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Veröffentlicht am 11.06.2018

Brandbeschleuniger

Kleine Feuer überall
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Leerstellen interessieren die Autorin Celeste Ng in ihrem neuem Werk „Kleine Feuer überall“. Zurückgelassen von Personen, die verschwinden und Lücken hinterlassen, wie in diesem Fall die Außenseiterin ...

Leerstellen interessieren die Autorin Celeste Ng in ihrem neuem Werk „Kleine Feuer überall“. Zurückgelassen von Personen, die verschwinden und Lücken hinterlassen, wie in diesem Fall die Außenseiterin Izzy, die jüngste Tochter und Teil der Vorzeigefamilie Richardson im sauber gefegten Cleveland-Vorort Shaker Heights. Oder auch die Paradiesvögel und Lebenskünstler Pearl und ihre Mutter Mia, die von Mrs Richardson aus Nächstenliebe in deren kleinem Reihenhaus eingemietet wohnen.
Der Entwurf eines Familienpsychogrammes mit tiefem Blick hinter die Kulissen der blankgeputzten und auf den ersten Blick beneidenswerten und perfekten Vorort-Familie Richardson mit auf den zweiten Blick gar nicht so glatten und glücklichen Figuren besticht durch großes Einfühlungsvermögen und zeigt zerrissene Seelen, die nach Heilung suchen.
Es ist ein ausgesprochenes Vergnügen, sich von Celeste Ng vom Weg abbringen zu lassen und ihr ins Dickicht zu folgen, wobei man das Gefühl hat, als Leser selbst nur ganz knapp dem Abgrund entkommen zu sein.

Die Geschichte beginnt mit dem Ende, nämlich dem brennenden Haus der Familie Richardson, mit einer fassungslosen Mrs Richardson auf dem Rasen, die gemeinsam mit ihrer ältesten Tochter und ihrem Sohn dem Untergang ihres glanzvollen Heimes zusehen. An alle Regeln des wohlhabenden Shaker Heights hat sich Mrs Richardson ihr Leben lang gehalten, ob das Verstecken der Mülltonnen hinter dem Gebäude, den farblich passenden Anstrich des Hauses oder das Alltagsleben der Bewohner betreffend, weshalb sie und ihr Ehemann auch so gut in diese perfekte und exklusive Umgebung passen. Und dann legt ausgerechnet ihre jüngste missratene Tochter Isabel ihren schönen Lebensplan in Schutt und Asche, indem sie das Elternhaus anzündet und verschwindet - gleich zwei Lücken hinterlassend.
Der Stein kam ins Rollen mit dem Einzug der mittellosen Künstlerin Mia Warren und ihrer Tochter Pearl, an der Mrs Richardson als großmütige Vermieterin ihre Sozialkompetenz unter Beweis stellen will. Beim aufeinander Zubewegen werden die Gegensätze zwischen den beiden Familien immer deutlicher, und zum Entsetzen von Mrs Richardson, die über alles Kontrolle ausüben muss, fühlen sich ihre drei perfekten und verwöhnten Kinder zur geheimnisvollen Mia und ihrer Tochter mit ihrer unkomplizierten Lebenseinstellung hingezogen. Mrs Richardson gräbt und stößt auf Mias gut gehütetes Geheimnis und die Situation eskaliert.

Äußerst geschickt gelingt es der Autorin, die Gefühle ihrer Figuren zu transportieren, die zunächst unter einer Milchglasschicht schlummernd mit großer Kraft zutage treten. Die perfekte Familie Richardson zerbröselt unter ihren fähigen Blicken und verliert ihren arrangierten Zauberglanz, wird menschlich und wenig später abgründig. Und Mia zieht nach der Aufdeckung ihres Geheimnisses wieder als Vagabund mit ihrer Tochter weiter, wie schon so oft, mit nichts als einen mit ihren Habseligkeiten vollgestopftem Golf. Flucht wo Bleiben versprochen war.
Als Leser geht man fassungslos den Weg der Demontage beider Familien mit, hilflos und ohne Häme zeigt Celeste Ng den Abgrund schon mehrfach aus der Ferne, bevor sie ihre Charaktere allesamt hineinstürzen lässt. Bravo dafür!

In meinen Augen völlig zu recht wurde auch dieser zweite Roman der Autorin nach ihrem glanzvollen und preisgekrönten Debüt beim Erscheinen in den USA gefeiert, denn ihre Art, den Leser höchst gekonnt und wie eine Zauberin nahe an ihre Figuren heranzuführen ist außergewöhnlich fesselnd, spannend und zugleich von großer Sorgfalt und Vorsicht und Empathie für alle ihre Charaktere geprägt.

