beschäftigen muss – egal ob nach dem Tod einer geliebten Person, nach einer Trennung oder nach einem Umzug, jeder von ihnen muss lernen, was es heißt, allein zu sein. Außerdem mochte ich die Art und Weise, wie die Personen miteinander verknüpft wurden, doch nach etwa zwei Dritteln des Buches kippte die Handlung und auch die Beziehungen wurden immer obszöner und unpassender.
Ich finde das Cover ist auch etwas irreführend. Vorgestellt hatte ich mir eine Familiengeschichte oder sogar Romanze, doch ich habe nicht damit gerechnet, dass sich das Buch in eine Geschichte voller Wiederauferstehungen, Seelenraub und undurchschaubaren Verwechslungen verwandelt.

Die Zwillinge von Highgate ist nicht unbedingt ein Buch, dass ich jedem weiterempfehlen würde. Der Einstieg in die Handlung war sehr langwierig. Zwar waren mir die Charaktere alle sympathisch, doch ihre gemeinsamen Geschichten plätscherten nur stockend vor sich hin. Audrey Niffenegger hat ein Händchen für unvorhersehbare Wendungen, doch leider konnten diese ihren Roman nicht spannender gestalten.

Veröffentlicht am 02.04.2018

Große überwältigende Geschichte

Kleine große Schritte
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Nachdem ich ein Seminar über Rassismus in den USA an der Uni belegt habe, konnte ich nicht einfach an diesem Buch vorbeigehen – ich musste es kaufen. Von Jodi Picoult kannte ich bisher nur Beim Leben meiner ...

Nachdem ich ein Seminar über Rassismus in den USA an der Uni belegt habe, konnte ich nicht einfach an diesem Buch vorbeigehen – ich musste es kaufen. Von Jodi Picoult kannte ich bisher nur Beim Leben meiner Schwester, ein Roman, der mich wegen seiner Realitätsnähe zum Staunen und gleichzeitig Weinen brachte. Kleine große Schritte hat mich ähnlich fasziniert. Rassismus ist nach wie vor ein sehr umstrittenes Thema, welches sich die Autorin in ihrem neuesten Roman mit sehr viel Feingefühl, Recherche und Humor nähert.

Ruth Jefferson ist Hebamme und Säuglingskrankenschwester. Auf ihrer Station im Mercy-West Haven Hospital ist sie die einzige schwarze Angestellte. Sie macht ihre Arbeit gut; seit über zwanzig Jahren ist sie bereits im Dienst, gehört zu den besten ihres Fachs, und doch konnte sie es einem Patientenpaar nicht recht machen. Nachdem der kleine Davis Bauer geboren wurde, ist es Ruths Aufgabe, die Nachuntersuchungen anzustellen. Doch noch bevor sie dies zu Ende bringen kann, wird sie ihrer Aufgabe entledigt – Davis‘ Eltern, Turk und Brit, sind Rechtsextremisten und verbieten jeglichem afroamerikanischen Personal, ihren Sohn anzufassen.

Nachdem Davis beschnitten wurde – was ein Routineeingriff bei Babys darstellt – ist Ruth die einzige, die ein Auge auf ihn werfen soll. Sie weiß, dass ihr die Behandlung des Babys untersagt wurde, doch da ihre anderen beiden Kolleginnen zu einem Notkaiserschnitt gerufen werden, bleibt ihr keine andere Wahl. Da auch die Stationsschwester davon ausgeht, dass sie in weniger als zwanzig Minuten zurück sein wird und sich Davis nur von einer Routine-OP erholt, lässt sie Ruth ruhigen Gewissens mit dem Baby allein. Als es dann allerdings zu Atembeschwerden bei dem kleinen Patienten kommt, steht die Protagonistin vor der wahrscheinlich größten moralischen Wahl ihres Lebens: Soll sie die Anweisung ihrer Chefin, die beinhaltete, dass ihr der Kontakt zu Davis untersagt wurde, ignorieren, um ihm das Leben zu retten? Oder sollte sie abwarten, bis ihr jemand anderes zu Hilfe kommt und somit sicherstellen, dass sie ihren Job nicht verliert?
Egal, wie sie sich entschieden hat: Davis Bauer stirbt und Ruth steht wegen Mordes vor Gericht. Gemeinsam mit ihrer Anwältin Kennedy McQuarrie kämpft sie nun um einen Freispruch und vor allem um Gerechtigkeit.

Kleine große Schritte hat mich in vielerlei Hinsicht beeindruckt. Das Buch ist in drei verschiedene Sichtweisen eingeteilt: Ruths, Kennedys und Turks. Ich fand es unglaublich interessant zu lesen, wie Jodi Picoult jedem Charakter seine eigenen Wesenszüge verpasst hat und wie gut es ihr gelungen ist, die unterschiedlichen Ansichten zu präsentieren. Turk unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von Ruth und Kennedy: er ist gewalttätig, schroff und in seiner Ausdrucksform hauptsächlich wütend. Ruth dagegen ist eine liebevolle Mutter, die sich hier und da mal gegen ihren 17-jährigen Sohn durchsetzen muss und Kennedy lockert das Buch durch ihren Optimismus und durch eingeschobene humorvolle Passagen wieder auf. Ich bin fasziniert davon, wie gut es Jodi Picoult gelang, drei so grundverschiedene Charaktere realitätsnah darzustellen.

Des Weiteren bin ich von der Recherche, die die Autorin für dieses Buch begangen hat, wahnsinnig beeindruckt. Nicht nur Ruths Rechtslage hat sie wirklichkeitsgetreu aufs Papier gebracht, auch durch ihre Bezüge zu anderen Gerichtsfällen, wie zum Beispiel dem von James Batson, oder ihr Wissen und die Einbeziehung der MCADD Krankheit machen Kleine große Schritte zu einem wirklichen Meisterwerk. Wie es bereits in der Washington Post stand, bin auch ich der Meinung, dass dieser Roman das wichtigste Buch ist, das Jodi Picoult jemals hätte schreiben können. In erster Linie geht es um Rassismus, aber auch um Vorurteile, Nächstenliebe, Gerechtigkeit und viele weitere soziale Themen, denen in unserer heutigen Gesellschaft mehr Aufmerksamkeit zugeteilt werden sollte. Und genau aus diesem Grund ist es auch ein Buch, das jeder in seinem Bücherregal stehen haben sollte.