Veröffentlicht am 11.06.2018

Geschichtsdrama mit Ökothrill

Das Eis
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Ein großartiges Setting und ein wirklich interessanter Plot versprechen neben der Spannung ein Buch, das in Manier der Autorin ungewöhnlich und bohrend aktuelle Fragen auf literarisch-anspruchsvolle Art ...

Ein großartiges Setting und ein wirklich interessanter Plot versprechen neben der Spannung ein Buch, das in Manier der Autorin ungewöhnlich und bohrend aktuelle Fragen auf literarisch-anspruchsvolle Art beleuchtet. Es ist ein spannendes Buch, eine Mischung aus Ökothriller und Gerichtsdrama. Allerdings sind für meinen Geschmack die Fäden, die durch Verknüpfung der gut recherchierten Fakten, der spannenden Geschichte und vor allem den Charakteren das Ganze zu einem Roman machen, etwas mürbe und reißen zu schnell.

Abschmelzende Polkappen, Geld-und Machtgier, Waffenhandel, Forschergeist, höchst exklusiver Lebensstil ohne Rücksicht auf Verluste, Manipulation und eine Leiche sind die Zutaten der Geschichte.
Beim Kalben eines Gletschers wird der tote Körper des drei Jahre zuvor im arktischen Eis verschollenen Umweltaktivisten Thomas Harding freigegeben, entdeckt von einem Kreuzfahrtschiff auf der Suche nach Eisbären. Hardings Freund und Geschäftspartner Sean Cawson war mit ihm auf der Expedition unterwegs und gerät unter Verdacht. In einer gerichtlichen Anhörung, die die Rahmenhandlung des Buches in der Erzählgegenwart bildet, sollen die damaligen Ereignisse rekonstruiert werden und Klärung darüber erfolgen, ob Sean am Tod seines Partners Tom, mit dem er eine exklusive arktische Lounge eröffnet hatte und damit gleichzeitig die Arktis schützen wollte, Schuld trägt oder nicht.
Die Geschichte kreist um die Ereignisse in der Vergangenheit, die zur gemeinsamen Partnerschaft und zum Tod Toms geführt haben und entblößt die volle Bandbreite unternehmerischer Raffgier und Manipulation, die skrupellos profitgierig um die letzten unberührten Orte im arktischen Eis wetteifern, verfilzte und erst nach mehreren Blicken ersichtliche Strukturen zur Finanzierung durch Waffenhandel haben und dabei keinen Gedanken an die Zukunft aller verschwenden. Es ist aber auch eine Geschichte über hohe menschliche Ziele, Abenteuerlust und Freundschaft, die an der Wirklichkeit zerschellt sind. Wie verschieden waren die Vorstellungen der beiden Freunde und Partner bezüglich Umweltschutz und Unternehmertum tatsächlich? Zogen die beiden an einem Strang oder waren sie schon zu Gegenspielern geworden?

Prinzipiell ist die Geschichte thematisch höchst interessant, mit der faszinierenden Arktis als zu schützender Naturraum in einer durchaus vorstellbaren nahen Zukunft, in der preiswerte transkontinentale Handelsrouten über den geschmolzenen Nordpol wichtiger sind als ökologische Aspekte. Laline Paull weiß auch durch ihren schön dreidimensionalen Schreibstil den Leser bei der Stange zu halten. Aber vieles bleibt für mich nicht gut greifbar und ähnelt eher einem platten Bericht als einem guten Roman. Die Charaktere sind mir zu einfach gestrickt, und auch wenn man erst gegen Ende des Buches mit der „Wahrheit“ versorgt wird, folgen die Figuren vorhersehbar und stereotyp, fast klischeehaft ihrem Weg.
Das stört mich übrigens am meisten an dem Buch, dass es einfach zu viele Schubladen gibt, die aufgezogen, eine Person entnommen und ein bisschen laufen gelassen wird, um sie anschließend wieder zuzuschieben, schön getrennt und beschriftet, ohne erkennbare Grauzonen. Ich vermisse die Nähe zu den Figuren, es kommt keinerlei Empathie auf. So bleibt es einfach nur ein Ökothriller mit ungewöhnlichem Setting, zwar spannend aber mehr leider nicht.
Noch dazu erinnert die Thematik zusammen mit dem hochgelobten ersten Buch der Autorin doch sehr an Maja Lunde und ihre Führung durch bedrohte Gebiete. Musste wegen der Veröffentlichung des zweiten Bandes von Lundes Öko-Quadologie „Die Geschichte des Wassers“ dieses Buch auch schnell erscheinen und wirkt deshalb streckenweise seltsam unausgegoren, so als hätte Laline Paull den Rahmen gebaut und dann einfach aufgehört?

Ich muss ehrlich zugeben, dass ich nach den vielen guten Kritiken zu „Die Bienen“ mit einer Erwartungshaltung an das Buch herangegangen bin, die nicht erfüllt wurde. Es ist für mich eine solide 3,5 Sterne Geschichte mit einer großartigen Grundidee, die zwar über weite Strecken recht spannend umgesetzt wurde, aber insgesamt für meinen Geschmack zu leblos zusammengeschrieben ist, mehr eben leider nicht.

Veröffentlicht am 10.06.2018

Zerfall einer Familie

Der rote Swimmingpool
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Mit einem kleinen Paukenschlag beginnt der Debütroman „Der rote Swimmingpool“ von Natalie Buchholz aus dem Hanser-Verlag. Ein bisschen erstaunt und sehr neugierig liest man von der Urteilsbegründung für ...

Mit einem kleinen Paukenschlag beginnt der Debütroman „Der rote Swimmingpool“ von Natalie Buchholz aus dem Hanser-Verlag. Ein bisschen erstaunt und sehr neugierig liest man von der Urteilsbegründung für Adam, den Erzähler des Romanes, und wird damit sehr neugierig auf diese Familiengeschichte aus der Sicht des heranwachsenden Protagonisten.

Eine perfekte und glückliche Familie sind Adam und seine verliebten Eltern, der Junge hat Freunde, die ihn um seine schöne Mutter Eva und den lebenshungrigen und großzügigen Vater beneiden, bis sein Vater Viktor plötzlich verschwindet. Adam versteht nicht, was passiert ist, wird von seiner Mutter und von seinem Vater im Unklaren gelassen und handelt aus Unverständnis und großem Frust über den Verlust seines Glücks und der perfekten Familie heraus unüberlegt und völlig irrational. Als für ihn alles zerbrochen ist und er die Strafe für sein Handeln abarbeiten muss findet Adam ein Mädchen, in das er sich verliebt. Tina hilft Adam, seinen eigenen Weg zum Erwachsensein zu finden und sich sein eigenes Leben trotz des großen Schmerzes zu gestalten.

Warmherzig erzählt, gut und klar strukturiert und kein bisschen langweilig liest sich dieser Roman. Die Autorin schafft es von Anfang an, eine große Nähe zu den Charakteren aufzubauen, auch wenn man erst im Laufe der Geschichte durch Rückblicke in den background der Figuren eingeführt wird. Am Anfang bekommt man nur ein paar wesentliche Informationen mit auf den Weg - fast hinterher gerufen - bevor man eine Figur erstmals ein Stück im Buch begleitet, das gefällt mir sehr.
Die Geschichte lebt von den wenigen überschaubaren Charakteren, die sehr lebensecht und dreidimensional wirken, und von der Neugier des Lesers, die ständig geschickt geschürt wird. Nicht chronologisch erzählt, und sehr gut erfassbar und nachvollziehbar gliedert sich das Geschehen in einen Erzählstrang in der Gegenwart nach Adams Tat und in einen Strang in der Vergangenheit, in dem der Zerfall der Familie und Adams einsamer Weg danach beschrieben werden. Und in beiden Ebenen steigern sich Spannung und Neugier auch mit zusätzlichen kleinen Seitenblicken enorm, bis zum dramatischen Höhepunkt. Das ist wirklich großartig gemacht, Bravo dafür!

Ich bin sonst kein sehr großer Fan von Coming-of-age-Romanen, doch dieser hier hat mich überzeugt durch eine glaubhafte Familiengeschichte, großartige Charaktere und einen schnörkellosen Schreibstil, der für mich in seiner Klarheit und Knappheit sehr gut zum Geschehen passt. Die Autorin hat mich von Beginn an sehr an die Geschichte gebunden und ich kann dieses wirklich großartige Buch nur empfehlen.

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  • Geschichte
  • Dramaturgie
Veröffentlicht am 06.04.2018

Amerikanische Männlichkeit

Die Herzen der Männer
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Schwierige Beziehungen zwischen den Generationen prägen den Roman von Nickolas Butler „Die Herzen der Männer“. Im Zentrum steht Nelson, als Kind ein freudloser Außenseiter ohne Selbstbewusstsein und für ...

Schwierige Beziehungen zwischen den Generationen prägen den Roman von Nickolas Butler „Die Herzen der Männer“. Im Zentrum steht Nelson, als Kind ein freudloser Außenseiter ohne Selbstbewusstsein und für seinen Vater eine Enttäuschung. Traurig tröpfelt zu Beginn des Romanes Nelsons Leben aus den Seiten des Buches, die wenigen glückliche Momente seiner Kindheit verdankt er seiner Mutter. Nelson sehnt sich nach Zuwendung durch seinen Vater, doch dieser wendet sich immer mehr von ihm ab.
Vor allem im Sommer-Pfadfindercamp wird für Nelson überdeutlich, dass sein Vater sich einen lauten, unerschrockenen Sohn wünscht, Nelson hingegen hat dort einiges zu erdulden und bleibt trotz oder gerade wegen seines strebsamen Eifers im Erlernen pfadfinderischer Überlebensfähigkeiten allein und wird als Außenseiter gemobbt. Nur der alte Campleiter Wilbur unterstützt ihn und richtet ihn auf. Umso erstaunlicher ist Nelsons Freundschaft mit Jonathan, dem beliebten, unerschrockenen und coolen älteren Jungen, die nach dem Sommercamp für ein ganzes Leben bestehen bleibt.
Jonathans Sohn Trevor verbringt genau wie in der nächsten Generation dessen Sohn Thomas seine Sommer im Pfadfindercamp im rauhen Wisconsin. Verknüpft durch die Lagererfahrungen und das schwierige Verhältnis der Söhne zu ihren Vätern verbinden sich die Männergeschichten und der Kreis schließt sich nicht zuletzt dadurch, dass ihr Verhältnis zu ihren Müttern immer durch große Liebe geprägt ist.

Wann ist ein Mann ein Mann?
Nickolas Butler beleuchtet in seinem Buch die verschiedenen Formen der Männlichkeit. Am Beispiel der zentralen Figur Nelson wird sowohl der Wandel von Männlichkeit im Laufe der Zeit als auch die Erwartung der amerikanischen Gesellschaft an echte Männer besonders deutlich gemacht. Die Geschichte begleitet Nelson vom sensiblen, klugen, ausgegrenzten und geächteten Jungen, als Elitesoldat im Vietnamkrieg bis hin zum unerschrockenen alten Lagerkommandanten des Pfadfindercamps. Er, der als Kind Außenseiter und Streber war, nach Aufmerksamkeit seines Vaters gelechzt hat, stolpert als Held durch den Vietnamkrieg, flüchtet nach seiner Rückkehr vor der mütterlichen Fürsorge und wird schließlich Lagerkommandant und Nachfolger des von ihm als Kind so bewunderten alten Wilson im Pfadfindercamp. Er, der unmännliche kleine Außenseiter begibt sich auf das besonders negative brutal-männliche Kriegsterrain, aus dem er sich allerdings nach traumatischen Kriegserfahrungen wieder zurückzieht, keine militärische Karriere durchläuft, sondern sozusagen „back to the roots“ im Pfadfinderlager versucht, anderen kleinen Jungen der nächsten und übernächsten Generation klare Regeln und Strukturen auf althergebrachte männliche Art zu vermitteln.

Butler zeigt, wie vernarbt äußerlich und innerlich ein Leben mit einer schlechten Vater-Sohn-Beziehung trotz vielen Unbills gelebt werden kann, wie wichtig Beziehungen im Leben eines Kindes und eines Heranwachsenden sind, dass oft nur Schutz und Hilfe im rechten Moment die Rettung bedeuten und dass es durchaus möglich ist, aus beengenden und brutalen Verhältnissen auszubrechen und seinen Weg zu gehen.

Und ja, es ist auch ein Buch über Lagerfeuer-Romantik und einer daraus erwachsenden Männerfreundschaft, die das ganze Leben hält. Und obwohl man die amerikanischen Pfadfinder durchaus als militärisch angehauchte Organisation betrachten kann mit ihren Uniformen, Regeln und den Dingen, die den kleinen Jungen in den Camps beigebracht werden, steht das Pfadfindertum für mich hier nicht ausschließlich und vordergründig als Heldenschmiede für spätere Soldaten, sondern für althergebrachte Werte wie Freundschaft, Treue, Ehrlichkeit und Redlichkeit und Kameradschaft im positiven Sinn.

Doch auch Frauen spielen in diesem so männlichen Kosmos eine Rolle, und nicht nur eine nebensächliche. Auffallend, dass viele Beziehungen der männlichen Figuren zu den Frauen der Geschichte zum einen von großer Zuneigung und inniger Liebe, zum anderen von Untreue geprägt ist. Und ebenso ungewöhnlich, dass eine Frau die Männerdomäne Pfadfinderlager erobern darf, Rachel, die Mutter von Thomas, begleitet ihren Sohn zum Sommercamp, so wie es sonst nur die Väter der Jungen tun.
Spricht das für einen Wandel im Bild der Männlichkeit? Vielleicht, denn der Focus des Autors ist neben der Beziehungen von Vätern/Müttern zu ihren Söhnen auch auf das Bild der Männer in der amerikanischen Gesellschaft und seinen Wandel gerichtet.

Ich habe das Buch sehr gerne gelesen, es kommt ohne großes Pathos und ohne inhaltslose Allgemeinplätze zur Frage nach Männlichkeit aus, ist durch verschiedene Perspektiven und Zeitebenen spannend zu lesen und in meinen Augen sprachlich auf dem Niveau wirkliche anspruchsvoller Literatur. Ich empfehle es ausdrücklich.

Veröffentlicht am 05.04.2018

Familienbande

All die Jahre
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„All die Jahre“ von Courtney J. Sullivan ist eine berührende irische Familiengeschichte mit zwei Schwestern, Nora und Theresa, im Mittelpunkt, die in den 1950er Jahren gemeinsam aus Irland nach Amerika ...

„All die Jahre“ von Courtney J. Sullivan ist eine berührende irische Familiengeschichte mit zwei Schwestern, Nora und Theresa, im Mittelpunkt, die in den 1950er Jahren gemeinsam aus Irland nach Amerika auswandern.
Das Buch beginnt mit dem Tod von Noras ältestem Sohn Patrick und endet mit seinem Begräbnis. Mit vielen Rückblicken und aus den unterschiedlichen Blickpunkten der beiden Schwestern sowie von Noras drei übrigen Kindern erfährt man deren Geschichte.
Nora Flynn ist 21 Jahre alt, als sie mit ihrer jüngeren Schwester das rückständige Irland in Richtung Amerika verlässt, um dort ihren Verlobten zu heiraten. Sie sorgt für Theresa seit die Mutter vor Jahren starb, und versucht ihr auch in der Neuen Welt einen bestmöglichen Start zu ermöglichen. Aber Theresa wird schwanger, Nora trifft folgenschwere Entscheidungen für sie, was die beiden Schwestern entzweit und Theresa ins Kloster treibt. Erst durch Patricks Tod kommen die beiden wieder zusammen und setzen sich mit ihrem Leben auseinander.

Mit unglaublicher Lust am Fabulieren, mäandernd und voller Sinn für gute Familiengeschichten erzählt Sullivan vom für mich unvorstellbar kargen Leben in Irland, von den irisch dominierten Straßenzügen in Großstädten der USA, vom Familienzusammenhalt und Ausbruchsversuchen und von damals herrschenden Konventionen. Für mich erstaunlich authentisch und glaubhaft nachvollziehbar begleite ich die Figuren durch das rückständige Irland mit arrangierten Ehen wegen Landzugewinn, mit aus heutiger deutscher Sicht unglaublicher Normalität und Akzeptanz von Alkoholismus und Bevormundung der Mädchen und Frauen durch die Familienbande.
Ebenso spannend und gespickt mit sehr vielen interessanten Details bewegt man sich durch die Enklaven der irischen Einwanderer in Amerika, die ganze Straßenzüge beherrschen, neu ankommende Familienmitglieder aufnehmen und versorgen und trotz des Willens nach Anpassung in der moderneren großstädtischen Welt an alten irischen Traditionen verbiestert und irischer als die Iren zu Hause festzuhalten.

Es ist einfach eine wunderbare Art des Erzählens, die mich nicht zuletzt wegen der vielen interessanten Charaktere sehr schnell in ihren Bann gezogen hat und völlig gefangen hielt. Vorsichtig und allmählich öffnen sich Nora und Theresa des Leser, halten Überraschungen bereit, die für Spannung sorgen. Nebencharaktere sind nicht nur schmückendes Beiwerk und die verschiedenen Sichtweisen des Buches vermitteln einen nachhaltigen und glaubhaften Eindruck des Lebens der Familie.
Andeutungen und Schweigen, Geheimnisse und Rückzug, kurze Blicke hinter den Vorhang dienen bis zum Schluss der Spannung einer Geschichte, die viele Überraschungen parat hält.
Unlösbare Familienbande und der Versuch des Ausbechens, Bevormundung, Verzeihen und Verlust, Trauer, Glück und fast nicht tragbare Bürde stehen in diesem Buch so eng beieinander, sind so glaubhaft dreidimensional beschrieben, dass es manchmal beim Lesen schmerzt.

Es ist einfach ein wunderbares, für mich rundum gelungenes Buch mit einer interessanten, bedrückenden und zugleich hoffnungsvollen Familiengeschichte, das ich ganz ausdrücklich zum Lesen empfehle.